Marco Lehmann
In diesem Interview befragen wir Marco Lehmann zum Thema "Neurobiologische Grundlagen für das Lernen in den ersten Jahren".
Wie lernen Kleinkinder aus neurobiologischer Sicht Informationen zu verstehen? (z.B. Sprache, Schrift, Zahlen)
Die Gehirnforschung kann immer genauer identifizieren, welche Bereiche für welche Aufgaben im Gehirn zuständig sind. Allerdings kann man bisher nicht feststellen, dass gerade für komplexe Lernleistungen ein bestimmtes Areal zuständig ist. Hier kommt es auf das Zusammenspiel mehrerer Bereiche und Areale an. Das Erlernen der Sprache ist solch ein komplexer Lernvorgang. Sprechen und Verstehen sind komplexe Prozesse, die viel Platz im Gehirn einnehmen.
Die linke Hemisphäre ist sprachdominant ab etwa einem Alter von drei Jahren, vorher gibt es eine beidseitige Aktivierung neuronaler Muster bei der Verarbeitung von Sprache. Das Broca-Areal ist für die grammatikalische Informationsverarbeitung und die Sprachproduktion zuständig. Und das Wernicke-Areal für die semantische Informationsverarbeitung und das Sprachverstehen. Das Broca-Areal liegt auf der Seite der linken Schläfe und das Wernicke-Areal hinter dem linken Ohr. Ab dem zweiten Lebensjahr sind interne Repräsentationen zunächst bildhaft, konkret und anschaulich, nehmen aber allmählich immer mehr Symbolelemente in sich auf und weichen damit immer stärker von ihrem realen Vorbild ab. Voraussetzung hierfür sind Wiederholungen, die in bestimmten neuronalen Strukturen und Schaltungen in der Großhirnrinde abgespeichert werden. Dieses erfolgt zwischen dem 15. und 18. Lebensmonat. Im Laufe des 2. Lebensjahres zeigen Kinder oft Interesse an aller Art Bildern.
Mit ca. zwei Jahren geht es um das Wiedererkennen vertrauter Objekte. Schaut ein Kind wechselseitig ein Objekt oder auch eine Person oder Situation an, spricht man von Triangulierung oder triangulärem Blickkontakt. Der Blick des Kindes bildet eine Triangel mit den Punkten Kind-Objekt-Bezugsperson. Es liegt etwa ein Ball auf dem Boden. Das Kind schaut zu dem Ball, danach zu der Bezugsperson, dann wieder zum Ball und wieder zur Bezugsperson. Diese kindliche Initiative ist eine Aufforderung zu reagieren. Um den Spracherwerb zu fördern, sollte die Bezugsperson den Ball benennen und immer wieder den Begriff „Ball“ wiederholen. Durch das Benennen und Wiederholen verstärkt sie den Aufbau des Wortschatzes.
Bei neuem Wissen entstehen neue Nervenzellen, Verbindungen und die Informationen werden gespeichert. Lernprozesse bei Kindern laufen in den ersten sechs Jahren rasant ab, denn manche Bereiche im Gehirn sind in dieser Zeit besonders offen für Veränderungen. Die Nervenzellenverbindungen wuchern nur so, deswegen lernen Kinder so schnell sprechen. Hierfür brauchen sie aber auch ein sprechendes Umfeld. Die Nervenzellenverbindungen müssen trainiert werden. Wenn das nicht der Fall ist, verkümmern sie.
Die Zeitspanne der ersten sechs Jahre eines Menschen wird deshalb als sensible Phase der Lernentwicklung bezeichnet. Je mehr sinnlich wahrnehmbare Erfahrungen Kinder in der sensiblen Phase der Lernentwicklung machen, desto stärker wachsen die Gehirnzellen und desto besser können Kinder lernen. Das bedeutet, dass Kompetenzen nicht dadurch gefördert werden, dass man sie in Trainingseinheiten übt. Vielmehr brauchen insbesondere Kinder vielfältige Gelegenheiten, in denen sie sich immer neu bilden können. (Gerald Hüther) „Eine entscheidende Rolle für das subjektive Erleben von Sinneseindrücken spielt die Dauer der Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Reize. Das sinnlich Wahrgenommene erhält dadurch mehr oder weniger an Bedeutung“ (Malaizier/Stotkötter 2018: 12).
Hintergrundinformationen:
Zahlen, Daten und Fakten zum Gehirn
Das Gehirn hat einen größeren Teil, das Großhirn, und einen kleineren, härteren, welcher sich hinter dem Großhirn verbirgt, das Kleinhirn. Die zwei zusammen wiegen bei uns Menschen ca. 1,5 Kilogramm. Das Gehirn besteht aus Nervenzellen. Es sind ca. 100 Milliarden Stück. Die Nervenzellen sind über ihre Schaltstellen, über Synapsen, verbunden. Im Gehirn gibt es ca. 100 Billionen Synapsen, d.h. ein Kubikmillimeter Gehirn enthält etwa eine Milliarde Synapsen. Die Anzahl der Synapsen verzwanzigfacht sich in den ersten Lebensmonaten erfahrungsbedingt durch die Anregungen, die ein Säugling aus seiner Umgebung erhält, auf mehr als 1.000 Billionen im achten Lebensmonat. Nicht benötigte Synapsen sterben wieder ab, im Sinne eines Auf- und Abbaus.
Das Gehirn leistet regelrecht Schwerstarbeit und verbraucht in den ersten Lebensjahren mehr als doppelt so viel Energie wie ein Erwachsenengehirn. Obwohl das Gehirn nur etwa 2 Prozent der gesamten Körpermasse ausmacht, benötigt es 20 Prozent des Sauerstoffes und 25 Prozent der Glukose im Körper. Bei einem Kind arbeitet das Gehirn doppelt so viel. Dementsprechend benötigt es auch fast doppelt so viel Glukose. Es besitzt kaum Speicherkapazität für Sauerstoff und Energie und muss diesbezüglich kontinuierlich mit Blut versorgt werden.
"Bei einem Säugling wachsen nicht nur Neuronen und Synapsen rasant, sondern auch das Gewicht des Gehirns nimmt rasch zu: von 300 Gramm bei der Geburt über 750 Gramm am Ende des 1. Lebensjahres bis zu 1.300 Gramm im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht. Die im dritten Lebensjahr erreichte Anzahl von Synapsen bleibt bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts relativ konstant. Bis zum Jugendalter wird dann rund die Hälfte der Synapsen wieder abgebaut, bis die für Erwachsene typische Anzahl von 100 Billionen Synapsen erreicht ist." (Textor 2010, o.S.)
Welche Auswirkungen haben Bindungen auf die Gehirnentwicklung von Kindern?
Wächst ein Kind in einer Familie auf, die mit einem differenzierten Fürsorgesystem auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert und das Kind entsprechend Geborgenheit und Sicherheit erfährt, so können durch diese positiven Erfahrungen Verschaltungen im Gehirn des Kindes gebahnt und gefestigt werden. „Wie bereits erwähnt gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem kleinkindlichen und dem erwachsenen Bindungstyp, wobei Letzterer auch die Art und Weise einschließt, wie man sich gegenüber den eigenen Kindern bindungsmäßig verhält“ (Roth 2015: 80).
Aus diesem Grund sind intensive frühkindliche Erfahrungen für die Vernetzung von Nervenbahnen im Gehirn bedeutsam für die weitere Entwicklung. „In der zuletzt entwickelten Hirnregion, dem Präfrontalkortex, wird das Maximum der Nervenzellen Verschaltungen erst im zweiten Lebensjahr erreicht. Wird der Ablauf dieser Reifungsprozesse gestört, etwa durch einen Mangel an emotionaler Zuwendung, an Aufmerksamkeit oder durch Überforderung, dann wirkt sich diese Störung nachhaltig auf alle folgenden Reifungsschritte in den Hirnregionen aus, die von dieser Störung betroffen sind“ (Hüther/Nitsch 2008, S. 52). Im limbischen System werden alle Reize zu Emotionen, Gefühlen und inneren Bildern verarbeitet. Jede positive Bindungs- und Beziehungserfahrung schüttet im limbischen System das sogenannte Bindungshormon „Oxytocin“ aus. Das Gehirn wird praktisch mit positiven Gefühlen „gedüngt“ und es entsteht ein inneres Skript, indem ein Kind diese positiven Erfahrungen abspeichert.
Dabei benötigt es viele von diesen positiven Bindungserfahrungen, um eine eigene Empathiefähigkeit zu entwickeln: „Die frühe Bindungsbeziehung bildet die Grundlage dafür, dass die tief im Inneren des Gehirns erzeugten Emotionen vom Kind identifiziert und beschrieben werden können und das Kind lernt, mit anderen mitzufühlen“(Strüber 2017: 127). Durch diese ersten intensiven Bindungserfahrungen ist die Bindung bis zu der Hauptbezugsperson oder der primären Bindungsperson ins Erwachsenenleben gespeichert.
Im Gegensatz zu Wertschätzung, liebevoller Zuwendung und Ansprache nimmt ein Kind jede Ermahnung, Maßregelung, Bewertung persönlich. Jede verbale Attacke auf das Kind bedeutet aus Sicht des Kindes ein Kämpfen um die eigene Identität, die persönliche Integrität. Stresshormone werden im limbischen System ausgeschüttet und es entsteht eine massive Spannung. Der bereits vorhandene innerpsychische Druck steigt signifikant. Der Alltag im Umgang mit Kindern ist mit Bewertungen durchzogen: Kann schon, kann noch nicht, könnt ihr nicht ruhig sein, ihr seid schön brav, du malst schön, sei nicht so frech, sei nicht so wild, das ist gemeint. Das Verhalten des Kindes wird mit der Persönlichkeit gleichgesetzt. Für das Selbstwertgefühl des Kindes allerdings ist jede Bewertung auch eine Abwertung!
Wie entwickelt sich die Persönlichkeit eines Kleinkindes in den ersten drei Lebensjahren?
„Die vorgeburtliche Prägung des Temperaments und die Bindungserfahrungen formen gemeinsam die Hirnentwicklung und hierdurch die kindliche Persönlichkeit“ (Strüber 2017: 158). Die Prägung durch das Temperament hat entscheidenden Einfluss auf die kindliche Persönlichkeit und auch auf die Persönlichkeit als Erwachsener. In einer großangelegten Studie wurden 16 Wochen alte Säuglinge mit quietschbunten Spielzeugen bespielt. In einem zweiten Schritt wurden ihnen ihre Aufnahmen vorgespielt. 20 Prozent der Säuglinge reagierten gestresst, beispielsweise mit Weinen und motorischer Unruhe. 40 Prozent der Säuglinge dagegen blieben entspannt oder reagierten zumindest nicht negativ auf die Situation. Die Längsschnittuntersuchungen ergaben, dass die 20 Prozent der Säuglinge, die im Kindesalter ängstlicher und gehemmter waren, als Erwachsene häufiger Angststörungen entwickelten (vgl. Strüber 2017: 160).
Es gibt demnach Säuglinge, die ein Temperament haben, welches eine sichere Bindungsbeziehung von vornherein erschwert. Die Mutter kann ein sehr fürsorgliches und feinfühliges Verhalten zeigen und sich sehr vorbildlich um ihr Kind kümmern, und dennoch gibt es Kinder, die reizbarer und leichter überfordert sind. Dieses hängt unmittelbar mit den Stoffen wie Serotonin, Dopamin, Acetylcholin, Noradrenalin, Oxytocin und weiteren zusammen, die das Gefühlsleben eines Kindes beeinflussen und somit auch sein Verhalten. Kinder mit einem schwierigen Temperament benötigen noch viel mehr eine liebevolle und feinfühlige Person, die ihnen bei der Regulation ihres Stresszustandes zur Seite steht (vgl. Strüber 2017: 163). Weiterhin haben verschiedene Langzeitstudien ergeben, dass eine sichere Bindung den Kindern soziale Kompetenz vermittelt und aus ihnen unabhängige und selbstdenkende, starke Persönlichkeiten macht (vgl. Strüber 2017: 158).
Lernen findet durch ganzheitliches Erleben statt, indem Kinder persönliche Beziehungen zu Dingen, Menschen und Vorgängen aufbauen. Kinder lernen in Beziehungen! Kinder benötigen zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit vor allem Erwachsene mit einer hohen sozialen und emotionalen Kompetenz: „Einem Baby wird gerne die Rassel zum Spielen, einem Kleinkind werden bunte Klötze, einem Kindergartenkind farbige Stifte in die Hand gedrückt – Eltern, Erzieher und Lehrer beeinflussen entscheidend, wie und wofür ein Kind sein Gehirn benutzt“ (Hüther/Nitsch 2010: 19). Daneben benötigen Kinder auch Freiräume, um selbst Erfahrungen machen zu können. „Kein anderes Lebewesen kommt mit einem derart offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen stärker gestaltbarem Gehirn zur Welt wie der Mensch“ (Hüther/Nitsch 2010: 19). Aus diesem Grund brauchen Kinder in den ersten Lebensjahren die Möglichkeit und das Vertrauen in ihre Fähigkeiten, um ihren angeborenen Gestaltungswillen ausleben zu können. „Wenn ein Kind zu wenig Gelegenheit hat, stark machende Erfahrungen zu sammeln, können sich die im Gehirn angelegten Möglichkeiten nicht gut entfalten“ (Hüther/Nitsch 2010: 19). Bezugspersonen sollten aus diesem Grund dem Kind viele verschiedene Anregungen bieten. Aus neurobiologischer Sicht können Kinder am besten lernen und zu einer eigenen Persönlichkeit heranwachsen, wenn:
1. „etwas unter die Haut geht“, es sie „berührt“.
2. das Erlebte „sinnhaft“ ist.
3. etwas „erfahrungsorientiert“ ist. Learning by doing! (vgl. Gerald Hüther)
Treffen alle Komponenten zu, werden im limbischen System, dem emotionalen Zentrum im Gehirn, die meisten Synapsen aktiviert und es werden Botenstoffe ausgeschüttet, die dem Kind ein gutes Gefühl geben. Vielfältige Verschaltungsmuster werden hierdurch im Gehirn gebildet. Neben den Anregungen von außen, ist auch der innere Antrieb für die Verknüpfung von Nervenzellen und die Stabilisierung von Verschaltungen bedeutsam. Mit den erlebten Erfahrungen kann ein Kind selbst entscheiden, was es interessiert, und kann gemachte Lernerfahrungen mit bereits abgespeichertem Wissen verknüpfen.
„Verfolgt man die Eigenheiten von Kindern langfristig, so wird deutlich, dass die jeweiligen Merkmale ab dem Vorschulalter stabil werden – dann, wenn Bindungsbeziehungen die Eigenschaften des Temperaments abgeschwächt oder verstärkt haben und wenn im Gehirn charakteristische Verbindungen zwischen den Nervenzellen und den verschiedenen Hirnbereichen der limbischen Eben etabliert sind. Dann entsteht die stabile Persönlichkeit“ (Strüber 2017: 178).
Literatur
Hüther, Gerald/Nitsch, Cornelia (2008): Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. Gräfe und unzer Verlag, GmbH: München.
Lohaus, Arnold/ Vierhaus, Marc (2015): Entwicklungspsychologie. Springer-Verlag: Berlin Heidelberg.
Roth, Gerhard (2015): Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta: Stuttgart.
Strüber, Nicole (2017): Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta. Stuttgart.
Malaizier/Stotkötter (2018): „Fünfter, sechster, siebter Sinn – Dem Spüren auf der Spur“ in „Ästhetische Bildung – Sinnliche Wahrnehmung“ Fachzeitschrift Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS).