Aus: Mariele Diekhof: Die Handpuppe als Medium. Broschüre, Eigenverlag
Mariele Diekhof
Mich faszinierten schon immer Menschen mit ganz besonderen Leidenschaften und Interessen. Mein Vater zum Beispiel, knapp 75 Jahre alt, liebt Hühner über alles. Eine große Leidenschaft von ihm, solange ich zurückdenken kann. Der Hühnerstall hinten im Garten ist sein ganzer Stolz. Den hat er natürlich selbst gebaut, so mit weißem Strukturputz, kleinen Fenstern und Blumenkästen. Die Hühner können frei entscheiden, wann sie rausgehen und wann sie es sich auf der Stange oder im Nest gemütlich machen wollen. Draußen im Gehege hat mein Vater ihnen aus Ästen und Baumstämmen diverse Klettermöglichkeiten gebaut.
Natürlich kennt sich mein Vater ganz genau aus mit Hühnern, und es gibt diesbezüglich wohl keine Frage, die er nicht beantworten könnte. Seine Begeisterung für Hühner hat ihn zum Fachmann werden lassen. Schon als kleiner Junge durfte er seinem Vater bei der Pflege und Aufzucht von Hühnern behilflich sein. Irgendwann entwickelte sich dann die Leidenschaft und sie hielt bis heute an...
Auch wenn ich mich wenig für Hühner interessiere, hat er meine volle Bewunderung. Wie alle Menschen, die für etwas "brennen", die sich interessieren, sich mit ungewöhnlichen oder gewöhnlichen Dingen auseinandersetzen und sich dadurch auszeichnen und weiterentwickeln.
Ich kenne einen Jungen (5 J.) aus meinem Bekanntenkreis, der sich für nichts so sehr interessiert wie für Spinnen. Christian kennt zahlreiche Spinnen mit Namen, weiß, wie sie leben, was sie zum Fressen benötigen und ob sie für Menschen gefährlich sind. In seinem Zimmer hat er eine kleine Bibliothek, aus zahlreichen Spinnenfachbüchern zusammen gestellt. Seine Mutter hat ihm mittlerweile das Lesen beigebracht, da er immer wieder Buchstaben erklärt haben wollte. Dadurch konnte er sich dann noch mehr Wissen aus seinen Büchern aneignen. An den Wänden in seinem Zimmer hängen seine gemalten Spinnenbilder.
Christian, ansonsten ein eher etwas zurückhaltender Junge, wird immer ziemlich lebhaft und kompetent, wenn sich jemand mit ihm über Spinnen unterhält. Da kann ihm so schnell keiner was vormachen. Klar, dass dieser Junge durch sein Fachwissen ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln konnte und in seinem Freundeskreis anerkannt wird. Das wird sicher auch dann noch der Fall sein, wenn sein Interesse an der Spinnenwelt mal nachlässt oder sich auf andere Bereiche verlagert.
Es spielt nur eine untergeordnete Rolle, wofür sich große wie kleine Menschen interessieren und welche Leidenschaften sie entwickeln. Ob es bestimmte Tiere sind, die Herzen höher schlagen lassen, oder Pflanzen, Länder, Medien, Fahrzeuge, Sport, Naturwissenschaften, Musik ... Egal!
Die Freude am Erwerben von Wissen und Können beginnt erst dann, wenn das Interesse geweckt ist.
Die Kita als Labor
Erzieher/innen wissen, dass Kinder sich schnell für etwas begeistern. Sie haben Freude am Entdecken, Forschen und Experimentieren. Kitas, die den Kindern ein großes, interessantes Entdeckungsfeld zur Verfügung stellen, unterstützen dadurch den Selbstbildungsprozess der Kinder. Es gelingt der Erzieherin sicher leichter, z.B. Freude am Experimentieren, an Naturwissenschaften zu wecken, wenn es in der Kita ein kleines Labor mit den entsprechenden Materialien gibt und sie die Kinder beim Ausprobieren unterstützt.
Die Freude am kreativen Gestalten wird erfolgreicher geweckt und gefördert, wenn den Kindern ein gut ausgerüstetes und strukturiertes Atelier zur Verfügung steht. Wenn neben den Kunstwerken der Kinder Poster oder Kunstkarten berühmter Gemälde an der Wand hängen, besteht die Chance, Interesse für die Werke berühmter Maler/innen zu wecken.
Ich habe z.B. vor vielen Jahren bei Frederic (damals 4,5 Jahre) starkes Interesse für den Maler Vincent van Gogh geweckt. Die Bilder eines ausgedienten Jahreskalenders mit Werken von van Gogh wurden von mir im Atelier in Kinderhöhe an die Wand gehängt. Frederic interessierte sich sehr dafür; besonders das Bild mit dem Bett darauf (Vincents Schlafzimmer in Arles) faszinierte ihn. Aus dem Interesse heraus entwickelte sich ein langfristiges "Van Gogh-Projekt", bei dem viele Kinder mitwirkten. Von Frederics Eltern erfuhr ich Jahre später, dass sich bei ihrem Sohn eine richtige Van Gogh-Leidenschaft entwickelt hat. Zum 9. Geburtstag wünschte er sich einen Besuch in Holland, um einmal einen echten Van Gogh im Museum zu sehen. Ist das nicht phantastisch?
Die Lust der Kinder am Bauen und Konstruieren zu wecken, kann auch nur dann gelingen, wenn vielseitige und genügend Baumaterialien zum Spielen angeboten werden, wenn Zeit und Raum vorhanden sind und wenn die Kinder inspiriert werden. Zu Experten berühmter Bauwerke können die Kleinen eher werden, wenn wir den Anstoß dazu geben und beispielsweise große Bilder solcher Bauwerke in Kindeshöhe aufhängen (Turm von Pisa, Brandenburger Tor, Eifelturm, Hamburger Michel etc.). Ganz bestimmt wird dadurch bei einigen Kindern das Interesse an den Bauwerken geweckt, und gemeinsam machen wir uns schlau und suchen nach Antworten auf die dadurch entstehenden Fragen (z.B. in der Bibliothek, im Internet etc.):
- Warum ist der Turm von Pisa schief?
- Wer hat das Brandenburger Tor gebaut?
- Wie hoch ist der Eifelturm?
- In welcher Hauptstadt steht der Eifelturm?
- Wie heißt das höchste Gebäude der Welt?
- etc.
Nur wer als Erzieher/in selbst offen und neugierig ist, kann bei den Kindern Interessen und vielleicht auch Leidenschaften wecken.
Dies ist eine wichtige Aussage. Es reicht nicht, den Kindern ausschließlich ein großes, kindgerechtes Entdeckungsfeld zur Verfügung zu stellen. Das ist zwar eine gute Basis zum Spielen, Forschen, Entdecken und Lernen. Aber Prozesse, die in Gang gesetzt werden sollen, benötigen mehr:
Kinder brauchen Erzieher/innen, die begleiten, anspornen und neugierig sind und dabei eigene Begeisterung versprühen.
Jede Erzieherin sollte sich selbst und ihr Tun dann und wann kritisch betrachten und sich fragen, ob sie sich (noch) begeistern kann, für die kleinen und großen Dinge des Alltags, ob sie noch zum Staunen fähig ist und wie groß ihre Wissbegierde ausgeprägt ist.
Eine leidenschaftslose Erzieherin bremst den Prozess des Kindes, sich durch geweckte Interessen zum Fachexperten zu entwickeln!
Überzeugungsarbeit
Die Rolle des Erziehers wird in der Öffentlichkeit oftmals unterschätzt. Das liegt meines Erachtens auch daran, dass wir uns schwer damit tun, unsere pädagogische Arbeit transparent zu machen und unser Tun professionell zu begründen. Kita-Eltern entdecken diese Schwäche ziemlich schnell, und schon mancher Konflikt ist dadurch entstanden, dass wir den teils überhöhten Ansprüchen der Eltern nicht gerecht werden.
Nach der Pisa-Studie sind die Erwartungen vieler Kita-Eltern an die pädagogische Arbeit der Erzieherinnen, aber auch an die Leistungen ihrer Kinder, panisch gestiegen. Überall wird von Bildung gesprochen, von Bildungsprozessen, Bildungsbereichen, Bildungsprogrammen. Die Kindertagesstätten werden nun endlich auch in der breiten Öffentlichkeit als Bildungseinrichtung wahrgenommen.
Konflikte entstehen dadurch, dass Eltern oftmals eine andere Vorstellung davon haben, wie Bildung funktioniert, als die Erzieher/innen.
Meine Erfahrungen zeigen, dass viele Eltern begeistert sind, wenn ihre Kleinen nach einem Kita-Tag etwas "Gebasteltes" vorweisen können. Immerhin ist das für sie ein Beweis, dass ihr Kind "etwas gemacht" hat. Jede Erzieherin kennt sicher den Satz: Hast du heute wieder nichts gemacht, hast du nur gespielt? Diesen Satz habe ich in meiner fast 20-jährigen Berufstätigkeit immer wieder gehört, auf dem Land ebenso wie in der Großstadt-Kita.
Jede Erzieherin weiß, dass Spielen gleichbedeutend mit Lernen zu sehen ist, aber wie sollen wir das einleuchtend den besorgten Eltern vermitteln? Genau das ist nämlich notwendig! Und da gibt es unzählige Möglichkeiten...
Das alles schreit nach Aufklärung, nach Auseinandersetzungen, nach Austausch zwischen Eltern, die ja Experten ihrer eigenen Kinder sind, und den Erzieher/innen.
Nur wenn Erzieher/innen die Kompetenzen besitzen, ihre pädagogische Arbeit professionell zu begründen, ihre Ziele darzustellen und Wege dorthin zu beschreiben, nur dann werden sie auch von den Eltern und der Öffentlichkeit ernst genommen.
Und nur dann sind sie offen für die Ängste der Eltern, bezüglich der leistungsorientierten Zukunft ihrer Kinder. Vertrauen und gegenseitige Achtung wachsen. Und erst dann wird es weniger Konflikte zwischen Team und Eltern geben, zum Wohl der Kinder.
Ich möchte alle Teams ermuntern, sich in Dienstbesprechungen mit dieser Thematik auseinander zu setzen: Gehen Sie der Frage nach, inwieweit die pädagogische und organisatorische Arbeit transparent gemacht wird. Wie professionell wird sie dargestellt? Wie wird begründet, dass manchen Anforderungen von Eltern nicht nachgegangen werden kann, weil dies pädagogisch vom Team nicht zu vertreten wäre? (z.B. der Wunsch mancher Eltern, durch so genannte "Arbeitsblätter" die Freude des Kindes am Lernen zu wecken oder gar Wissen zu vermitteln? Haben wir nicht bessere Alternativen, um die Lernfreude der Kinder wecken?)
Erzieher/innen, Eltern, der Träger und die Öffentlichkeit - in einem Punkt sind sich alle einig: Alle wollen, dass die Kinder in der Kita Freude am Lernen entdecken und Wissen und Können erwerben.
Interessante Spielräume, begeisterungsfähige und offene Erzieher/innen, die wissen, was sie tun und das auch beschreiben können, sind die besten Grundvoraussetzungen, um Lernprozesse der Kinder in Gang zu setzen und Leidenschaften für bestimmte Themen zu wecken.
Mittel und Methoden
Zur Verwirklichung der hier skizzierten Ziele müssen wir zum ersten bestimmte Anforderungen an die räumlichen Voraussetzungen stellen. Um hier wirklich ideale Bedingungen zu schaffen, sind oftmals radikale Veränderungen der bestehenden Raumnutzungen notwendig!
Zum zweiten sind die Erzieher/innen aufgefordert, sich Methoden zur Unterstützung der kindlichen Wissbegierde (im obigen Sinne) anzueignen. Eine sehr wirksame Methode ist der Einsatz von Handpuppen.
Zu diesen beiden Themen werde ich im Online-Handbuch "Kindergartenpädagogik" zwei weitere Artikel schreiben.
Anmerkung
Dieser Artikel ist aus dem Vorwort zu einer Boschüre "Einsatz von Handpuppen" entstanden. Die Broschüre ist bei der Autorin zu erwerben. Sie gibt seit zwei Jahren Seminare zu verschiedenen Themen der Kindergartenpädagogik. Näheres hierzu - und auch zu den Broschüren - auf der Homepage ihres Verlags: http://www.kitabuch.de/