Quelle: Erstveröffentlichung in: Betreuung von Kleinstkindern. Qualität von Anfang an in Krippe, Kindergarten und Kita. Botzum/Urlen (Hrsg.). Loseblattwerk. 33. Lieferung. Carl Link Verlag
Antje Bostelmann
Während immer noch darüber diskutiert wird, ob und ab wann kleine Kinder mit digitalen Medien in Berührung kommen sollen, ist die Digitalisierung und die damit verbundene stetige Weiterentwicklung von digitalen Technologien längst zum festen Bestandteil unseres Lebensalltags geworden. Im pädagogischen Kontext wird über Laptops und Tablets diskutiert, während künstliche Intelligenz, sprachgesteuerte digitale Assistenten oder sogenannte smarte Technologien sich in unseren Haushalten ausbreiten. Nicht jeder oder jede versteht, was da benutzt wird, kann erklären wie es funktioniert, was dahintersteckt oder welche sekundären Funktionen unentdeckt im Hintergrund ablaufen, um zum Beispiel mit unseren Daten ein zusätzliches Geschäft zu machen.
Wir Pädagogen haben viel zu spät begonnen, uns mit den digitalen Technologien auseinanderzusetzen. Viele Kindergärten verfügen noch nicht einmal über WLAN und vielerorts ist man schon froh darüber, ein Tablet anschaffen zu können. Dass es bei der Forderung nach sinnvollen Bildungsangeboten im digitalen Zeitalter aber gar nicht vorrangig um die Einführung von Tablets in Kindereinrichtungen geht, haben immer noch zu wenige Menschen verstanden.
Kleine Kinder generieren Wissen auf ihre eigene Art
Ganz unabhängig von gesellschaftlichen oder technologischen Entwicklungen beginnt das neugeborene Kind sein Leben mit der Suche nach Ordnung. Die Welt muss einem neugeborenen und damit ganz unerfahrenen Menschenkind sehr chaotisch erscheinen. Dieses Chaos steckt allerdings voller Wiederholungen, zuordenbaren Dingen und „Wenn - dann“-Folgen. Kleine Kinder suchen nach diesen und anderen Ordnungsprinzipien und versuchen, diese durch ständige Wiederholungen zu bestätigen, um daraus Wissen abzuleiten. Wie sehr junge Forscher stellen sie Thesen auf: „Wenn es dunkel wird, gehen wir schlafen“, „wenn ich die Kugel loslasse, fällt sie nach unten“, „wenn ich schreie, kommt meine Mutter“, „wenn ich etwas nicht sehe, kann es trotzdem noch da sein“ und so weiter. Sie prüfen diese Thesen dann immer und immer wieder. Auf diese Weise entwickeln sie ein basales Verständnis der Welt, welches zunächst einmal die physikalischen Eigenschaften der Dinge und das Beziehungsverhalten der eng vertrauten Menschen betrifft. Diese Erkenntnisse geben den Kindern Sicherheit. Wir nennen das Lernverhalten der ganz kleinen Kinder „elementare Spielhandlungen“[1]. Dann kommt die Frage nach dem Sinn: „Was ist das für ein Ding, mit dem meine Mutter die Tür öffnet?“, „Was tauscht sie im Supermarkt gegen Sachen?“ oder „Was ist das für ein Ding, welches meine Mutter immer wieder streichelt und mit dem sie spricht?“. Schlüssel, Geldbörse und Smartphone sind für Kleinkinder faszinierende Gegenstände. Das liegt daran, dass wir Erwachsenen sie so emotionsgeladen verwenden. Ein Kind möchte diese Dinge in die Hand nehmen und sie untersuchen, um zu verstehen, welchen Sinn sie haben.
Im Kindergartenalter wird die Welt zuerst linear verstanden. Die Erfahrungen und das erworbene Wissen der Kleinkindzeit bilden den Boden für komplexere Lernwege und ein abstraktes Verständnis der Welt. Die Entwicklung und das Lernen der kleinen Kinder ändern sich durch die Digitalisierung unseres Alltags nicht, sie werden nur erweitert. Ihre Weltuntersuchungen beziehen sich nun auch auf digitale Funktionen und Gegenstände, die durch die Digitalisierung in unser Leben gekommen sind. Diese werden von den Kindern ganz selbstverständlich in ihr Lernerleben integriert.
Methoden für Pädagogen
Die Lebensrealität der Kinder gehört in den Kindergarten. Dies ist unstrittig – und trotzdem fühlen sich viele pädagogische Fachkräfte und auch Eltern von der zunehmend digital geprägten Lebensrealität überfordert.
Ich war vor einigen Tagen Teil einer Gruppe von pädagogischen Fachkräften und Wissenschaftler*innen, die die Frage diskutiert haben, wie man mit Kindergartenkindern über künstliche Intelligenz sprechen kann. Das war nicht einfach, vor allem auch deshalb nicht, da wir uns eingestehen mussten, dass wir selbst nicht genug darüber Bescheid wissen. Wir Erwachsenen sind gezwungen, die digitale Welt zeitgleich und gemeinsam mit den Kindern zu verstehen. Die digitale Welt zwingt die pädagogischen Fachkräfte dazu, ihre bisherigen Methoden zu überdenken und didaktische Vorgehensweisen zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, sich gemeinsam mit den Kindern in Lernabenteuer zu stürzen. Dies fällt vielen sehr schwer, da der Rückblick auf das eigene Lernen häufig mit unangenehmen Erfahrungen verbunden ist. Die pädagogischen Fachkräfte fürchten die Kontrolle zu verlieren oder sind sich ihrer eigenen didaktischen Kompetenzen nicht sicher. Die Auseinandersetzung mit der Lebensrealität der Kinder von heute braucht „Fehlermutigkeit“[2] und eine Rückbesinnung auf die Lernmethoden der ganz kleinen Kinder, die aus Erfahrungen Thesen bilden und diese überprüfen, um daraus eine (vorläufige) Erkenntnis zu gewinnen.
In der Pädagogik gibt es dafür einige gute Methoden, eine davon möchte ich hier vorstellen:
Inquiry-based learning[3] – auf Fragen basiertes Lernen. Dieses folgt vier Schritten:
- Was wollen wir wissen?
Die Fragestellung genau formulieren, sich in der Gruppe auf eine Formulierung einigen und diese gut sichtbar im Kindergarten an einer Projektwand aushängen.
- Was denken oder wissen wir schon?
Zusammentragen, was alle Beteiligten (Erwachsene, Kinder) schon wissen und dies auf einem großen Plakat dokumentieren.
- Wen können wir fragen?
Gemeinsam überlegen, wo es Wissen zu dem Thema gibt und wo man hingehen kann, um Erfahrungen zu dem Thema zu sammeln. Festlegen, wann wer an welcher Exkursion teilnimmt, wen man wann einlädt oder an welchen Orten in der Welt man Menschen zu dem Thema befragen kann - – also ein Projekt planen.
- Was wissen wir jetzt?
Während des Projektes nach jedem Schritt darüber reflektieren, welchen Wissenszuwachs es inzwischen gibt.
Die Fragen der Kinder
„Sitzen die Kinder nicht eher mit einem Tablet oder Smartphone in der Ecke und spielen darauf herum, sobald sie damit in Berührung kommen, anstatt Fragen zu stellen?“, werden Eltern und Pädagogen fragen. Die Antwort ist einfach:
Sie tun dies nur, wenn wir sie mit den Endgeräten allein lassen. Dann machen Sie sich eigene Vorstellungen von der digitalen Welt, und diese können unreflektiert und unbegleitet von Erwachsenen in die Irre führen, bzw. im jugendlichen Alter in gefährlichen Sackgassen enden..
Zwei Beispiele
Mein vierjähriger Enkel nutzte den Besuch bei mir, um sich einen Wunsch erfüllen zu lassen. Wir saßen also gemeinsam am Laptop, suchten sein lang ersehntes Legopaket im Internet aus und ich klickte auf „kaufen“. Während ich meinen Laptop zusammenpackte, flitzte der Junge zur Tür. Ich war erstaunt und fragte ihn, was er da mache. „Ich warte auf das Internet, das bringt doch gleich mein Lego.“
Mein Enkelkind hatte sich also vorgestellt, dass der Postbote und das Internet identisch seien, da der Postbote die im Internet bestellten Pakete bringt. Er hatte seine bisherigen Erfahrungen auf das Internet übertragen und war zu dieser Schlussfolgerung gekommen.
Meine zehnjährige Enkelin beschwerte sich bei mir, dass ihre Mutter immer wieder ihre TikTok-App löscht. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter glaubt, dass die Filmchen, die sie auf TikTok veröffentlichte, von irgendwelchen bösen Männern angesehen werden. „Aber Oma, ich habe da noch nie einen Mann gesehen“, sagte sie empört.
Auch mit zehn Jahren ist es für Kinder nicht möglich, die digitalen Funktionen, die sie ganz selbstverständlich nutzen, allein zu durchdringen und in ihrer Funktionsweise zu verstehen. Aus beiden Beispielen habe ich gelernt, dass es nicht in erster Linie darum geht, den Kindern etwas zu erklären, sondern mit ihnen über diese Dinge zu sprechen. Sie zu befähigen, die Erfahrungen, die sie im Umgang mit digitalen Geräten oder Funktionen gemacht haben, nicht direkt in die reale Welt zu übertragen, stattdessen diese zu hinterfragen, um sie Stück für Stück zu verstehen.
Diese Aufgabe können pädagogische Fachkräfte gut übernehmen. Dafür müssen Sie sich allerdings von einer „Didaktik des Beibringens“, oft auch Vermittlungsdidaktik genannt, verabschieden und stattdessen eine Lernkultur schaffen, die sich dadurch auszeichnet, dass die Kinder gemeinsam mit anderen Kindern und auch Erwachsenen selbstaktiv lernen, experimentieren und ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Dies gelingt in Projekten, die spielerische Elemente mit denen der Forschung und des Erkenntnisgewinns verbinden. Dabei ist es hilfreich, dass Pädagogen sich in die Perspektive der Kinder hineinversetzen und sich vorstellen, wie die Kinder über digitale Funktionen denken und welche Fragen sich daraus ergeben.
Wir haben dies in der oben genannten Arbeitsgruppe gemacht und zum Thema künstliche Intelligenz und Internet diese möglichen Kinderfragen gesammelt und die dahinter liegende Thematik analysiert. Hier einige Beispiele:
- Haben Roboter Augen, Arme und Beine?
- Haben Roboter Kinder?
- Sind Roboter gut oder böse?
- Weiß der Roboter, was richtiger ist?
- Kann ein Roboter mich beschützen?
- Was essen Roboter?
Hinter diesen Fragen liegt die Vorstellung, dass Roboter verbesserte Menschen sind. Es ist eine Art Superheldenvorstellung, die von den Kindern auf die Maschinen übertragen wird. Die Kinder gehen einem Phänomen auf den Leim, welches Anthropomorphismus[4] (die Vermenschlichung von Dingen) genannt wird. Sie übertragen Gestalt, Lebensweise und Moralvorstellungen von Menschen auf eine Sache. Hier können Pädagog*innen gut ansetzen und eine ganze Reihe von Projekten entwickeln, die den Kindern helfen, die Vorstellung vom Roboter als verbessertem menschlichen Helfer zu revidieren.[5]
Betrachtet man das Phänomen Internet, könnte es zu diesen Fragestellungen kommen:
- Was muss ich lernen, um Internetschreiber zu werden?
- Wer „schreibt“ eigentlich das Internet?
- Wo kauft das Internet ein?
- Kennt das Internet die Wahrheit?
Die Kinder haben bei ihren Eltern beobachtet, dass diese das Internet für die die Beschaffung von Informationen nutzen und dabei auch immer wieder herausfinden, ob etwas richtig ist. In den Augen der Kinder wird das Internet so zu einer allwissenden Wahrheitsmaschine. Wer die Wahrheit kennt, hat die Macht und kann so entscheiden, ob jemand recht hat. Diese Vorstellung ist gefährlich. Die Untersuchung des Internets mit dem Ziel, es in seiner Funktion zu verstehen, den Nutzen richtig einzuordnen und den Missbrauch zu erkennen, ist eine Pflichtaufgabe für Kindergärten und Schulen.
Die Weiterentwicklung der Lebensrealität der Menschen, vor allem in Bezug auf die Digitalisierung, stellt die pädagogischen Institutionen vor große Herausforderungen. Die Vorstellung vom lehrenden, unterrichtenden Erwachsenen, der über fast alles Bescheid weiß, gehört der Vergangenheit an. An diese Stelle tritt die Idee der parallel lernenden pädagogischen Fachkraft, die die eigene Lernbiografie reflektiert hat, um einen neuen Begriff des Lernens für sich selbst anzunehmen. Das gemeinsame Entdecken der Welt in spannenden Lernprojekten, die in echter Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen entwickelt und vorangetrieben werden, steht im Mittelpunkt moderner pädagogischer Methoden. Damit dies gelingt, muss sich die pädagogische Haltung verändern. Die herablassende Attitüde des Lehrers und die besorgt betreuende Haltung der Pädagog*innen muss sich in Richtung Vertrauen und Zutrauen entwickeln.
Endnoten
[1] Zum Weiterlesen Bostelmann, A. & Fink, M. (2015): Elementare Spielhandlungen von Kindern unter 3. Erkennen, Begleiten, Fördern. Berlin: Bananenblau.
[2] Begriff aus dem dänischen Kindergartencurriculum, der die Pädagogen daran erinnern soll, dass Fehler zum Lernen dazu gehören.
[3] Zum Weiterlesen Bostelmann, A. & Engelbrecht, C. (2016): Das Apfelprojekt. Praktische Projektarbeit im Kindergarten. Berlin: Bananenblau.
[4] Piaget (1896-1980): Schweizer Biologe und Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie sowie Begründer der genetischen Epistemologie.
[5] Zum Weiterlesen Ljukas, L. (2019): Hello Ruby. Wenn Roboter zur Schule gehen. Berlin: Bananenblau.