Heinz Schlinkert
Für dreijährige Kinder ist ein Bilderbuch nicht nur ein Buch mit einer illustrierten Geschichte. Es ist auch eine Welt, in die man eintauchen kann. Das Kind kann sich in die dargestellten Personen hineinversetzen, mit ihnen sprechen und so selbst Teil der dargestellten Welt werden. Diese ‘szenische Bilderbuchbetrachtung‘ bildet neben der bekannten dialogisch/diskursiven (s. dazu H. Schlinkert, Zur Methodik der Bilderbuchbetrachtung) eine weitere Form der Bilderbuchbetrachtung.
Magie und Vernunft als Gegensätze?
Rollenspiele bei Kleinkindern werden oft mit Berufung auf Piaget (1975) als Ausdruck der ‚magischen Phase‘ interpretiert. Piaget (1975) hatte magisches Denken als archaische Denkform des Kindes in der präoperationalen Phase beschrieben. Für ihn war es aber nur ein notwendiges Übergangsstadium, um die nächste Phase der kognitiven Entwicklung und am Ende die Phase des abstrakten Denkens zu erreichen. Fantasie und Denken (inkl. magisches Denken und Animismus) sind aber aus heutiger Sicht keine Gegensätze. Fantasie ist vielmehr eine spezielle Form des Denkens, das bei Künstlern bewundert, bei Kindern aber oft nur belächelt und nicht als kreative Leistung anerkannt wird.
Das Rollenspiel des Kleinkindes ist Teil der kognitiven Entwicklung. Es ist omnipräsent, man findet es im Umgang mit Puppen, Stofftieren, Spielmaterialien und alltäglichen Gegenständen. Da fliegt der Dino zum Mond, der Kochlöffel wird zum Zauberstab und auch mit den Fischen in der Auslage des Fischgeschäfts kann man sich zur Verwunderung der Verkäuferin unterhalten. Die Kinder verarbeiten dabei Erfahrungen, indem sie sich mit Rollen- und Rollenerwartungen auseinandersetzen und eigene Verhaltensweisen kreieren. So schaffen sie eigene Bedeutungen, die oft nicht denen der Erwachsenenwelt entsprechen. In der Reggio-Pädagogik nennt man das die ‚100 Sprachen des Kindes‘ (Malaguzzi, 2002), Kinder werden dort als Künstler wertgeschätzt. In den Selbstbildungsprozessen des Rollenspiels wird die kognitive, sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung weiterentwickelt. Auch altersspezifische Ängste können die Kinder dabei darstellen und überwinden.
Rollenspiel ‚im Bilderbuch‘
Im Bilderbuch ist die Szenerie nicht so offen wie im Alltag. Figuren sind jeweils in eine Szene eingebunden, die Orientierungen auf konkrete Inhalte und Rollenerwartungen bietet. Man kann dazu auch nur einzelne Seiten eines Buches nutzen, auch eine durchgehende Geschichte ist nicht erforderlich. Gerade Sachbücher eignen sich dazu, wenn darin Personen abgebildet sind.
Die szenische Bilderbuchbetrachtung lebt von Dialogen, aber - anders als in der ‚dialogisch/diskursiven‘ Form – haben die Dialoge eine andere Form und Bedeutung. Da die Szenerie der Bilderbuchseite die ‚Kulisse‘ des Rollenspiels bildet, können Dialoge unterschiedlicher Art stattfinden:
- Dialoge zwischen Kind und Bilderbuch-Figuren in der Form von Menschen oder Tieren, gesprochen vom Kind
- Dialoge zwischen Bilderbuch - Figuren, alle gesprochen vom Kind, wobei das Kind u. U. abwechselnd in der 1. und der 3. Person spricht
- Dialoge zwischen Kind und Erzieher, wobei auch der Erzieher Rollen übernehmen kann, er sollte aber nicht ‚Regie‘ führen
Neben dem Sprechhandeln sind auch andere Handlungsformen möglich. So kann - entsprechend der Illustration - auch das Streicheln, Zudecken, Beschützen/Auffangen mit der Hand (bei Gefahren), Anpusten (wenn‘s weh tut), Füttern etc. Bedeutung für das Kind haben. Bei Büchern mit beweglichen Elementen kann man diese in die Spielhandlung einbeziehen.
Die Inhalte des Spiels sind zunächst direkt auf die Szene bezogen. Hier können Namen vergeben werden, indem man die Figur fragt, wie sie heißt. Inhalte ergeben sich zunächst aus der Szene, z. B. Werkzeug und Tätigkeiten eines Elektrikers bei einem Buch über Bauarbeiter. Aber auch weitergehendes Wissen des Kindes kann hier in den Dialog einfließen. Personen können zueinander in Beziehung gesetzt werden, indem man sie miteinander sprechen lässt. Da kann der Elektriker mit seinem Mauer-Kollegen über die Baustelle sprechen, aber auch die anwesenden Kinder des Elektrikers fragen vielleicht, warum ihr Vater so viel Krach macht oder wann er denn nach Hause kommt. Doch auch diese buchgebundenen Inhalte können vom Kind ohne Weiteres ‚übersprungen‘ und durch eine andere imaginierte Realität ersetzt werden, wenn z. B. wenn plötzlich die Feuerwehr anrückt, weil ein Brand ausgebrochen ist.
Aufgaben des Erziehers
Die Aufgaben des Erziehers (bzw. der Eltern) sind hier etwas anders als bei der dialogischen Bilderbuchbetrachtung. Da Dialoge nicht über das Buch, sondern in den Rollen der Figuren gesprochen werden, ist mehr situationsabhängiges Handeln gefragt. Über die normale Begleitung hinaus kann der Erzieher die Rolle einer Figur übernehmen. Man muss aber darauf achten, dass das Kind auf der Ebene des Rollenspiels nicht nur Fragen an den Erzieher stellt.
Szenische und dialogische Bilderbuchbetrachtung
Beide Formen bilden keine Gegensätze, sondern können miteinander kombiniert werden. So könnte z. B. auch in den ‚Freunde‘ Büchern von Helme Heine (2004) Johnny Mauser über die Kinder zu Wort kommen. Man muss nur darauf achten, dass man dann wieder den Bogen zur Geschichte zurückfindet, oder aber es gibt sich daraus ein anderes Ende. Das kann sehr schön sein, auch für den Erwachsenen, der dabei selbst kreativ werden und neue Seiten an sich entdecken kann.
Literaturverzeichnis
Malaguzzi, Loris (2002): Hundert Sprachen hat das Kind. Berlin: Luchterhand.
Heine, H. (2004): Zum Glück gibt's Freunde: die schönsten Abenteuer von Franz von Hahn, Johnny Mauser und dem dicken Waldemar in einem Band (Vol. 1057). Weinheim: Gulliver von Beltz & Gelberg.
Piaget, Jean (1975): Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart: Klett.
Autor
Heinz Schlinkert war lange am Alice-Salomon-Berufskolleg in Bochum in der Erzieher/innen-Ausbildung tätig.