Aus: Bayerischer Landesverband katholischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. (Hrsg.):
Jahrbuch 2001/2002. München: Selbstverlag 2001, S. 167-172
Hans-Jürgen Palme
Traditionell haben wir Erwachsenen Vorstellungen über eine schöne Kindheit. Ein mehr oder weniger großer Konsens besteht auch bezüglich der pädagogischen Rahmenkonstellationen für einen gelungenen Erziehungsprozess. Demgemäss bieten die Kindertageseinrichtungen ein pädagogisches Ambiente, in dem sich die Kinder im gemeinsamen Spiel die vorgegebene Welt aneignen und dabei soziale, sinnliche und ökologische Erfahrungen sammeln können. Dem kindlichen Bewegungsdrang wird Rechnung durch Freiflächen und Turnräume getragen. Das pädagogische Fachpersonal setzt Rahmen, steuert den Gruppenprozess und fördert die wertvollen individuellen Neigungen und Vorlieben.
Im Mittelpunkt steht dabei immer eine kulturelle Bildung, die sich auf gesellschaftlich gesicherte Werte und Normen stützt. Das dabei zugrundeliegende Erziehungskoordinatensystem ist keinesfalls festgezurrt, sondern unterliegt einen permanenten Anpassungswandel. Dies wird am Beispiel "Struwwelpeter" deutlich: Generationen von Kindern sind damit aufgewachsen, und die Eltern von einst beurteilten diese Lektüre als pädagogisch wertvoll. Inzwischen ist der "Struwwelpeter" in Verruf geraten, weil andere Normen und Werte den Erziehungsprozess bestimmen. Ein gegenteiliger Prozess ist in bezug auf die Medien zu beobachten. Jahrzehntelang waren Medien in den Kindertageseinrichtungen verpönt. Inzwischen gehört der Kassettenrekorder zur Standardausstattung, und die Herausforderungen rund um die Medienkompetenz gewinnen an Bedeutung.
Tradition und Innovation sind gerade in der Pädagogik seit je her eng miteinander verflochten. Neues einzubinden, ohne das Bewährte zu vernachlässigen, ist ein Erziehungs-Kunststück, das ohne Wenn und Aber als beständige Anforderung für pädagogisch Verantwortliche gilt. Schließlich wollen unsere Kinder die jetzige Welt kennen lernen, und schließlich wollen wir Erwachsenen unsere kulturell gewachsenen Wert- und Normvorstellungen nachhaltig weitergeben.
Die frühzeitige Ausformung und Förderung der Medienkompetenz gehört zu den pädagogischen Innovationen, deren Relevanz sich aus der medial beschleunigten Veränderung unserer Gesellschaft ergibt. Dabei geht es nicht um das Bedienungslernen von Geräten, die ohnehin in kürzester Zeit veralten, sondern um die spielerische Aneignung der sich etablierenden Wissensgesellschaft mit ihren enormen Anforderungen hinsichtlich medialer Symbolwelten und interaktiver Kommunikationsprozesse. Die Dechiffrierung digitaler Inhalte, die bewusste Auswahl grenzüberschreitender Virtual-Angebote und die selbstbestimmte Nutzung des Cyberspace für eine aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen kristallisieren sich als Aspekte des Leitziels "Medienkompetenz" mehr und mehr heraus.
Die gelungene Persönlichkeitsreifung in einer von Medien determinierten Gemeinschaft setzt eine aktive Teilhabe durch Mitgestaltung - unter Einbezug von Computer und Internet - immer mehr voraus. Für die Kindertageseinrichtungen ist dies um so bedeutungsvoller, weil es gerade hier gilt, frühzeitige Benachteiligungen möglichst effektiv zu nivellieren. Das kindliche Spiel mit Medien bedeutet heute mehr als Zeitvertreib und bloßes Konsumieren. Im Spiel entdecken und erforschen die Kinder die ihnen vorgegebene Welt und eignen sich diese an. Im 21. Jahrhundert sind dabei verständlicherweise auch mediale Spiele von großem Interesse (Palme 1999).
Die digitalen Spielwelten in die alltägliche pädagogische Praxis behutsam so einzubinden, dass damit eine sinnvolle Bereicherung des Erziehungsprozesses einhergeht, ist eine sich verdichtende Herausforderung. Zur Bewältigung sind Modellprojekte nötig, die Möglichkeiten für einen gelungenen Einsatz aufzeigen und zugleich einen diskutierbaren Erfahrungsschatz liefern. Bereits 1998 wurde bei der BLV Fachtagung "Der Hort Im-Puls der Zeit" in Forum 4 der "Spielplatz Computer - multimediale Landschaften für Kinder" zur Diskussion gestellt (BLV 1999). Das zugrundeliegende Projekt "Multimedia-Landschaften für Kinder" (MuLa) wird seit 1997 gemeinsam vom Schulreferat der Landeshauptstadt München und dem medienpädagogischen Verein SIN-Studio im Netz (SIN) realisiert. Derzeit sind daran über 50 Münchner Kindertageseinrichtungen beteiligt, und über 3000 Kinder konnten an diesem Projekt allein im letzten Jahre partizipieren. Eine ausführliche Beschreibung erfolgte auch im BLV-Jahrbuch 1999/2000 "Zeitenwende" (S. 150).
Medienpädagogische Innovationen für Kindergarten und Hort dienen der Bereicherung der alltäglichen Praxis und der lebendigen Reflektion des pädagogisch Notwendigen und Gewünschten. Wertvoll sind Modellprojekte aber auch dann, wenn sie Neues aufgreifen und pädagogische Wege für eine zukünftige Verwendung aufzeigen. Das nachfolgend beschriebene Projekt "Kinderspuren im Internet" ist sicherlich noch kein alltagstaugliches Modell. Dennoch ist es spannend, da hierbei erstmals das Internet in seiner Archivfunktion genutzt wird und Blitzlichter der Kindheit in einem langjährigen Prozess festgehalten werden.
Kinderspuren im Internet
Ausgangspunkt von "Kinderspuren im Internet" ist die Überlegung, Kindern einen eigenen Raum im Internet zur Verfügung zu stellen, in dem sie selbst über Jahre hinweg kreativ wirken können. Dank der öffentlichen Archivierungsfunktion des Internet wird so die Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter virtuell dokumentiert. Mit Fotos, Bildern, Tönen und Videos präsentieren sich mehr als 100 Heranwachsende im Internet. Auf die Erstellung der Website folgt die ständige Ergänzung und Bereicherung der eigenen Internetpräsenz durch aktuelle Inhalte, so dass man nach einigen Jahren wie in einem Fotoalbum darin blättern kann. Eine Besonderheit des Projektes ist die Tatsache, dass die Ergebnisse nicht in Archiven verstauben, sondern im Internet für jedermann zugänglich sind und die Entfaltung der Kinder im virtuellen Raum mitverfolgt werden kann. Die Weiterentwicklung und Dynamik der "Kinderspuren" kann von jedem Ort dieser Erde aus beobachtet werden. Was geschaffen wird, ist ein virtuelles Zeitdokument: die Kinderspuren verwehen nicht.
Die Laufzeit des Projekts beträgt mindestens 13 Jahre, also so lange, bis auch die jüngsten Projektteilnehmer 18 Jahre alt geworden sind.
In der ersten Phase des Modellprojektes haben die Kinder zusammen mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des SIN ihre eigene kleine Homepage erstellt und im Internet veröffentlicht. Nachdem nun der Grundstein gelegt ist, geht "Kinderspuren im Internet" in die weiterführende Phase. Das SIN liefert immer wieder Impulse, um die Initiative der Heranwachsenden anzuregen, und die Kinder können jederzeit neue Dokumente an das SIN senden, die in die entsprechende Internetpräsenz eingebunden werden. So wird stets Neues entstehen und den Ursprungsseiten hinzugefügt, jedoch wird Altes nicht entfernt. Auf diese Weise entsteht mit der Zeit ein Dokument, das die Entwicklung der Teilnehmer nachzeichnet.
Allerdings bleibt dieses Projekt nicht auf die Virtualität beschränkt. Es finden regelmäßige Treffen aller Teilnehmer statt, damit die Kinder nicht nur auf der Website des Projekts eine Gemeinschaft bilden, sondern auch persönlichen Kontakt erfahren und halten können. Einen "stofflichen" Zugang zu ihren virtuellen Spuren und eine Erinnerung an das Erlebnis stellt auch die Urkunde mit dem eigenen Foto und der Internetadresse dar, die die Kinder nach der Fertigstellung der Seiten erhielten.
Die Spurensammlung
Der Startschuss für "Kinderspuren im Internet" fiel am 14. August 2000: Nach intensiver Vorbereitung kamen an diesem Tag die ersten Kinder in die Räume des SIN in München, um ihre eigenen virtuellen Bausteine zu erstellen.
An diesem Tag - wie auch an allen folgenden Terminen - standen den kleinen Media-Akteuren vier verschiedene Aktiv-Stationen zur Verfügung. Die aktive und kreative Mediennutzung durch die Kinder fand in einer überaus lebendigen Atmosphäre statt. Die Gruppengröße beschränkten wir jeweils auf maximal acht Kinder.
- Das Künstler-Atelier: Hier konnten die Kinder auf ganz herkömmliche Art und Weise ihrer Phantasie freien Lauf lassen: Papier und Buntstifte standen ihnen zu Verfügung, um damit kleine "Kunstwerke" zu schaffen, die dann eingescannt wurden.
- Kinderstimmen digital: Hier wurden Tonaufnahmen gesammelt. Die Kinder hatten die Möglichkeit, etwas zu erzählen, ein Lied zu singen oder einfach nur kurze Statements abzugeben.
- Der virtuelle Spiegel: In unserem Photostudio standen die Kinder mit großem Spaß Modell, oft begleitet von Anregungen ihrer Freunde. Die Kinder waren erstaunt und erfreut gleichermaßen, als plötzlich das eigene Foto am Bildschirm erschien und zur Bearbeitung bereit stand.
- Hollywood digital: Ein weiteres spannendes Highlight war unser kleines Filmstudio: Die Kinder durften hier vor einer Kamera agieren, konnten Kunststücke vorführen, Purzelbäume schlagen, sich als Clown oder Schauspieler präsentieren, singen, tanzen oder einfach nur herumalbern. Jeder fand hier seine eigene Ausdrucksweise, jeder und jede zeigte sich entsprechend seiner Vorlieben - und wer gar keine Lust hatte, gefilmt zu werden, der konnte diese Station natürlich auch auslassen.
Die virtuellen Kinderspuren entstanden in einer motivierenden Gruppenatmosphäre und in einem animierenden Umfeld: Die Kinder konnten nebenbei die Computer auch zum Spielen nutzen oder ihrem Bewegungsdrang nachgehen und in den Räumen des SIN herumtollen, wobei sich unser Gruppenraum mit der im Kreis aufgestellten Sitzmöglichkeit als besonders attraktiv erwies.
Als alle Elemente vorhanden waren, erfolgte die Erstellung der Homepages - stets in Zusammenarbeit der Kinder mit den SIN-Mitarbeiter/innen. Jedes Kind war am Gestalten seiner Seite aktiv beteiligt. Mit Hilfe des kinderfreundlichen HTML-Programms "Web Artist" wurden aus den erstellten Digitalmaterialien die individuellen Websites kreiert. Dabei hatten die Kinder z.B. die Möglichkeit, den virtuellen Raum in ihre Lieblingsfarbe zu tauchen, aus verschiedenen Schriften die schönste auszuwählen, kurze Begrüßungstexte an die Besucher zu verfassen und die jeweilige Form und das Layout zu bestimmen. Die Fotos und Bilder wurden den Kinderwünschen entsprechend eingebunden; Links zu Ton- und Videoaufnahmen konnten mit diversen Zeichen und Symbolen versehen werden. Zudem standen für die Kinder noch viele bunte Bildchen, Fotos sowie animierte Gifs bereit, die zur Ausschmückung und "Vollendung" des Seitenlayouts dienten.
Am Ende eines jeden Projekttages stand die Besichtigung der Ergebnisse: Die gesamte Gruppe betrachtete sich die soeben entstandenen Seiten. Alle Kinder waren stolz auf ihre Werke und bestaunten mit großem Interesse die Seiten der Freunde und Freundinnen. Sobald die Einverständniserklärung der Eltern vorlag, konnten die neuen Seiten auch schon ins Internet gestellt werden. Auf den Seiten wurden lediglich der Vorname sowie das Alter der Kinder veröffentlicht, um den Schutz der Kinder zu gewährleisten.
Ausblick
Die erste Etappe des Projekts ist erfolgreich absolviert: Insgesamt 105 Kinder, aufgeteilt in 13 Gruppen, haben ihre eigene Homepage erstellt und sind nun im Internet präsent. Damit ist auch das erste Ziel erreicht: Die Kinder haben sich ihren eigenen virtuellen Raum eingerichtet; sie haben eine "Basisstation" in den Weiten des WorldWideWeb bezogen. Das neue, vorher vielleicht fremde Medium, ist nun nichts Abstraktes mehr, sondern die kleinen User haben einen persönlichen Bezug zu ihm entwickelt. Zudem hat die Erstellung der eigenen Seite zu einem neuen Verständnis und einer neuen Transparenz des Internet beigetragen: jedes Kind hat nun selbst den Entstehungsprozess von Websites miterlebt und eigenverantwortlich mitbestimmt.
Gegenwärtig ist das Projekt vom Engagement der jungen Teilnehmern abhängig. Gefragt ist die Eigendynamik der Heranwachsenden bzw. ihrer Eltern. Wer will, kann jederzeit aktuelle Dokumente an das SIN weiterleiten, jedoch besteht kein Zwang zur Aktualisierung. Die einzige Einschränkung für eine völlig freie Entwicklung ist dadurch gegeben, dass Daten nicht direkt von den Teilnehmern veröffentlicht werden können. So wird verhindert, dass verbotene Inhalte unkontrolliert in das Projekt gelangen.
Den pädagogisch Verantwortlichen im SIN bleibt die Begleitung, Beobachtung und Auswertung des Projekts - in welcher Form es weiterlebt, wird sich zeigen. Ob und inwieweit "Kinderspuren im Internet" mit einem derart schnelllebigen Medium über einen so langen Zeitraum überhaupt fortbestehen kann, ist natürlich auch eine interessante Frage. In Zeiten einer kaum mehr prognostizierbaren Zukunft bleibt abzuwarten, wie man in 13 Jahren - also im Jahr 2014 - über das Internet denken wird. Zur Erinnerung: Vor 13 Jahren, also im Jahre 1988, war das Internet gesellschaftsweit kaum bekannt...
Dieses Projekt nutzt also nicht nur aktuell die virtuellen Möglichkeiten zur Umsetzung des Leitziels "Medienkompetenz". Das Projekt "Kinderspuren im Internet" fokussiert vielmehr die Zeitverläufe in einer mediengeprägten Gesellschaft und den damit verbundenen individuellen Entwicklungen unter dem forschenden Blick einer medienpädagogischen Praxis. Auch das Medium selbst, in dem das Modellprojekt verwurzelt ist, wird über Jahre hinweg beobachtet. Mit großem Interesse können wir Entwicklungen mitverfolgen, über deren Ergebnis wir heute nur orakeln können.
Literatur
BLV (Hrsg.): Dokumentation "Der Hort Im-Puls der Zeit"; 1999
Hans-Jürgen Palme: Computern im Kindergarten; Don Bosco Verlag; 1999
Projektinformationen
Das Projekt Kinderspuren im Internet wurde vom SIN - Studio im Netz e.V. (SIN) zusammen mit SmithKline Beecham Pharma GmbH initiiert. Die Realisation erfolgt durch das SIN. Für das innovative Modellprojekt hat Georg Schmid, Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie, Frauen und Gesundheit die Schirmherrschaft übernommen. Das Projekt wird finanziell gefördert vom Fonds Soziokultur und dem Sozialreferat/ Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München.