Schönheit und Geschichten - Über das Lernen in Krippe und Kindergarten

Antje Bostelmann

Kleine Kinder sind auf Lernen programmiert. Sie nehmen die Welt um sich herum auf wie ein Schwamm.

Dies geschieht jedoch nicht von allein. Das Kind braucht eine für die Sinne stimulierende Umgebung und faszinierte, interessierte Erwachsene, die den Dingen einen Sinn geben.
Wir Menschen sind soziale Wesen, wir lernen voneinander, indem wir uns gegenseitig beobachten und zuhören, uns austauschen. Wir suchen dabei nach Zusammenhängen, Beziehungen und Geschichten. Genauso funktioniert das Lernen der kleinen Kinder.

Das Lernen in der frühen Kindheit ist Lernen mit den Händen, Lernen durch Beobachtung, Lernen durch Probieren, Lernen mit allen Sinnen.

Krippen und Kindergärten sind eine Welt aus Freundlichkeit, Zutrauen und Sicherheit

Die Welt begegnet dem Kind als eine Art soziales Paket. Die Menschen, die Natur, die Dinge stehen zueinander in Beziehungen. In allem lassen sich Zusammenhänge erkennen. Das Kleinkind ist darauf aus, diese Beziehungen und Zusammenhänge zu entschlüsseln. Das Vorschulkind will sich diese zu Eigen machen. Die gute Beziehung zu den erwachsenen Bezugspersonen und den anderen Kindern schafft die Sicherheit, die das Lernen erst möglich macht. Ein Raum, der durch und durch sicher gestaltet ist, kann dies allein nicht herstellen und wird durch die in ihm abgebildete künstliche Welt, die auf Beziehungen verzichtet, zum Lernkiller.

Es macht keinen Sinn eine Kindertageseinrichtung wie eine Art künstliche Schule zu gestalten, Als-ob-Welten zu schaffen, die Kindern einen größtmöglichen Schutz vor dem wirklichen Leben bieten. Kindereinrichtungen sind Lebensschulen. Die Kinder in diesen Lebensschulen brauchen echte Menschen und echte Dinge.

Spielen ist experimentieren

Dass Kinder im Spiel lernen, ist allgemein bekannt. Dass sie es nicht von allein und ohne Erwachsene tun können, wird häufig vergessen. Spielen muss gelernt werden, es braucht Vorbilder, soziale Partner, soziale Verstärkung, Geschichten und Zusammenhänge, die sich im Spiel nachvollziehen lassen. Spielen ist auch experimentieren. Im Spiel lösen die Kinder Probleme, entwickeln Lösungen und entwickeln ungewöhnliche Antworten auf Fragen, die sich im Spiel ergeben.

Lernen durch Zusammenleben

Wie kommt das Lernen in die Kindertageseinrichtung? Eine Welt aus Kindertischen und Stühlen, Kindertoiletten, Kinderbettchen, Kinderspielzeug ist erstmal eine künstliche Welt. Sie ist aber auch eine perfekt auf das Kind abgestimmte Welt. Diese Welt wird jedoch nur dann vollständig, wenn das Kind in ihr authentischen Erwachsenen und der natürlichen Umwelt begegnen kann.
Um das zu erreichen, gibt es für pädagogische Fachkräfte viele Möglichkeiten.

Was hast Du Deinen Kindern heute mitgebracht? Eine Frage, die sich die pädagogischen Fachkräfte gleich nach dem „Guten Morgen“ an der Eingangstür stellen sollten. Die Antworten können vielfältig ausfallen: Eine Geschichte, ein Vogelnest, einen Strauß Frühlingsblumen, ein Küchengerät, eine tote Biene, ein Poster, ein Foto usw. Pädagogische Fachkräfte sollten mit offenen Augen durch die Welt gehen. Es gibt soviel Dinge, die interessant sind, Geschichten in sich bergen und die in Kindertageseinrichtungen untersucht und entschlüsselt werden können.

Zu wichtigen Werkzeugen für das informelle Lernen in der Kindertageseinrichtung gehören: Lupe, Tageslichtprojektor, Mikroskop, Papier und Stift, Fotoapparat und Filmkamera, Spiegel und Lerntabletts.

Wichtige Anregungen zum informellen Lernen befinden sich im Portfolio, am Projekttisch und der Projektwand, am Thementisch, an der Lerntheke, im Garten, am Fenster, in ästhetischen Arrangements oder beispielsweise in einem Lichtraum.

Im Tagesablauf bieten verschiedene Organisationsformen, wie Morgenkreise, Mahlzeiten, Angebote, das Spiel im Garten oder Ausflüge viele Möglichkeiten für informelles Lernen.

Die Welt erzählt Geschichten

Im Atelier hat die pädagogische Fachkraft auf einem Tisch ein Arrangement aus getrockneten Pflanzen vorbereitet. Rote Hagebutten, Zweige voller Moos, getrocknete Blätter, kleine Blüten machen die Kinder neugierig. Apfelsinen und Äpfel, Zimtstangen und Sternanis verströmen einen winterlichen Duft. Das besonders schön gestaltete Arrangement sorgt im Atelier für eine besondere Atmosphäre, die die Kinder neugierig macht und fasziniert. Die Kinder stehen vor dem Tisch und betrachten die Dinge. Die pädagogische Fachkraft erzählt den Kindern, wie schön sie das Pflanzenarrangement findet. Sie fragt die Kinder, was ihnen gefällt und was sie daran mögen. Sie fordert die Kinder auf, die Dinge zu berühren und daran zu riechen. Gemeinsam überlegen sie, wo die Hagebutten wohl herkommen. Ein Mädchen weiß, dass Hagebutten mal Rosenblüten waren. Ein anderes Kind erklärt, dass in diesen  Rosenblüten bestimmt Käfer gewohnt haben. Diese Käfer sind von Vögeln gefressen worden, erklärt ein Junge. Ein Kind fragt laut, was das für Käfer sind, die in den Blüten der Apfelsinen gewohnt haben.
Während die Gruppe sich die Geschichten der Früchte, Pflanzen und Gewürze erzählt, nehmen die Kinder die Dinge in die Hand, drehen sie zwischen den Fingern, befühlen sie und riechen daran. Ganz nebenbei lernen sie, dass Pflanzen im Frühling blühen, diese Blüten von Insekten bestäubt werden und sich dann Früchte heranbilden. Im Winter schlafen die Pflanzen, meint ein Junge zum Abschluss.

Einige Kinder haben nun Lust die Hagebutten zu zeichnen. Andere suchen nach einem Buch über Käfer. Wieder andere gehen spielen.

Pädagogische Fachkräfte lassen die Natur in die Kindertageseinrichtung hinein. Sie sorgen dafür, dass es in der Kindertageseinrichtung an vielen Orten Schönheit gibt. Über besondere und schöne Dinge oder besonders liebevolle Gestaltungen zeigen die Erwachsenen, wie gern sie mit den Kindern zusammen sind. Sie richten Lernarrangements her und sorgen bewusst für Momente der Faszination und der Neugier.

Unsere Welt ist ein ästhetisches Konzept

Wer mit den Kindern viel in der Natur unterwegs ist, kann die ästhetische Konzeption in der Natur untersuchen, sichtbar machen und mit einer freundlichen Note versehen: Wie schön sich die Blätter im Herbst bunt färben, wie herrlich die Frühlingssonne auf das Gesicht scheint, in welchem Rhythmus die Blütenblätter einer Tulpe angeordnet sind. Viele dieser Dinge erschließen sich den Kindern von allein. Sie können sich diese allerdings nur dann bewusst machen und in ihr Weltwissen einordnen, wenn mit ihnen darüber in einer emotional bindenden Atmosphäre, auf eine authentische und glaubwürdige Art, gesprochen wird. Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen müssen in der Lage sein, die ästhetischen Momente im Alltag zu erkennen und mit den Kindern gemeinsam zu erleben. Dies ist nicht immer planbar. Manchmal muss man eine geplante Tätigkeit unterbrechen, um dem Regen zu lauschen oder gemeinsam die Geschichte einer toten Fliege auf der Fensterbank zu erzählen.

Die pädagogischen Fachkräfte sollten mit viel Achtsamkeit und Aufmerksamkeit durch den Alltag gehen, um selbst in der Lage zu sein, Lernanlässe zu erkennen und diese in ihrer sinnlichen Schönheit in faszinierende Geschichten für die Kinder zu verwandeln. Das ästhetische Konzept unserer Welt lässt sich bewusst durch Angebote im Atelier, Universumˡ oder Lichtraum nachvollziehen. Der Alltag in Kindertageseinrichtungen steckt darüber hinaus voller Möglichkeiten und Momente, die nur sorgfältig genutzt werden müssen.
In jeder Kindertageseinrichtung gibt es beispielsweise eine Obstmahlzeit am Tag. Es ist ein Unterschied, ob ich den Kindern einfach ein Stück Apfel reiche und sie auffordere sauber zu essen. Oder ob ich mit ihnen gemeinsam den Apfel aufschneide, die Kerne entdecke, die Geschichte des Apfels erzähle und den Geschmack, Saft und Duft beschreibe.

Ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten geben Kindern eine Sprache

Wenn Kinder zeichnen, drücken sie sich aus. Sie kommunizieren mit ihrer Umwelt über das selbst geschaffene Bild. Wir könnten die Kinder also einfach machen lassen. In vielen Kindertageseinrichtungen gibt es Wände die voller Kritzel sind. Dieses vertiefte Kritzeln hat sicher etwas Entspannendes für das Kind.
Aber ist es nicht auch die Aufgabe des Erwachsenen die bildnerische Ausdrucksform des Kindes in einem gemeinsamen Dialog zu entwickeln? Gemeinsam die Dinge zu betrachten und ganz genau zu untersuchen, hilft Kindern diese zu verstehen. Die Untersuchung findet im Gespräch statt, wird durch genaue Beobachtung, die Berührung und weitere sinnliche Wahrnehmungen vertieft, um dann durch die detaillierte Wiedergabe auf dem Papier vollendet zu werden. Die Möglichkeiten dafür schaffen pädagogische Fachkräfte durch das Bereitstellen von Materialien. Sie unterstützen das Gelingen der kindlichen Zeichnung durch einen liebevollen und faszinierenden Dialog mit dem Kind. Wenn die pädagogische Fachkraft mit dem Kind in einer freundlichen Beziehung bleibt, gelingt es dem Kind besser, die Welt zu verstehen und sich auszudrücken.

Im Lichtraum die Ästhetik anregen

Das Licht fasziniert uns Menschen besonders. Das mag daran liegen, dass es sich in so vielen Facetten verändern kann. Nutzen wir es also, um Kinder zum ästhetischen Gestalten anzuregen, sie zu faszinieren, zu überraschen und mit der Schönheit der Welt vertraut zu machen.

Muster im Licht

Im Universum steht ein Tisch vor dem Fenster, der mit farbigen Acryliglasplatten in A4 Größe bestückt wurde. Dazu kommen Schalen mit Gewürzen, Pflanzenteilen, Blüten, Sand und weiteren vielfältigen Naturmaterialien. Die Kinder können sich an diesen Tisch setzen und mit den Materialien aus den Schalen Muster auf die farbigen Platten legen. Pinzetten kommen zum Einsatz, um die Fingerfertigkeit und Geschicklichkeit zu schulen. Die Platten sind mit Stützen an den Ecken erhöht worden, sodass das Sonnenlicht hindurch scheint und die Materialien auf den Platten Schatten und Muster auf den Tisch projizieren. Diese Schattenmuster lassen sich auf Papier übertragen.

Lichtmuster an der Wand

Der Overheadprojektor wurde mitten im Raum aufgestellt. Die pädagogischen Fachkräfte haben Schalen voller interessanter Materialien daneben gestellt: Netze, Drahtgitter, Folien mit Mustern, farbige Acrylglasplatten, Holztiere, Holzautos, dargestellte Silhouetten von Menschen, Tieren und Fahrzeugen, getrocknete Apfelsinenscheiben, Blätter, Blüten und andere Naturmaterialien. Mehrere Kinder stehen um den Projektor und versuchen den Aufforderungen eines Mädchens, welches vor der Lichtfläche an der Wand steht, zu folgen. Die Kinder legen verschiedene Materialien auf die Arbeitsfläche des Projektors.

Abends wird auf dem Projektor ein Muster mit Glassteinen gelegt. Wenn morgens die Kinder in die Kindertageseinrichtung kommen, wird es auf der Wand erstrahlen und alle begrüßen.

Lichtdurchlässige Stoffe

Verschiedene Stoffe vor den Fenstern oder der projizierten Lichtfläche eines Overheadprojektors, lassen unterschiedliche Schattenbilder an den Wänden entstehen und die Stoffe leuchten. Man kann sein Gesicht ganz dicht vor den Stoff halten, man kann den Stoff fühlen und sich darin einwickeln. Man kann beobachten, wie das Licht durch den Stoff hindurch scheint. Daher sollten beispielsweise die Gardinen vor den Fenster der Kindertageseinrichtungen aus unterschiedlichen lichtdurchlässigen Stoffen sein, um den Kindern die Möglichkeit verschiedenster Lichtbeobachtungen zu geben.

Lichtmobiles

Mobiles aus durchscheinendem und reflektierendem oder Schattenmuster erzeugendem Material verzaubern den Raum, wenn die Sonne scheint. Aus ein paar Stöckern, etwas Wolle und verschiedenen Bastelutensilien wie Transparentpapier, Spiegelfolie, kleine Glas- oder Spiegelperlen oder anderen lichtdurchlässigen Materialien können gemeinsam mit den Kindern einzigartige Mobiles gebaut werden.

Mein Bild im Licht

Portraits, die von den Kindern und der pädagogischen Fachkraft auf eine Acrylglasscheibe gemalt und vor die Fenster gehängt werden, zeigen die Zugehörigkeit des einzelnen Kindes zur Gemeinschaft der Kindertageseinrichtung. Auch andere Kunstwerke der Kinder können auf diese Weise für alle sichtbar ausgestellt werden. Die Farben verändern sich mit dem Wandel des Tageslichtes.

Spiegel und Reflexionen

Wie wäre es einen kleinen Raum in der Kindertageseinrichtung in eine Art Spiegelraum zu verwandeln? Spiegel sind wie Fenster in eine verkehrte Welt. Sie irritieren unsere Wahrnehmung, da sie die Welt verkehrt herum zeigen und machen Kinder deshalb besonders neugierig. Mit Spiegeln lässt sich in Kindertageseinrichtungen allerlei anstellen. Spiegelfolie kann auf den Fußboden geklebt werden, um zu erfahren, wie es ist, wenn der Fußboden sich in stetiger Wiederholung immer und immer weiter öffnet.

Spiegel an den Wänden machen einen Raum größer. Ein Mobile aus reflektierendem Material zaubert Lichtpunkte an die Wände. Das eigene Porträt auf einen Spiegel zu malen, verführt zur genauen Beobachtung.

Authentische Erwachsene, die eine achtsame Beobachtung der Welt und eine freundliche und zugewandte Beziehung zu dem Kind als ihre Aufgabe angenommen haben, sorgen für eine ideale Lernumgebung. Denn sie sind in der Lage, die Neugier und das Interesse des Kindes an seiner Umwelt zu wecken und in Lernen zu verwandeln.

Anmerkung

ˡ naturwissenschaftlicher Bereich

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