Nadine Beier und Nicole Hoffmann
Wozu Interkulturelle Kompetenz?
Interkulturelle Kompetenz ist nicht nur für die pädagogische Arbeit wichtig, sondern betrifft alle Menschen in unserer Gesellschaft, da Europa, und damit auch Deutschland, von einer kulturell vielfältigen Gemeinschaft geprägt ist. So kann interkulturelle Kompetenz als eine Basiskompetenz gesehen werden, die jedes Kind und jeder Erwachsener für ein selbstbestimmtes Leben und friedliches Miteinander benötigen.
Ioanna Zacharaki (2009) beschreibt verschiedene Ebenen interkultureller Kompetenz, die globale, gesellschaftliche, institutionelle, Wir-, Sach- und Ich- Ebene. Mit globaler Ebene meint sie die allmähliche Entwicklung hin zu einer Weltgesellschaft bedingt durch die Globalisierung. Staatliche Grenzen heben sich auf und Migration wird hierdurch erleichtert. Dies zeigt sich auch in einer hohen kulturellen Vielfalt, so auch in der BRD. Dieses Phänomen spiegelt sich in der Kindergartengruppe wider. Auch hier ist es wichtig, "dass sich pädagogisch Handelnde dieser Eingebundenheit aller in die Weltgesellschaft bewusst sind" (Zacharaki 2009, S. 21).
Die gesellschaftliche Ebene interkultureller Kompetenz beinhaltet ökonomische, rechtliche, politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten einer Gesellschaft. Diese zu kennen und sich über die eigene Teilhabemöglichkeit an diesen bewusst zu sein, wie beispielsweise am Gestaltungsprozess eines vereinten Europas durch Europawahlen, ist für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bedeutend. Die Verantwortung hierfür zu übernehmen ist einfacher, wenn Kinder von Anfang an lernen, mit kultureller Vielfalt umzugehen. Deshalb stehen "Institutionen in der Einwanderungsgesellschaft (...) vor neuen Herausforderungen. Unterschiedliche Anforderungsprofile sind hier gefragt. Arbeitskonzepte sind je nach Aufgabenspektrum der Einrichtung und dem Bedarf der Zielgruppen anzupassen" (Zacharaki 2009, S. 22).
Diese institutionelle Ebene betrifft damit auch den Elementarbereich. Ebenso die Sachebene. Hierbei ist es wichtig, Kenntnisse über die Hintergründe von Migration einzuholen, um so Verständnis für die Situation von Migranten im Allgemeinen und von Kindern und ihren Familien im Besonderen zu entwickeln. Bezogen auf die pädagogische Praxis wird so vielleicht ein erster Eindruck revidiert, indem z.B. klar wird, dass die Familie eines Kindes mit nicht deutschem Ursprung bereits in vierter Generation in Deutschland lebt, oder ein vermeintlich deutsches Kind andere Wurzeln hat. So macht es auch einen Unterschied in der Zusammenarbeit mit Familien, ob eine Familie in Deutschland eine neue Heimat sieht oder nur ein Wohnen und Arbeiten auf Zeit. Zudem sollte man sich darüber bewusst sein, dass es möglich ist, dass sich eine neu eingewanderte Familie in einer besonderen ökonomischen, politischen, rechtlichen und sozialen Situation befinden kann.
Mit Ich-Ebene meint Zacharaki (2009) vor allem eine selbstreflexive Haltung, die neben der Reflexion von "eigenen kulturellen Prägungen", Empathie, Wertschätzung und Echtheit beinhaltet (Zacharaki 2009, S. 23). Die Wir-Ebene berücksichtigt alle sozialen Kompetenzen. Diese zugrunde liegenden Kompetenzen, von Zacharaki (2009) als Ich- und Wir- Ebene bezeichnet, stellt Baumer (2003) in seinem "Handbuch Interkulturelle Kompetenz" ausführlich dar.
Unserer Meinung nach sind die Ich- und Wir-Ebene Grundlage des sozialen Miteinanders und Basis für die pädagogische Arbeit im Kindergarten. Deshalb werden wir im Folgenden näher darauf eingehen. Doch zunächst soll darauf aufmerksam gemacht werden, welche Rolle interkulturelle Kompetenz im Kindergarten spielt.
Wozu interkulturelle Erziehung im Kindergarten?
Wir lernen in frühester Kindheit kulturelle Gegebenheiten der eigenen Familie kennen und übernehmen diese Muster teilweise unbewusst. So lernen beispielsweise viele von uns sich zur Begrüßung die Hand zu geben, andere wiederum bevorzugen es, sich zu umarmen oder sich auf die Wange zu küssen. Dieses ist nicht ausschließlich von den Gepflogenheiten einer kulturellen Region abhängig. Zwischen den Familien der gleichen Nationalität gibt es mitunter beachtliche familienkulturelle Unterschiede, so beispielsweise das Bestehen oder Nicht-Bestehen des Rituals, gemeinsam zu Abend zu essen.
So bewegen wir uns alltäglich in verschiedensten Kulturen. Besonders Kinder fungieren oft als Vermittler zwischen diesen. Sie lernen beispielsweise im Kindergarten die kulturellen Gepflogenheiten der Erzieher/innen, der Einrichtung und der anderen Kinder kennen, und tragen diese Erfahrungen in ihr Familienleben hinein. Und umgekehrt. So kommen pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit mit verschiedensten (Familien-) Kulturen in Kontakt. Diese kulturelle Vielfalt spiegelt sich in der Interaktion und Kommunikation wider. Aus diesem Grunde ist es wichtig, sich mit der eigenen Kultur als auch mit anderen kulturellen Gewohnheiten auseinanderzusetzen. Militzer et al. (2002, S. 16) schreiben hierzu:
Über das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturbereichen soll sich eine Situation ergeben, die gegenseitige Lernchancen für alle Beteiligten impliziert und die zum Abbau von Diskriminierung und zum besseren Verständnis untereinander beiträgt.
Interkulturelle Erziehung - soziale Handlungs- und Reflexionskompetenz?
Thomas Baumer schreibt in seinem "Handbuch interkulturelle Kompetenz": "Die Aufgabe der Interkulturellen Pädagogik besteht darin, Chancengleichheit herzustellen und Wege zu einem selbst bestimmten Leben zu eröffnen, indem sie ideologiefrei Differenzen und Gleichheiten sowohl benennt als auch akzeptiert" (Baumer 2003, S. 106).
Hierzu sind Grundqualifikationen sozialen Handelns unabdingbar. Diese sind zum einen wichtig für das eigene Arbeitsverständnis und zum anderen sollten sie den Kindern für ihr zukünftiges selbst bestimmtes Leben in einer multikulturellen Gesellschaft vermittelt werden. Laut Baumer (2003) gehört zu den wichtigsten Kompetenzen die Fähigkeit, mit eigenen Normen und Werten flexibel und der jeweiligen Situation angemessen umzugehen - so beispielsweise die Akzeptanz anderer Ernährungsgewohnheiten der Familien und damit auch der Kinder, wie eine vegetarische oder vegane Lebensweise.
Des Weiteren ist es wichtig, sich der eigenen Rollen bewusst zu sein, diese flexibel einnehmen zu können sowie die Distanz zwischen Emotionalität und Professionalität zu wahren. So hat ein/e Erzieher/in im Elementarbereich sowohl die Funktion des Vorbildes als auch die der Vermittlung von Bildung und Erziehung. Sie/er stellt gerade für jüngere Kinder eine wichtige Bezugsperson dar, die als sichere Basis für die emotionale Entwicklung des Kindes fungiert, ohne in Konkurrenz zu der Funktion der Familie zu treten oder sie sogar ersetzen zu wollen.
Neben dieser Normen- und Rollenflexibilität spielt die Frustrationstoleranz eine entscheidende Rolle. Baumer (2003, S. 108) umschreibt diese als "die Fähigkeit, in einer sozialen Interaktion auszuhalten, dass eigene Ideen oder Wünsche nicht oder nur teilweise durchgesetzt werden können, damit die Gruppe etwas Gemeinsames erreicht". Diese Frustrationstoleranz wird von Kindern vor allem auch in Situationen geübt, in denen es die ungeteilte Aufmerksamkeit des Erziehers/ der Erzieherin wünscht, diese aber nicht bekommt. So ist es für ein Vorschulkind sehr wichtig, die Vorläuferfähigkeit des Bedürfnis- und Belohnungsaufschubs zu erlernen.
Gleichzeitig ist es aber auch sehr wichtig, dass ein Kind die eigenen Bedürfnisse und Gefühle, gleich welcher Art, angemessen ausdrücken und dem Gegenüber vermitteln kann und darf. Hierzu gehört auch, dass jedes Kind sich in der Einrichtung mit seinen eigenen kulturellen Gepflogenheiten wieder finden kann und rundum akzeptiert wird. Diese Bedürfnisrepräsentanz stellt einen wichtigen Punkt bei der Identitätsentwicklung dar.
Als weiteres betont Baumer (2003) die Kompetenz der Konfliktfähigkeit. In der Kindergartengruppe wie auch im Team kommt es im alltäglichen Beisammensein mal mehr, mal weniger zu Reibungen. Hierbei gilt es, "Konflikte auszuhalten, fair auszutragen und zu Lösungen (...) (beizutragen)" (Baumer 2003, S. 107). Dieses müssen Kinder je nach Entwicklungsstand noch lernen. Um diese Fähigkeiten entwickeln zu können ist es wichtig, dass das Fachpersonal bei der Begleitung von Konflikten die kulturellen Besonderheiten aller Beteiligten, einschließlich der eigenen, berücksichtigt. So ergab beispielsweise eine Befragung französischer und amerikanischer Arbeiter in der BRD, dass die Deutschen als direkt in der Kommunikation und stark regelorientiert erlebt werden (Thomas/ Chang 2007, S. 211). Daraus kann man schließen, dass andere Kulturen andere so genannte Kulturstandards haben, die mit den eigenen nicht konform laufen.
Hierbei soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass man Kulturstandards nicht aufgrund der geografischen Herkunft generalisieren kann, da die Lebensgewohnheiten bereits innerhalb einer Familie stark variieren können, so beispielsweise bei der Bedeutung von Pünktlichkeit. Zudem ist es wichtig sich darüber bewusst zu sein, dass unsere Kommunikation, wie auch unsere Wahrnehmung, individuell von unserer eigenen Sozialisation, unserem Wortschatz, unseren Interessen, unserer Gestik und Mimik und anderer paralingualer Merkmale, wie z.B. der Dauer von Sprechpausen, geprägt sind. Durch Sozialisation werden somit Normen, Werte und Gepflogenheiten vermittelt und eigene Weltsichten aufgebaut. Diese Weltorientierungen geben uns Sicherheit im alltäglichen Handeln. Wir greifen unbewusst darauf zurück.
Im Zusammenleben treffen aber auch Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Prägungen aufeinander, so dass es im Interaktionsprozess zu Irritationen aller Beteiligten kommen kann. Irritationen können unterschiedliche Gefühle hervorrufen, da unsere alltäglichen Handlungsmuster nicht mehr greifen. Nun ist es hilfreich, seine Weltorientierungen zu reflektieren und neue Erfahrungen in diese zu integrieren.
Neben dieser Handlungs- und Kommunikationskompetenz ist im zwischenmenschlichen Zusammensein die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz wichtig. So sollte beispielsweise nicht nur, aber insbesondere in Konfliktsituationen eine Balance gefunden werden zwischen der Vertretung des eigenen Standpunktes, der Wahrnehmung der Meinung des Anderen sowie der gleichwertigen Annahme dieser. Diese Fähigkeit ermöglicht es, mit Vielfalt umzugehen, ohne den eigenen Standpunkt aufzugeben.
Baumer (2002, S. 108) fasst die Funktion interkultureller Kompetenz für die erzieherische Praxis wie folgt zusammen: "Interkulturelle Erziehung muss die Erfahrung vermitteln, dass die eigene Kultur und Lebensweise eine unter vielen ist. Es gilt zu lernen, die Gründe oder Motive nachzuvollziehen, die das Verhalten und die Handlungen von Menschen aus anderen Kulturen verständlich machen. Interkulturelle Erziehung muss für Stigmatisierung von ethnischen Gruppen sensibel gemacht werden. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur ist (zudem) für die eigene Identitätsfindung unerlässlich".
Der Erwerb interkultureller Kompetenz ist ein lebenslanger Lernprozess in Auseinandersetzung mit der Umwelt. Interkulturelle Kompetenz kann sich also nicht von heute auf morgen einstellen. Ebenso kann der Mensch nicht in jeder Situation gleich kompetent handeln. Interkulturelle Kompetenz ist ein breites Bündel unterschiedlicher sozialer Fähigkeiten und Fertigkeiten und damit Teil einer allgemeinen sozialen Handlungskompetenz. Jede soziale Situation bietet eine neue Herausforderung für die persönliche und pädagogische Weiterentwicklung und die Möglichkeit, mit Vielfalt umgehen zu lernen.
So kann durch die interkulturelle Begegnung in der Zusammenarbeit mit Kindern und ihren Familien mittels Gegenüberstellung von Eigen und Fremd ein Eigenes und Anderes werden und damit ein Miteinander entstehen! (vgl. Zacharaki 2009, S. 22).
Anmerkung
Der Beitrag basiert auf einem Workshop mit dem Titel "Berge kommen nicht zusammen, aber Menschen - Interkulturalität in der Kita", der von den Autorinnen am 28.05.2010 anlässlich des fünften Studientages für Erzieherinnen zum Thema "Vielfalt im Kindergarten! Unter Dreijährige und Kinder mit Migrationshintergrund" an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, unter der Leitung von Dr. Susanna Roux (Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter) gehalten wurde.
Literatur
Baumer, Thomas: Handbuch Interkulturelle Kompetenz. Zürich: Orell Füssli 2003, S. 76-112.
Militzer, Renate/Fuchs, Ragnhild/Demandewitz, Helga/Houf, Monika: Der Vielfalt Raum geben. Interkulturelle Erziehung in Tageseinrichtungen für Kinder. Münster: Votum 2002.
Thomas, Alexander/Chang, Celine: Interkulturelle Kommunikation. In: Six, Ulrike/Gleich, Uli/Gimmler, Roland (Hg.): Kommunikationspsychologie und Medienpsychologie. Weinheim/Basel: Beltz 2007, S. 209-229.
Zacharaki, Ioanna: Interkulturelle Kompetenz als Bildungsaufgabe im System sozialer Hilfen. In: Zacharaki, Ioanna/Eppenstein, Thomas/Krummacher, Michael (Hg.): Praxishandbuch. Interkulturelle Kompetenz vermitteln, vertiefen, umsetzen. Theorie und Praxis für die Aus- und Weiterbildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 3. Aufl. 2009, S. 15-28.