Claudia Witziok
Häufig ist uns gar nicht bewusst, welch große Bedeutung die interkulturelle Erziehung hat. Dabei bildet diese die Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben, welches sich durch Toleranz, Akzeptanz, Offenheit und Wertschätzung auszeichnet. In der heutigen stark durch Medien beeinflussten Zeit werden Informationen und Meldungen (darunter auch Falschmeldungen) schnell veröffentlicht und verbreitet. Dabei besteht die Gefahr, dass von bestimmten Kulturen stereotypische Bilder entstehen, welche dann auf einzelne Personen übertragen werden. Vorurteile entstehen, werden verstärkt und manifestieren sich. Diese Vorurteile beeinflussen den Umgang mit Menschen: Man geht davon aus, ein Mensch sei Vertreter seiner jeweiligen Kultur, und berücksichtigt dabei kaum, dass jeder Mensch ein Individuum ist und somit auch eine einzigartige individuelle Kultur hat.
In der Literatur findet man viele verschiedene Definitionen zum Begriff der Kultur und ebenso weitere Differenzierungen. Lamm (2017) definiert im "Handbuch Interkulturelle Kompetenz" den Begriff Kultur wie folgt: "Kultur bestimmt, wie wir die Welt sehen und welche Bedeutungen wir unseren Erfahrungen zuschreiben, aber auch wie wir unser Leben in unserer jeweiligen Umgebung gestalten. Somit ist Kultur Alltag und nicht nur Theater oder Kunst. Kultur umfasst auch die Art und Weise, wie wir uns morgens begrüßen, was und wie wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir kommunizieren, unsere Wertvorstellungen und normativen Regeln, was wir für gut und richtig im Umgang mit Kindern halten und wie wir sie fördern und erziehen" (S. 13).
Der vorliegende Artikel fußt auf diesem allumfassenden Kulturbegriff, welcher verschiedene Aspekte einschließt wie Sprache, Gesellschaft, Ausdrucksweise, Religion, Lebensweise, Werte usw. Die Kultur eines Menschen entwickelt und verändert sich im Laufe seines Lebens. Dabei spielt seine Herkunft natürlich eine große Rolle, ist jedoch nicht der einzige Faktor, welcher Einfluss auf die Kultur eines Menschen hat.
Interkulturelle Kompetenz
So kann unsere Einstellung zu dem Thema "interkulturelle Erziehung" einen großen Einfluss auf unser Handeln haben - vor allem als pädagogische Fachkräfte. So ist eine Kindertageseinrichtung ein Ort, an welchem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und zusammenleben. Wie bereit erforscht und bekannt, lernen Kinder zu einem großen Teil über die Nachahmung. Die pädagogische Fachkraft ist dabei ein Vorbild. Somit kommt ihr eine große Rolle zu. Ihre persönliche Haltung bildet die Grundlage für ihr Verhalten. Dazu gehört auch die interkulturelle Kompetenz. Deren Erwerb basiert auf vielen unterschiedlichen Faktoren und führt zur Ausbildung verschiedener Handlungskompetenzen wie beispielsweise der Kommunikationsfähigkeit und der Interaktionskompetenz.
In der Literatur wird interkulturelle Kompetenz häufig in drei Elemente eingeteilt. Im Folgenden werden die drei Elemente anhand von Keller (2013, S. 12 ff.) und Lamm (2017, S. 16 ff.) beschrieben: Kenntnis und Wissen, Haltung und Achtsamkeit sowie Diversität leben. Keller beschreibt das Element Kenntnis und Wissen als Fundament für die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz. Dazu zieht Keller zwei kulturelle Modelle hinzu: das psychologische Autonomie Modell und das Modell der hierarchischen Verbundenheit.
Das Modell der psychologischen Autonomie stellt das Kind als selbstbestimmtes und selbstständiges Mitglied der Gesellschaft in den Vordergrund. Die pädagogische Fachkraft sowie die Eltern verfolgen eine individuums- und kindzentrierte Sichtweise. Das Kind wird als eigenständiges Mitglied der Familie und Gesellschaft betrachtet und hat demnach auch Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeit der Realisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse.
Das Modell der Hierarchischen Verbundenheit stellt die Einbettung des Kindes in eine soziale Gemeinschaft in den Vordergrund. Im Vordergrund steht nicht das Individuum, sondern seine Rolle in der Gesellschaft, in welche es hineingeboren wurde (vgl. Lamm 2017, S. 28). Von den Kindern wird verlangt, den familiären Pflichten mit Respekt und Gehorsam nachzukommen.
Die Modelle weisen unterschiedliche pädagogische Konzepte auf, wobei beim psychologischen Autonomie Modell das Individuum als solches im Vordergrund steht. Durch das Ermöglichen der eigenständigen Persönlichkeitsentwicklung soll das Kind befähigt werden, seine innere Welt mit deren Kognitionen und Emotionen zu entwickeln und seinen Standpunkt zu behaupten. Die pädagogische Fachkraft unterstützt diese Entwicklung aus kindzentrierter Sicht, indem sie z.B. Stärken des Kindes feststellt und diese fördert. Das Modell der hierarchischen Verbundenheit beinhaltet, dass Kindern ein guter Eintritt in die Gesellschaft ermöglicht wird, in der sich das Kind orientieren und seinen Platz finden soll. Die Auseinandersetzung mit und das Wissen über verschiedene kulturelle Modelle sind somit entscheidend für die pädagogische Arbeit.
Unter das Element Haltung und Achtsamkeit fallen beispielsweise die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, das Interesse an und die Neugier für das Fremde sowie die Reflexion von Erlebnissen mit anderen Kulturen, All dies ist essentiell, um interkulturelle Kompetenz zu erwerben (vgl. Keller 2013, S. 17). Dabei ist auch zu reflektieren, ob die jeweilige Person einen Kulturschock erlebt hat. So können negativ behaftete Erfahrungen, die beim Zusammentreffen mit einer neuen Kultur entstehen, aus falschen Vorstellungen herrühren: Wurden beispielsweise vermeintliche kulturelle Merkmale "erdacht", welche sich später nicht bestätigten, kann dies zu einem Kulturschock führen und damit zu einer negativen Erfahrung. Die eigene Haltung wird so auf den Prüfstand gestellt.
Um als pädagogische Fachkraft eine professionelle Haltung entwickeln zu können, ist aber auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Hintergrund nötig (vgl. Lamm 2017, S. 126). So kann ein Bezug zwischen Fremdem und Eigenem nur hergestellt werden, wenn das Fremde als gleichwertig angesehen wird. Dementsprechend sind Handlungsweisen der Kinder aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, um nachvollziehen zu können, aus welchen Impulsen heraus das jeweilige Kind handelt. Dabei ist zu berücksichtigen, ob sich in der vergangenen Zeit Vorurteile gegenüber seinen kulturellen Merkmalen gebildet haben, welche sich in der Bewertung einer Situation durch die pädagogische Fachkraft widerspiegeln.
Die pädagogische Fachkraft sollte generell offen und wertschätzend gegenüber anderen Kulturen handeln und damit sich selbst und anderen achtsam gegenübertreten (vgl. Lamm 2017, S. 18). "In Kindertageseinrichtungen, in denen eine Kultur der aktiven Auseinandersetzung mit dem professionellen Selbstverständnis und der Reflexion pädagogischer Orientierungen im Team gelebt wird, scheint eine theoretisch fundierte Grundhaltung auf, die am konstruktivistischen Lernverständnis ausgerichtet ist. Pädagogische Fachkräfte verstehen sich somit als Entwicklungsbegleiter. Sie orientieren sich an den Bedürfnissen der Kinder" (Sauerhering/ Kiso 2017, S. 130).
Ein weiteres Element der interkulturellen Pädagogik ist die "Diversität" zu leben. Das Konzept des Lebens der Vielfältigkeit bedeutet für die pädagogische Fachkraft, Ressourcen in der Vielfalt zu entdecken und diese zu fördern (vgl. Keller 2013, S. 20). Der Fokus wird nicht auf Probleme oder Defizite gelegt, sondern die pädagogische Arbeit basiert auf dem Prinzip "Stärken stärken und Schwächen schwächen" (Lega Kids, S. 1). Dabei ist es wichtig, unterschiedlichen Handlungsstrategien Raum zu geben sowie pädagogische Strategien verschiedener kultureller Modelle zu integrieren (vgl. Keller 2013, S. 20). "[Die] Vielfalt [ist] eine Chance ... und als wertvolle Ressource für den pädagogischen Alltag, wie für das gesellschaftliche Leben insgesamt," (Keller 2013, S. 22) zu betrachten.
Die interkulturelle Kompetenz wird von Handschuck und Klawe (2006, S. 33) in ihrem Buch "Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit" als Schlüsselkompetenz angesehen. In diesem Zusammenhang betrachten sie fünf zentrale Begriffe: Pluralisierung der Lebenswelten, Migrationsbewegungen, Identitätsdiffusion, (Selbst-) Ethnisierung sowie Risikogesellschaft und Unübersichtlichkeit.
Die Pluralisierung der Lebenswelten bedingt hinsichtlich der interkulturellen Kompetenz, dass man "Landkarten der Bedeutung" entschlüsseln kann. Die vielen Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte implizieren, dass die vielfältigen und unterschiedlichen Ressourcen der Migrant/innen erst einmal entdeckt werden müssen. Aus der häufig auftretenden Identitätsdiffusion resultiert die Bedeutung der Identitätserkennung und -stärkung (biographische Dimensionen der Wirklichkeitsinterpretation). Mit (Selbst-) Ethnisierung wird das Begreifen und Kommunizieren eigener kultureller Funktionen und Motive bezeichnet. Aus Risikogesellschaft und der Unübersichtlichkeit folgt, dass ganz unterschiedliche Muster gedeutet, verstanden und zum Teil auch verändert werden müssen.
Handschuck und Klawe (2006) stellen verschiedene Erfahrungs-, Lern und Übungsprogramme vor, welche unterstützend auf den Erwerb der interkulturellen Kompetenz wirken. Dazu gehören Bausteine, die Begriffe wie Kultur, das Eigene, das Fremde usw. thematisieren. Die interkulturelle Kompetenz umfasst für Handschuck und Klawe (2006) fünf Bereiche: "Achtung vor den Menschrechten, Soziale Gerechtigkeit, Achtung demokratischer Grundregeln, Berücksichtigung der Rechte von Minderheiten, Respekt für die fremde Kultur" (S. 45).
Zusammengefasst stellt sich die interkulturelle Kompetenz als eine Fähigkeit heraus, die über einen langen Prozess hinweg zu erwerben ist - nicht nur während der Ausbildung oder des Studiums. Der Wunsch, Neuem und Fremdem offen zu begegnen, muss vorhanden sein. Ebenso wichtig ist der Erwerb von Hintergrundwissen über verschiedene (Sub-) Kulturen. Dieses stellt das Fundament dar und ermöglicht die Kommunikation mit dem jeweiligen Kind und seinen Eltern. Es ist auch dienlich, um bestimmte Reaktion der Eltern und des Kindes zu verstehen, damit keine vorurteilsbelastete Kategorisierung stattfindet. Vor allem aber stehen die Achtung und Wertschätzung jeder fremden Kultur im Vordergrund.
Interkulturelle Erziehung
Um den Begriff der interkulturellen Erziehung, deren Ziele und Vorstellungen genauer zu beleuchten, ist es sinnvoll, zunächst den allgemeinen Begriff der Erziehung heranzuziehen: Erziehung beschreibt die bewusste und zielorientierte Beeinflussung von Kinder durch ihre Bezugspersonen, wie Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen usw. (vgl. Vollmer 2009, S. 98). "Im Mittelpunkt des Erziehungsgeschehens steht dabei die partnerschaftliche Beziehung zwischen Kind und [Bezugsperson]. Man versteht Erziehung als einen Dialog, der auf wechselseitiger sozialer Wertschätzung beruht" (Vollmer 2009, S. 98). Die in dem für den Bereich der Kindertagesbetreuung geltenden Bundesgesetz (SGB VIII) verankerte Aufgabe der Erziehung beinhaltet die Förderung der Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Person (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII).
Weiterhin unterscheidet Vollmer (2009, S. 99) zwei Bereiche der Erziehung: die intentionale und die funktionale Erziehung. Die intentionale Erziehung beruht auf Kenntnissen, Werten, Haltungen und Fertigkeiten der erziehenden Person, die mittels zielgerichteter Handlungen vermittelt werden. Die funktionale Erziehung findet ohne tatsächliches und bewusstes Agieren einer erziehenden Person statt. Hier erfährt das Kind Erziehung und Beeinflussung durch seine Umwelt (andere Kinder, Medien usw.).
Unter Bezugnahme auf den allgemeinen Erziehungsbegriff wird im Folgenden der Versuch unternommen, den Begriff der interkulturellen Erziehung genauer zu beleuchten und Ziele für dieselbe zu formulieren. Das eigentliche und grundlegende Ziel der interkulturellen Erziehung ist die Inklusion von Kindern mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Die kulturelle Vielfalt wird anerkannt und akzeptiert. Der persönliche kulturelle Hintergrund der Erziehenden muss somit nicht aufgegeben werden; ebenso wenig wird von dem jeweiligen Kind erwartet, sich an eine vorgegebene Normalität anzupassen (vgl. Vollmer 2009, S. 153). Der Brockhaus für Psychologie (2009) formuliert das Ziel der interkulturellen Erziehung wie folgt: "Ziel ist heute ... neben der Integration auch eine Förderung ihrer Identitätsentwicklung, die die jeweilige Herkunftskultur mit einbezieht" (S. 275). Die interkulturelle Erziehung arbeitet auf die Gleichberechtigung aller Kinder hin, vermittelt kulturelle Unterschiede als Normalität und bietet viele Anknüpfungspunkte für die Beschäftigung mit unterschiedlichen (Sub-) Kulturen (vgl. Keller 2013, S. 71).
Um ein allgemeines Zusammenleben in Frieden zu erreichen, sollte die interkulturelle Erziehung global gesehen werden. Dies fordert von allen Menschen eine große Bereitschaft, sich nicht mehr abzugrenzen, Ängste abzulegen und sich auf jeden Menschen individuell einzulassen. Für den Kita-Alltag bedeutet dies, sowohl den Kindern als auch den Eltern sowie den Mitarbeiter/innen ein emphatisches und solidaritätsbewusstes Zusammenleben zu ermöglichen. Kindern und Erwachsenen soll vermittelt werden, dass jeder Mensch gleichermaßen zu behandeln und seine Individualität anzuerkennen ist. Kinder, Eltern und Fachkräfte sollen Neuem und Fremdem offen gegenübertreten, ohne die eigene Kultur eingrenzen oder gar aufgeben zu müssen.
So werden Kindertageseinrichtungen zu einem Ort, an dem jede Kultur offen ausgelebt werden kann. Gerade in unserer diversen Gesellschaft kommt der interkulturellen Erziehung ein essentieller Wert zu. Trotz aller Grenzen und Schwierigkeiten muss sie dem Grundsatz folgen: Jeder Mensch ist durch seine individuelle Kultur, Art und Weise besonders und verdient Anerkennung und Wertschätzung.
Literatur
Der Brockhaus Psychologie. Fühlen, Denken und Verhalten verstehen. Leipzig, Mannheim: Brockhaus, 2. Aufl. 2009
Handschuck, S./Klawe, W.: Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit. Ein Erfahrungs-, Lern-, und Übungsprogramm zum Erwerb interkultureller Kompetenz. Weinheim, München: Juventa, 2. Aufl. 2006
Keller, H.: Interkulturelle Praxis in der Kita. Freiburg: Herder 2013
Lamm, B.: Handbuch Interkulturelle Kompetenz. Kultursensitive Arbeit in der Kita. Freiburg: Herder 2017
Vollmer, K.: Fachwörterbuch für Erzieherinnen und pädagogische Fachkräfte. Freiburg: Herder, 2. Aufl. 2009