Kinder der Zukunft – Der Kindergarten in der digitalen WeltDie Geschichte vom Internet

Quelle: Erstveröffentlichung in UNSERE KINDER. Das Fachjournal für Bildung und Betreuung in der frühen Kindheit, Ausgabe 05/2019

 

Antje Bostelmann

Kinder, die heute in den Kindergarten kommen, sind von digitalen Geräten umgeben. Sie nutzen sie, um Geschichten und Lieder zu hören und kennen den Anblick von Erwachsenen, die intensiv mit ihrem Smartphone interagieren. Unter diesen Vorzeichen stellt sich die Frage, was wir heute wissen und können müssen, um Kinder zu verantwortungsbewussten MitbürgerInnen in einer digitalen Zukunft zu erziehen.

Eine Situation, die mir in einem Schulhort begegnet ist, hat mich lange beschäftigt: Im Computerraum sitzen viele Kinder vor den Bildschirmen. Der Raum ist erfüllt von Diskussionen und Aktivitäten, ganz im Gegensatz zu den anderen Räumen, die wie ausgestorben wirken. Derweil sitzen die ErzieherInnen im Büro. Warum sie nicht bei den Kinder sind? Die kämen schon klar. Man verstehe ohnehin nichts davon und könne zu dem Tun der Kinder nicht viel beitragen.

Die Situation hat mich nicht losgelassen. Die Annahme, dass PädagogInnen den Kindern beim Umgang mit digitalen Technologien ohnehin nicht helfen können, ist leider weit verbreitet. Sie begegnet mir in meiner Arbeit mit angehenden ErzieherInnen und im Austausch mit KollegInnen verschiedener Kindergärten immer wieder. Viele PädagogInnen glauben im Zeitalter der Digitalisierung vor besonderen, noch nie da gewesenen Herausforderungen zu stehen. Dem ist nicht so.
PädagogInnen mussten zu allen Zeiten die Welt, in der Kinder einmal als Erwachsene leben werden, vorausahnen und ihr Handeln darauf einstellen. Diese Aufgabe ist zu keiner Zeit ohne Anspruch, Mut und Verantwortungsbewusstsein zu meistern gewesen.
Liebe PädagogInnen: Noch niemals wurde an Sie der Anspruch gestellt, alles zu wissen! Ihre Aufgabe ist es, Lernprozesse zu initiieren, zu begleiten und zu reflektieren – das beherrschen Sie meisterhaft! Dabei ist das Lernfeld nebensächlich. Wichtig ist, den Dingen mit Neugier zu begegnen. Besinnen Sie sich darauf, was Sie gut können: gemeinsam mit den Kindern die Welt entdecken.

Die Didaktik der Fragen oder Inquiery Based Learning[1]

Angelehnt an die Didaktik der Fragen, haben wir für die Klax Kindergärten diese vier Stufen entwickelt[2]:
Was wollen wir wissen?
Was wissen wir schon?
Wo können wir etwas darüber erfahren?
Was wissen wir jetzt?

Alle Lernprozesse beginnen mit einer Frage. Zum Beispiel: „Was ist das Internet?“
Nachdem die Fragestellung feststeht, wird das Wissen der Gruppe zusammengetragen. Die Kinder steuern ihre Kenntnisse bei, ihre Aussagen kommen auf ein Blatt mit der Überschrift „Das wissen wir schon“. Im Berliner Klax Kindergarten Regenbogenhaus wird bei dieser Übung offenbar, dass die Kinder nicht viel über das Internet wissen, während ihre Eltern es ständig nutzen. Auf dem Blatt stehen Sätze wie: „Im Internet steht, wie das Wetter wird“, „Das Internet spielt Musik“, „Im Internet geht Mama einkaufen“ oder „Papa schaut im Internet nach, wenn er etwas nicht weiß“.
Fatma, die Erzieherin ist am Anfang etwas ratlos, sie findet, dass zu viele Themen auf dem Blatt eher für Verwirrung sorgen. Deshalb beschließt sie ein neues Blatt zu nehmen und das Thema zu konkretisieren. „Lasst uns erst einmal herausfinden, was das Internet eigentlich ist, bevor wir darüber sprechen was man alles damit machen kann.“ Sie beschließt die Kinder zu provozieren, nimmt ein Ballnetz aus dem Sportraum und sagt: „Kann es sein, dass dieses Ballnetz und das Internet etwas gemeinsam haben?“ Die Kinder kichern. „So ein Quatsch“, sagt Luise, „wo kann man denn hier das Wetter sehen?“ Fatma erklärt: „Das Wort net ist Englisch und bedeutet Netz. Das Internet muss also ein Netz sein.“
Die Gruppe überlegt, wen man noch fragen könnte. Fatma schreibt die Vorschläge der Kinder auf ein weiteres Blatt: „Hier erfahren wir mehr darüber“. Auf diesem Blatt wird auch festgehalten, was genau getan werden kann, um die Frage zu beantworten.
Die Kinder rufen „im Internet“ und kichern. „Wir fragen das Internet, was das Internet ist.“ Anton meint, man könnte auch einen Wissenschaftler fragen, oder einen IT Experten. Die Gruppe macht einen Plan. Sie wollen zuerst im Internet nachsehen, dann den Vater von Max einladen, der eine IT Firma hat. Sie bitten Fatma, in der Universität anzurufen und zu fragen, ob sie einen Wissenschaftler besuchen können. In die Bibliothek wollen die Kinder nicht gehen. Sie können einfach nicht glauben, dass es Bücher über das Internet gibt.
Fatma erklärt, dass sie das nachprüfen und Bücher mitbringen will, wenn es doch welche gibt.[3]
In einer von Fragen geleiteten Didaktik lernen Menschen den Wert der Gruppe als Pool von vielfältigem Wissen, unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen zu schätzen. Die Fähigkeit, zusammenzuarbeiten ist deshalb eine wichtige Zukunftskompetenz, weil sie die Gemeinschaft und damit die Demokratiefähigkeit der Menschen stärkt.

Im ganz praktischen, pädagogischen Kontext stellt sich die Frage: Können Kinder gemeinsam an Aufgabenstellungen arbeiten und Produkte präsentieren, die in Gemeinschaftsarbeit entstanden sind? Wissenskonstruktion braucht die Didaktik des Fragens. Gemeinsam Fragestellungen zu finden und zu bearbeiten, ist die Grundlage moderner Lernkonzepte.[4]

Lernen ist ein soziales Paket!
Lernen ist keine Einbahnstraße, sondern ein soziales Paket. Dabei werden vielfältige Einflüsse und Ereignisse aufgenommen, im Diskurs mit anderen Menschen überprüft, erweitert oder verworfen und im Alltagshandeln angewandt und weiterentwickelt. Lernen braucht Zuversicht, Leidenschaft und Mut. Es braucht eine anregende Umgebung und regulierende Auseinandersetzungen. Wer lernt, bewegt sich, macht Fehler und muss Misserfolge verarbeiten. Es ist wichtig, dies alles schon in der frühen Kindheit zu lernen. Und dafür braucht es PädagogInnen, die diese Art des Lernens durch eigenes Verhalten, sowie Raum- und Materialangebote ermöglichen, unterstützen und begleiten können.

Fatma sitzt mit ihrer Kindergruppe im Kreis. Die Kinder haben bunt bemalte Schuhkartons dabei. Dies sind ihre „Eigentumsfächer“, die mit verschiedenen Dingen gefüllt sind, die sie von zu Hause mitgebracht haben und in der Garderobe im Eigentumsfach aufbewahren. Fatma holt eine Rolle Papierklebeband hervor. Sie bittet die Kinder ganz still zu sitzen. Nun klebt sie zwischen jedem Kind eine Linie. Als sie fertig ist, sitzt die Gruppe um ein netzartiges Gebilde herum. „Wir haben ein Spinnennetz“, ruft Luise und klatscht in die Hände. Fatma bittet nun jedes Kind, eine Sache aus dem Eigentumsfach zu holen und entlang der Linie einem anderen Kind zu übergeben. Das Kind soll entscheiden, ob es das Ding haben möchte. „Wir sprechen aber nicht“, sagt Fatma. „Wer etwas haben möchte, macht seinen Deckel auf und wer nicht, lässt den Deckel zu.“

Die Kinder folgen der Anweisung und tauschen ihre Sachen. Nach einer Weile, als alle Kinder wieder sitzen, beginnt Fatma mit der Erklärung: „Wir haben hier ein ganz kleines Internet geschaffen. Stellt euch vor, eure Kartons sind Computer. Die Computer sind alle miteinander verbunden. Man kann sich über diese Verbindung Dinge schicken, ganz egal, wo man ist.“ Die Kinder staunen. „Das Internet ist aber hundert Millionen mal größer“, weiß Max. Fatma bestätigt dies: „Es gibt unendlich viele Computer, Smartphones und Tablets auf der Welt, die alle miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren.“
Die Kinder überlegen. „Ich möchte aber nichts von Leuten haben, die ich nicht kenne“, sagt Luise. „Wenn ich etwas aus dem Internet nicht haben will, dann mache ich meinen Computer zu“, meint Max. Fatma erklärt weiter, dass die riesige Verbindung Internet vor allem Nachrichten, Information, Bilder und Filme transportiert. „Auch Bücher?“, möchte ein Kind wissen. „Auch Bücher“, sagt Fatma, „wenn diese für das Internet in Dateien umgewandelt wurden.“
Die Kinder diskutieren noch eine Weile und stellen eine Frage nach der anderen. Fatma hält alle auf dem Blatt mit der Überschrift „Was wollen wir wissen?“ fest. Was sind Dateien? Was bedeutet Kommunizieren bei Computern? Wie bekomme ich Sachen aus dem Internet? Wo kauft das Internet ein?

Das Projekt hat die Gruppe noch einige Wochen beschäftigt.

Was sollten Kinder heute lernen?

Über dieses Thema wird heute viel diskutiert. Weltweit werden Zukunftskompetenzen und Bildungsaufträge formuliert, die wenig mit digitalen Technologien zu tun zu haben scheinen. Die Kernbegriffe lauten „Zusammenarbeiten“, „Wissen konstruieren“, „IT in Lernprozessen anwenden“, „kompetent kommunizieren“, „Kreativität“, „Probleme lösen“, „kritisch Denken“ oder „Media and Information Litracy“.

Die Begleitung und Förderung der kindlichen Entwicklung bleibt das Kernziel des Kindergartens. Die Kinder lernen die Welt zu verstehen, lernen sich angemessen zu verhalten, lernen zu lesen, schreiben und zu rechnen. Sie lernen sich in der sozialen Gemeinschaft sicher zu bewegen, das eigene Verhalten und die eigenen Bedürfnisse zu regulieren. So sollen die Kinder zu mündigen und verantwortungsfähigen Mitbürgern heranwachsen. Die Lebensrealität, in der dies geschieht, ist von einer zunehmenden Digitalisierung geprägt.

Und die Geräte?

Im deutschsprachigen Raum wird immer noch diskutiert ob, ab welchem Alter und wie oft Kinder mit digitaler Technik in Berührung kommen sollen. Ich möchte allen zurufen: Hört endlich damit auf! Diese Diskussion ist ein großes Missverständnis. Es geht nicht um Geräte, sondern darum, was Menschen wissen müssen, um angesichts großer Datenmonopole wie Google, Amazon oder Facebook in Zukunft ein mündiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Erwachsene müssen gemeinsam mit ihren Kindern die digitale Welt verstehen lernen. Für den Fortbestand unserer demokratischen Gesellschaft und den Schutz unserer Erde müssen wir verstehen, was hinter der Digitalisierung steckt. Um herauszufinden, wie ein Computer funktioniert, muss man einen in die Hand nehmen. Um Daten zu schützen ist es notwendig, zu wissen, wie Algorithmen funktionieren.
Mündige Menschen dürfen nicht von digitalen Geräten abhängig sein. Moderne Menschen brauchen die Fähigkeit, digitale Geräte zu kontrollieren, zu programmieren, zu verändern und zu reparieren.

Und im Kindergarten muss der Anfang gemacht werden. Dazu werden hier Tablets, 3D-Drucker und Lernroboter gebraucht. Nur so können wir den Kindern das Wissen und die Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben in einer digitalisierten Welt mit auf den Weg geben.

Literaturempfehlung

Liukas, Linda. Hello Ruby. Expedition ins Internet. Berlin: Bananenblau 2018.

Endnoten

[1] https://www.teachthought.com/pedagogy/4-phases-inquiry-based-learning-guide-teachers/

[2] vgl. Bostelmann, Antje/Engelbrecht, Christian. So gelingen spannende Bildungsprojekte im Kindergarten. Berlin: Bananenblau 2016.

[3]  Fragengeleitetes, forschendes Lernen findet sich in vielen Ansätzen, sei es das Design Thinking, die Methode des Future Classroom Lab oder der Methode des Selbstorganisierten Lernens und vor allem in der Didaktik des Kindergartens.

[4] vgl. www.mini-maker.de

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