Aus: Ingeborg Becker-Textor: Mit Kinderaugen sehen. Wahrnehmungserziehung im Kindergarten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1992, S. 17-42 (leicht bearbeitete Fassung)
Ingeborg Becker-Textor
Wahrnehmung bei Kindern
Für Eltern bzw. Erwachsene überhaupt ist es schwer zu verstehen, dass Kinder ihre Umwelt nicht auf die gleiche Weise wahrnehmen wie sie. Dies wird deutlich, wenn Kinder immer wieder aufgefordert werden, doch etwas Bestimmtes zu sehen, genau hinzuschauen. Kinder aber sehen anders, wählen scheinbar aus, was sie sehen wollen. Ihre Interessenschwerpunkte unterscheiden sich von denen der Erwachsenen. Sie sind wesentlich stärker vom Detail fasziniert oder von scheinbar wertlosen, nebensächlichen Dingen. Was wichtig ist, wird aber meist vom Erwachsenen definiert. Das Kind wird als noch zu klein erachtet, um solch wichtige Entscheidungen zu treffen. Hier beginnt die Ungleichsetzung; der erwachsene Mensch erhebt sich über den kleinen Menschen und unterstellt diesem, dass er quasi minderwertig sei.
Für die kindliche Wahrnehmungsfähigkeit spielt eine Reihe von Faktoren eine ganz wesentliche Rolle: Intelligenz, seelische Reife, in seiner physikalischen und sozialen Umwelt gemachte Erfahrungen. Die Wahrnehmungsfähigkeit am Alter des Kindes festzumachen wäre zu kurz gefasst, denn es kommt wesentlich darauf an, welche Dinge und Ereignisse ihm in seinem Alltagsleben begegnen, vor allem welche ihn ansprechen, seine Neugier und seinen Forscherdrang wecken.
Das Kind überprüft alle Dinge und begnügt sich dabei nicht mit dem reinen Anschauen. Es steckt, insbesondere im frühen Kindesalter, die Dinge in den Mund, bewegt sie, untersucht sie mit seinen Händen. Bald lernt es sprachliche Bezeichnungen für die Gegenstände (Objektbezeichnungen). Wenn das Kind weiß, was die Dinge sind, will es vermehrt wissen, welche Eigenschaften sie haben, was man mit ihnen machen kann.
Wir alle kennen die unendlichen Warum-Fragen. Nie sind die Kinder mit der Antwort zufrieden. Wenn wir Erwachsenen glauben, endlich eine treffende Antwort gefunden zu haben, reagiert das Kind mit einem erneuten Warum. Während wir ihm antworten, ist ihm schon eine neue Frage gekommen.
Versuchen Sie in Ihrem Team einmal das Warum-Spiel. Aus jeder Antwort formuliert der nächste Mitspieler eine neue Warum-Frage. Sie werden feststellen, dass dieses Spiel auch den Erwachsenen herausfordert, ihm Kreativität abverlangt. Es kann losgehen: Warum heißt der Tischler Tischler? Weil er Tische herstellt. Warum stellt er Tische her? Weil die Menschen Tische brauchen. Warum brauchen die Menschen Tische? ...
Das Erkennen der Umwelt beginnt für das Kind mit den Empfindungen, mit der Wahrnehmung. Je reicher diese sind, desto umfangreicher und vielseitiger sind die Kenntnisse von der Umwelt, die es erwirbt.
Mit den Augen sehen - die visuelle Wahrnehmung
Schon das Kind fühlt sich zu auffälligen, interessanten, aber auch unscheinbaren Dingen hingezogen. Es freut sich über glänzende Gegenstände, greift nach farbenprächtigen Blumen.
Das Wesentliche für die visuelle Wahrnehmung sind u. a. die Farbe, die Größe, die Form, die Beweglichkeit der Dinge. Der rote, rollende Ball wird mit den Augen verfolgt, das Kind krabbelt oder läuft hinter ihm her, zeigt seine Freude, wenn es ihn erreicht hat, ihn in Händen hält.
Welchen Gegenständen sich das Kleinkind zuwenden kann, bestimmen die Erwachsenen durch die Objekte, die sie in die Sichtweite des Kindes platzieren bzw. sie direkt für das Kind ausgewählt haben ("vorbereitete Umgebung" im Sinne der Pädagogik Maria Montessoris). Anders wird es, wenn das Kind selbständig gehen kann und sich seine Lebensräume eigenständig erobert. Auch im Kindergartenalter können wir die Umwelt für das Kind vorbereiten, aber nur in einem sogenannten geschützten Raum: Im Kinderzimmer, in der Wohnung, im Gruppenraum des Kindergartens. Auf die öffentliche Umwelt haben wir nur wenig Einfluss.
Unsere Kinder bekommen sehr viel zu sehen, viel zu viel Dinge, Verhaltensweisen, Ereignisse, die sie nicht verstehen, nicht in ihrer Sinnhaftigkeit erkennen oder gar zuordnen können. Was Kinder mit den Augen wahrnehmen, unterscheidet sich von dem, was Erwachsene sehen. Das Detail oder eine sich aus der Wahrnehmung des Details ergebende Fragestellung wird für das Kind bedeutsamer als das Gesamtbild. Wir können das immer wieder überprüfen, wenn wir Kinder fragen: "Was hast du gesehen?" oder wenn wir genau hinhören, was Kinder von sich aus über Gesehenes berichten.
Dinge, die das Kind in der frühen Kindheit umgeben, bleiben auch nicht ohne Einfluss auf die ästhetische Erziehung. Geschmackvolle Möbel, harmonische Farbkombinationen, erste Begegnungen mit der Kunst beeinflussen jedoch nicht nur die visuelle Wahrnehmung. Das Kind nimmt auf, reflektiert das Gesehene - auch wenn es sich nicht verbal äußert (oder noch nicht äußern kann).
Dem "visuellen Schonraum" Kindergarten kommt ganz besondere Bedeutung zu in unserer reizüberfluteten, chaotischen Umwelt. Umso erschreckender ist das Ergebnis einer Umfrage bei 150 Erzieherinnen und Erziehern: 70% konnten ihren Gruppenraum - insbesondere die Ausgestaltung der Wände - nicht beschreiben. "Da hängen Kinderbilder, wahrscheinlich von den Themen der letzten Monate. Heute haben wir Bilder aus Herbstlaub aufgehängt. Was sonst noch da hängt, hm?" Oder: "Von manchen Kinderbildern kann ich mich nicht trennen, sie sind so originell. Warum, weiß ich auch nicht. Mir gefallen sie. Was darauf ist, das weiß ich nicht. Ob die Kinder einen Bezug dazu haben? Darüber habe ich noch nicht nachgedacht!"
Auch das Wie der Ausgestaltung des Lebensumfeldes spielt eine große Rolle für das Sehen des Kindes. Dabei müssen wir vor allem auf die Perspektive von Kindern und Erwachsenen achten bzw. sie unterscheiden. In vielen Kindergärten gibt es Bildleisten an den Wänden, in der Augenhöhe der Erwachsenen oder höher. Gehen Sie einmal in die Hocke und laufen Sie durch den Kindergarten. Wie sieht es da aus mit Ihrer eigenen visuellen Wahrnehmung? Können Sie die Details auf den Bildern noch erkennen? Können Sie sehen, was oben auf dem Regal steht oder den Sommerstrauß auf dem Schrank? Leuchtende Farben. Wollten Sie ihn näher betrachten, so bräuchten Sie eine Leiter oder einen Stuhl. Es ist problematisch für Kinder, in einer Erwachsenenwelt zu sehen. Es wird deutlich, dass allein die unterschiedliche Körpergröße ganz andere visuelle Zugänge zu Dingen bedingt.
Die Fülle dessen, was sichtbar ist, wirkt erdrückend auf Kinder. Wohin sehen? Es wird immer mehr! Das Sich-Einlassen, in Ruhe sehen, schauen und betrachten, wird erschwert durch die Ablenkung, die von den so vielfältigen visuellen Reizen ausgeht. Kinder blättern ein Bilderbuch eilig durch, wollen weitere sehen, leiden unter Konzentrationsmangel. Hier gilt es, neue Wege zu gehen, für Kinder und Erwachsene. Im späteren Teil des Buches will ich versuchen, Ihnen Anregungen zu geben - für die Arbeit im Team, mit den Kindern, vor allem aber auch mit den Eltern.
Die anderen Formen des Sehens: Hören, Tasten, Riechen, Schmecken
In der Kindergruppe wurde ein blindes Kind aufgenommen. Katharina beobachtet Susanne, wie sie aus einem Kasten mit verschiedenen kleinen Holzobjekten alle Holzmännchen heraussucht und vor sich auf den Tisch aufstellt. Ihre Fingerspitzen gleiten über die kleinen Holzobjekte, wählen aus, bringen sie zielgerecht auf die Unterlage.
Katharina: "Susanne, sie sieht mit den Händen! Sie hat alle Männchen gefunden, ohne ihre Augen, sie kann nicht sehen, nicht richtig sehen!" Katharina holt sich auch einen Kasten und bittet die Erzieherin, ihr die Augen zu verbinden. Vorsichtig tastet sie nach dem Kasten und greift hinein. Sie wählt ein Holzobjekt aus und beginnt vorsichtig mit den Fingern zu "sehen". "Ich glaub, es ist ein Pferd." "Zeig mal her", sagt die blinde Susanne, "stimmt, es ist ein Pferd!"
Katharina nimmt die Augenbinde ab, sie will es genau wissen. Es stimmt, sie hat ein Pferd ausgewählt. Mit der Aufnahme von Susanne in die Kindergartengruppe bekommen Tastspiele eine ganz neue Bedeutung. Peter erklärt das "Sehen" von Susanne so: "Sie sieht halt innen drin im Kopf, dass es ein Pferd ist. Ihre Augen können das nicht. Sie stellt sich's halt vor." Ob jeder weiß, was Vorstellung oder innere Vorstellung bedeutet?
Die Entwicklung der Wahrnehmung erfordert eine gute Ausbildung aller Sinne. So kann ein wichtiges Ziel für die Arbeit im Kindergarten sein, die Sinnesschulung zu einer der dominanten Methoden im Rahmen der vorschulischen Erziehung zu machen. Geräusche, Strukturen, Gerüche, ein bestimmter Geschmack stehen im engen Bezug zueinander, führen zu Vorstellungen und Bildern.
Klaus: "Hm, das riecht nach Apfel, und der Apfel, der ist glatt und rund und süß." Nach dieser Beschreibung kann sich auch die blinde Susanne ein Bild vom Apfel machen. Welche Sinneswahrnehmung auf dem "Weg zum Bild" beim einzelnen Kind dominiert, ist abhängig von dessen Entwicklungsstand, Erfahrung und Umgang mit den Dingen sowie der Förderung (Zugänge), die dem Kind in Familie und Kindergarten schon zuteil geworden ist.
Mit allen Sinnen wahrnehmen hilft unseren Kindern, ihre Umwelt zu erfassen, zu differenzieren, in Bildern zu ordnen - Klangbilder, Geruchs- und Geschmacksbilder, Tast- oder Strukturbilder.
"Für die Wahrnehmung von visuellen und akustischen Heizen ist, so will es scheinen, nur jeweils ein Informationskanal vorhanden, nämlich Augen und Ohren. dass dies, so merkwürdig es klingen mag, nicht stimmt, zeigt uns die Erfahrung mit taktilen Wahrnehmungen. Wir erraten einen Gegenstand durch blindes Ertasten nicht zuletzt deshalb, weil wir uns den Gegenstand während des Abtastvorgangs visuell vorstellen" (Oerter 1976).
Wahrnehmungstraining als Fördermethode zur Steigerung kognitiver Leistungen?
Es überrascht nicht, dass Pädagogen, Psychologen und Didaktiker auf verschiedensten Wegen versucht haben, das kindliche Sehen in seiner differenzierten Weise zu trainieren - allerdings ausgerichtet auf kognitive Leistungen. Sie wollen zu einer Steigerung der Intelligenz beitragen oder gar frühzeitig schulische Grundfertigkeiten vermitteln. Schenk-Danzinger berichtet dazu: "Ein Versuch, die Differenzierung der visuellen Wahrnehmung durch ein entsprechendes Training zu beschleunigen, zeigte interessante Ergebnisse Nach 15 Trainingsperioden zur Bilddetailunterscheidung von je 12 bis 15 Minuten Dauer (jedoch nicht an den Bildern, die zur Leistungsprüfung herangezogen wurden) waren die Leistungen dem trainierten Kinder signifikant besser als zu Beginn des Trainings, die einer Kontrollgruppe haben sich nicht so signifikant verändert. Als der Versuch nach drei Monaten wiederholt wurde, waren die Leistungen der trainierten Kinder etwas zurückgegangen, während die Kontrollgruppe gleichgezogen hatte und sich in ihren Leistungen von denen der trainierten Gruppe nicht mehr unterschied."
Kinder müssen also aus sich heraus aufnehmen, wahrnehmen, sehen - und schreiten dann individuell in ihrer Entwicklung voran. Das Tempo ist von Kind zu Kind unterschiedlich.
Maria Montessori spricht von einer - man könnte sagen schubartigen - besonderen Bereitschaft, den sogenannten sensitiven Perioden. Wir sind als Erzieher gefordert, diese beim Kind zu sehen und entsprechend auf die Bedürfnisse der Kinder zu reagieren bzw. die Umwelt zu gestalten. Leider sehen oft gerade professionelle Erzieher diese Bedürfnisse der Kinder nicht mehr, da sie nur auf anzustrebende Förderziele ihren Blick richten. Somit wird auch manche Chance der intensiven Förderung vertan. Wahrnehmungsleistungen des Kindes werden missachtet. Die Vermutung, dass "Wahrnehmung ein aktiver Prozess des Konstruierens und Strukturierens ist und dass dies erwarten lässt, dass 'Kinder zu dieser Arbeit' des Wahrnehmens länger brauchen als Erwachsene, die darin 'geübter sind', wurde experimentell bestätigt" (Schenk-Danzinger). Das heißt aber auch in der Konsequenz für den Erzieher, dass er dem Kind die notwendige Zeit und die notwendigen Freiräume geben, vor allem aber auch ausreichend Geduld aufbringen und warten können muss.
Das Kind organisiert und strukturiert von Anfang an visuelle und andersartige Informationen. Trotz einer ganzheitlichen Sichtweise wird der kindliche Wahrnehmungsprozess durch Teilelemente bestimmt, die das Kind auswählt, abstrahiert und zu bereits vorhandenen Wahrnehmungen in Bezug setzt. Da insbesondere jüngere Kinder noch nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen unterscheiden können, brauchen sie länger als der Erwachsene, bis sie alle Wesensmerkmale eines Objektes erforscht und ganzheitlich erfasst haben.
Bei der Untersuchung fünf- und sechsjähriger Kinder wurde zum Beispiel 1967 von Denner und Cashdan bereits herausgefunden, dass eine Verbesserung der Leistung des Wiedererkennens von Formen erreicht werden konnte, wenn sie zuvor visuell und taktil zugleich exploriert worden waren. Die Aufmerksamkeit konnte so stärker aktiviert und die Konzentration auf den Gegenstand gesteigert werden. So ist es auch nicht erstaunlich, wenn vom "Gesichtssinn als dem Lehrer des Tastsinns" gesprochen wird.
Wir müssen also umlernen. Wenn wir dem Kind vorgehen, was es wahrnehmen soll, werden ihm Erfahrungen verlorengehen, die es im Erwachsenenalter nur schwer nachholen kann.
Sehen im Bezug zum Gehen
Sehen steht auch in engstem Zusammenhang mit dem Gehen, mit der Bewegung. Wenn Kinder nicht auf Objekte zugehen können, sondern vielmehr warten müssen, bis sie vom Erwachsenen oder älteren Kindern an sie herangebracht werden, dann können sie nicht mehr selbst entscheiden, was und wie lange sie ein Objekt anschauen und betrachten wollen. "Gehen schenkt Freiheit. Wer gehen kann, ist nicht mehr an einen Ort und damit auch nicht mehr an eine Person gebunden... Das Weggehen des Kindes von der Mutter und letztlich auch von der Familie geschieht in wachsenden Ringen: Man geht jedes Mal ein wenig weiter fort, aber kehrt jedes Mal auch wieder zurück, um sich seiner Mutter zu vergewissern... dass Gehenlernen zugleich der Zugang zur persönlichen Freiheit wird, ist den Eltern wohl nicht bewusst; denn ihre sonstige Pädagogik ist auf die Beschränkung der Freiheit aus, und doch sind es die Eitern, welche immer wieder versucht sind, das Kind zum Gehen zu verlocken" (Ernst Ell).
Das Gehen ermöglicht dem Kind Sichtweisen ganz verschiedener Art. Räumliche Nähe bzw. Distanz verändern den Blick, haben Einfluss auf das Interesse. Was aus der Ferne ganz unscheinbar und unbedeutend wirkt, hat aus der Nähe viele spannende Aspekte (vgl. hierzu auch die späteren Überlegungen "Hilfen zum Sehen").
Friedrich Schiller hat einmal formuliert: "Uhren und Kinder darf man nicht immer nur aufziehen, man muss sie ablaufen lassen." Ich würde diese Aussage noch ergänzen: Uhren und Kinder darf man nicht überdrehen! Die Uhr funktioniert dann nicht mehr, sie geht falsch, bleibt stehen. Kinder werden "überdreht", das heißt, sie verlieren die Orientierung, wenn Reizüberflutung sie sprunghaft und unkonzentriert reagieren lässt. Dann wehren sie sich durch Auffälligkeiten, werden bockig oder aggressiv, gleichgültig oder hyperaktiv usw.
Ein ganz persönliches Beispiel soll den Zusammenhang von Gehen und Sehen noch einmal beleuchten. Eine Freundin von mir musste nach einer Gelenkoperation im Rollstuhl sitzen, wenn sie das Haus verlassen wollte. Regnerischer Herbst, erster Schnee, wir machen einen Besuch in München. Eine Ausstellung lockt unser Interesse. Nachdem alle Hürden mit dem Rollstuhl überwunden waren, schob ich sie durch die Ausstellung. Ich war begeistert, aber gleichzeitig etwas enttäuscht, da sie nicht so zufrieden aussah. Dabei hatte sie den Besuch der Ausstellung selbst vorgeschlagen! Plötzlich drehte sie sich um und sagte: "Lass uns gehen! Ich kann nicht mehr! Ich sehe sowieso nur die Hälfte. Immer nach oben schauen, das strengt ziemlich an. Und außerdem, ich weiß, du meinst es gut, aber dein Tempo ist nicht mein Tempo. Lass mich allein zum Ausgang fahren!"
Wir haben später, als der Rollstuhl schon lange nicht mehr nötig war, noch oft über diese Begebenheit gesprochen:
- So muss es für Kinder sein: Nichts können sie sehen, alles ist zu hoch oder zu weit weg.
- Das Tempo wird vom Erwachsenen bestimmt. Das Kind muss mithalten oder wird nachgezogen.
- Kein Wunder, dass Kinder unruhig werden oder die Lust verlieren.
- Kinder können ihre Betrachtungsobjekte nicht selbst auswählen. Ihre Interessenschwerpunkte werden von den Erwachsenen nur ungenügend wahrgenommen oder gar nicht akzeptiert.
Sehen lehren, Sehen lernen
Von Geburt an ist der Mensch mit der Fähigkeit des Sehens ausgestattet - anders als manche Säugetiere, die blind zur Welt kommen. Aber was alles bekommt ein Kind zu sehen! Wie viele Gesichter beugen sich über sein Bett? Immer wieder ändert sich die Umgebung, die es von seinem Spielbereich aus sehen kann!
Es kommt anfangs noch nicht zu einer vertieften Wahrnehmung, zu viele Eindrücke bieten sich dem Auge des Kindes. Der Erwachsene steigert diese Zahl der Eindrücke noch, indem er dem Kind mehr und mehr zeigt. Er will, dass das Kind alles sieht, so viel wie nur möglich aufnimmt und dadurch schneller und besser die Welt kennen lernt. Dabei wird aber vergessen, dass das Kind seine vielen Eindrücke auch ordnen, sortieren, analysieren, qualifizieren, wirken lassen, bewerten, speichern, verarbeiten ... muss.
Viele Jahre braucht das Kind, bis es diesen Prozess bewältigt hat und dann in der Lage ist, all das konkret Gesehene zu abstrahieren und "künstlichen Sprachbegriffen" korrekt zuzuordnen. Die frühe Kindheit, bis hinein in das Vorschulalter, wird geprägt vom Lernen an konkreten Dingen, vom "Sehen" mit allen Sinnen. Das Kind braucht diese Erfahrungen, um unsere doch sehr abstrakten sprachlichen Begriffe inhaltlich zu füllen.
"'Warum willst du sie eigentlich anfassen? Ich fürchte, sie fliegt dann weg.' 'Das ist so schön. Ich weiß auch nicht. Wenn ich ihr anfasse, dann kenne ich ihr erst richtig.' Da wird dem Vater plötzlich etwas klar. Martins Worte haben ihn gleichsam um Jahrtausende zurückversetzt und ihn die Kindheit der Sprache erleben lassen. Nur das, was der Mensch der Urzeit anfassen konnte, war ihm 'fasslich'. Nur was er betasten, begreifen konnte, begriff er Was für eine sinnenhafte Kraft und Anschaulichkeit das Wort Begreifen durch Martins Verlangen mit einem Male für den Vater gewonnen hat! Darum also wollen Kinder immer alles anfassen, weil sie es 'fassen' wollen, und darum will Martin jetzt die Dohle 'begreifen'. Kinder haben offenbar noch denselben Trieb und Instinkt wie die Urmenschen. Sie eignen sich die Umwelt nicht mit ihrem Verstand, sondern mit ihren Sinnen, mit ihrem Fleisch und Blut an. 'Wenn ich ihr anfasse, dann kenne ich ihr erst richtig.' Ja, das ist es! Man müsste viel mehr, als man es gemeinhin tut, auf die Sinnfälligkeit und Weisheit der Sprache achten." (Aus "Martin" von Manfred Hausmann).
Sehen lehren und Sehen lernen erhält deshalb in diesem Kontext eine ganz besondere Dimension. Auf die Seh-Umwelt hat das Kind gar keinen und der Erwachsene nur begrenzt Einfluss, insoweit er die Umwelt für das Kind ganz individuell gestalten kann. Dies gilt jedoch nur für Teilbereiche. Gleichzeitig trifft er damit aber dann eine Auswahl nach seinem Geschmack, seinen Werten und seinen Zielvorstellungen für das Lernen des Kindes.
So wählt der Erwachsene beispielsweise bevorzugt bunte, farbenfrohe Spielsachen aus. Rolf Oerter berichtet jedoch über eine Untersuchung von Rabello, der bei Kleinkindern eine Abnahme der Farbbeachtung zugunsten einer zunehmenden Dominanz der Formbeachtung festgestellt hat. Auch weitere Wissenschaftler fanden heraus, dass interessanterweise bei fast allen Kindern vor dem dritten bis vierten Lebensjahr eine bevorzugte Beachtung der Form auftritt. Erst mit dem Kindergartenalter kommt es zu einer Annäherung zwischen der Bedeutung von Form und der von Farbe für das Kind. Auch gibt es Aussagen darüber, dass Kinder mit höherem Intelligenzniveau bevorzugt der Form, Kinder mit niedrigerem Intelligenzniveau vorrangig der Farbe Beachtung schenken würden.
Was sollen wir dem Kind nun anbieten? Wie entscheiden? Sehen lehren und Sehen lernen bedeutet demnach auch für die professionellen Erzieher und für Eltern eine Herausforderung an die eigene Person - und die Aufforderung, das eigene Verhalten zu überdenken.
Die Vorbildwirkung des Erziehers
Es ist keine neue Erkenntnis, dass Erziehung sich meistens dann vollzieht, wenn Erzieher gar nicht bewusst auf den Erziehungsprozess einwirken, ihr Verhalten nicht kontrollieren und keine konkreten Erziehungsziele vor Augen haben. Kinder beobachten das Erwachsenenverhalten und wählen nicht immer vorbildliche Situationen oder vorbildhafte Verhaltensweisen als Modell aus.
Darüber hinaus glauben Erzieher - insbesondere Eltern -, dass sie im Großen und Ganzen so bleiben könnten wie sie sind. Diese Aussicht vertraten z. B. 62,3% bayerischer Eltern, während 29,1% meinten, sie könnten teilweise so bleiben, und nur 8,5% die Meinung vertraten, dass sie sich in größerem Maße oder völlig ändern müssten (G. Dietrich "Erziehungsvorstellungen von Eltern", Göttingen 1985).
Das Wort Vorbild lässt sich zerlegen in die Worte "Vor und Bild" und interpretieren: Ein Bild vorgeben, ein Bild vorstellen. Bilder gehören zu den bevorzugten Medien der Kinder, das heißt, sie betrachten das Bild, das ihnen vorgestellt wird, internalisieren seine Inhalte, machen es teilweise zu ihrem eigenen Bild und verhalten sich entsprechend. Daraus lässt sich eine fast nicht erfüllbare Forderung bzw. Erwartung an die Erwachsenen ableiten, nämlich das Bild, das sie vorstellen oder abgeben, ständig zu kontrollieren und zu verändern, so dass das Kind im wahrsten Sinne nur vorbildliche Eindrücke erfährt. Dass dies nicht leistbar ist und gleichzeitig auch die individuellen, insbesondere gefühlsmäßigen Reaktionen des Menschen verhindern würde, ist klar und wohl auch nicht wünschenswert.
dass Kinder sich am Erwachsenen orientieren, sehen, was er ihnen vorgibt, und dann auch für sich anwenden, mögen folgende Kinderaussagen verdeutlichen:
"Mein Papa zieht immer ein Gesicht, wenn's Kartoffelsalat gibt. Igitt, ich mag ihn auch nicht" (dabei schneidet das Kind eine abweisende Grimasse).
"Wenn man sich beim Fernsehen hinlegt, das entspannt, sagt mein Opa. Ich mach' das auch. Stimmt. Bloß sehe ich oft gar nichts mehr vom Film, weil ich einschlaf!"
"Die Mama schiebt immer die Zwiebeln an den Rand vom Teller. Sie sagt, sie tät sie nicht vertragen. Bestimmt vertrage ich sie auch nicht. Ich schieb' sie auch an den Rand, wie die Mama!"
Aufgabe für Sie als Erzieher: Beobachten Sie Ihre Kinder und stellen Sie fest,
- welche Verhaltensweisen der Kinder mit den Ihrigen übereinstimmen,
- in welchen Bereichen Sie sich als positives bzw. negatives Vorbild sehen.
- Versuchen Sie in einer Teamsitzung zu diskutieren, welche Zusammenhänge zwischen dem Sehen lehren und dem Sehen lernen von Ihnen und Ihren Mitarbeitern wahrgenommen wurden.
- Versuchen Sie festzustellen, wie Sie Sehen lehren,
- wie Kinder Ihnen das Sehen lehren.
"Durch das Kind sammle ich Erfahrungen, es hat Einfluss auf meine Anschauungen und auf die Welt meiner Gefühle; vom Kind bekomme ich Anweisungen an mich selbst, ich stelle Anforderungen, ich beschuldige mich, bin nachsichtig oder vergebe. Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur; in dem er es liest, reift er. Man darf das Kind nicht geringschätzen. Es weiß mehr über sich selbst als ich über das Kind. Es befasst sich mit sich selber in allen Stunden des Wachseins. Ich kann es nur erraten. Deshalb ist es ein Irrtum, wenn ich versuche, seinen Nutzen und seine Mängel einzuschätzen. Es ist faul, unartig, kapriziös, lügt, stiehlt - das ist wenig positiv. Wie ist seine Meinung über sich selbst, sein Verhalten gegenüber der Gruppe und dem Erzieher; was für Erfahrungen hat es gemacht, zu welchem Kraftaufwand und zu welchen Zugeständnissen ist es fähig? Wie lange kann es etwas aushalten? Man darf die Gruppe nicht gering einschätzen. In vielen gibt es besonders kluge, mit Beobachtungsgabe ausgestattete, kritische, wachsame, einseitig erfahrene, ironische, bösartige und sich rächende Kinder Bei ihrem Streben nach Verständigung bespricht und diskutiert die Gruppe, ergänzt und tauscht Beobachtungen aus, durchschaut den Erzieher durch und durch. Sie versucht, ihn zum Spielball des eigenen Willens zu machen, und nützt alle seine Fehler, seine Unentschlossenheit, Schwächen und Laster aus... Die Kinder belehren den Erzieher, aber sie tadeln und strafen ihn auch, sie schließen wieder Frieden, vergessen oder vergeben bewusst, aber rächen sich auch. Sie hetzen einen Hitzköpfigen auf, lachen ihn aus, verdrehen ihm den Kopf und machen ihn rebellisch oder schieben einen Dummkopf vor. Sie fordern dickköpfig: Sei uns ein Vorbild und - ganz der Hauptforderung jeder Erziehungstheorie entsprechend - gib uns ein Beispiel, nicht mit Worten, sondern mit Taten. Der Erzieher steht vor dem Dilemma: Entweder beginnt er die beschwerliche, mühsame und unendliche Arbeit an seiner eigenen Unvollkommenheit, oder er verbannt - was wesentlich bequemer ist - die Theorie." (Janusz Korczak, aus: "Von Kindern und anderen Vorbildern", Gütersloh 1979).
Der Erwachsene als "Bestimmer"
Hier der Erwachsene als sogenannter "fertiger Mensch" und dort das Kind als "kleiner, noch unfertiger, lernbedürftiger Mensch" - so die Meinung nicht nur von Laien, sondern auch oft von professionellen Pädagogen.
Dazu die Aussage eines Vaters: "Kinder wissen und können noch nichts. Deshalb brauchen sie mich als Anleiter, ich muss ihnen zeigen (Zeigen ist gleich sehen lassen), wie es richtig ist oder was sie tun müssen, oder wie etwas auszusehen hat. Wenn ich das nicht tue, dann wird nichts aus meinem Kind. Von mir muss das Kind abschauen, was richtig ist, und ich begründe es ihm dann auch."
Oder die Aussage einer Mutter: "Das Kind ist noch nicht stabil. Es ist in einem Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Ich muss dem Kind den richtigen Weg zeigen, damit der Prozess richtig verläuft. Es sieht noch nicht, wo es Fehler macht oder in die falsche Richtung läuft. Die Kindheit ist zu kurz, und ich glaube an das Sprichwort: 'Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr'. Alle Freiheit in Ehren, aber wenn ich warte, bis mein Kind eine eigene Sichtweise gefunden hat, dann habe ich Mühe, es wieder umzuerziehen in Richtung meiner und der gesellschaftlichen Erwartungen."
Zwei Beispiele, die verdeutlichen, dass der Erwachsene bestimmt oder bestimmen will, was Kinder sehen, welche Sichtweisen sie entwickeln sollen bzw. welche Sichtweisen erlaubt sind. Von Kindheit an wird ausgewählt, mit welchen Objekten das Kind beschäftigt werden soll: die ersten Spielmaterialien, Bauklötze, Puppen, Spieltiere, Bilder und Bilderbücher, durch die Gestaltung des Kinderzimmers und des Gruppenraumes im Kindergarten, durch die Auswahl der Orte, die gemeinsam besucht werden, Ausflüge und ähnliches. dass unsere Entscheidung häufig nicht die der Kinder ist, zeigt sich darin, dass sich Kinder langweilen, kein Interesse zeigen, unruhig werden, stören und zerstören, zu anderen Gegenständen - häufig materiell wertlos - hindrängen. Gebote und Verbote verfehlen ihre Wirkung. Das Kind will sich seine Welt erobern und sich durchsetzen. Trotz ist dabei nur eine Reaktion, die uns zeigt, dass das Kind einen eigenen Willen, eigene Vorstellungen, eigene Sichtweisen hat.
Wie wäre es, wenn wir Kinder auch "Bestimmer" sein ließen? Sie würden uns gute Lehrer sein, und wir würden wahrscheinlich lernen, mit ihren Augen zu sehen!
An dieser Stelle gilt es besonders, auf unsere Bilderbuchwelt aufmerksam zu machen. Beim Kauf oder Ausleihen treffen Erwachsene die Auswahl für das Kind. Bei der Herstellung von Büchern bestimmen Erwachsene die Themen. Dabei fällt in den letzten Jahren immer stärker auf, dass sogenannte Kinderbilderbücher die Themen und ungelösten Probleme von Erwachsenen behandeln und in bildlichen, kindertümlichen Darstellungen veranschaulichen. Immer mehr dieser Bücher eignen sich für den Einstieg in einen Elternabend oder als Basis für ein Elterngespräch, sind für Kinder aber kaum noch interessant. Kinder wollen in Form eines Bilderbuches nicht eine Wiederholung der eigenen Situation und am Ende der Geschichte vielleicht nicht einmal eine befriedigende Lösung. Bei der Auswahl von Bilderbüchern sind wir deshalb mehr denn je gefordert zu überlegen, wem wir mit dem Buch etwas veranschaulichen oder sichtbar machen wollen. Dann steht neben dem sogenannten Kinderbuch, das in schlichter, einfacher, anschaulicher Sprache die Probleme mit der Scheidung der Eltern und die möglichen Wirkungen auf Kinder darstellt, das echte Kinderbuch, das Kindern Mut macht, innerhalb der eigenen Grenzen, Möglichkeiten und Fähigkeiten zu handeln, Konflikte anzugehen, Erlebnisräume zu erschließen und ganz einfach glücklich zu sein.
Die Auseinandersetzung mit der Rolle des "Bestimmers" wird notwendig, wenn wir den Kindern gerecht werden wollen.
"Das musst du doch sehen!"
Ungeduldige Ausrufe wie
- "Das musst du doch sehen!" oder:
- Pass auf, siehst du nicht, du bist doch nicht blind!" oder:
- "Es ist doch auf dem Bild ganz deutlich erkennbar. Kannst du nicht genau hinschauen", usw.
sind uns im Alltag mit Kindern mehr als vertraut. Der Erwachsene sieht etwas, das Kind sieht es nicht, und schon entstehen Vorwürfe: "Du kannst es nicht, du siehst es nicht richtig", oder gar: "Du bist blind oder musst blind sein!"
Das Sehen der Kinder lässt sich aber nicht entsprechend den Wünschen der Erwachsenen steuern. Kinder nehmen anders und andere Dinge wahr. Durch das Unwissen über die kindliche Wahrnehmung kommt es zu Ungeduld und Ungerechtigkeit von Seiten der Erwachsenen.
Wieder ein Tip für Ihre Teamsitzung: Gemeinsam betrachten Sie ein Poster, auf dem viel zu sehen ist. Nach wenigen Minuten nehmen Sie es weg. Jedes Teammitglied versucht für sich aufzuschreiben,
- was ihm das Wichtigste auf dem Bild war,
- alles, an was es sich erinnern kann,
- welche Farben besonders dominant oder gar nicht vorhanden waren,
- welche Formen bei der Darstellung überwogen haben...
Dann wird das Poster wieder herbeigeholt, und jeder im Team kann seine Beobachtungen mit der Darstellung auf dem Bild vergleichen. Die Ergebnisse werden interessant sein und hoffentlich zum Nachdenken anregen. Ob wir nach einem solchen Experiment immer noch sagen: "Das musst du doch gesehen haben, oder bist du blind?"
Lernort Kindergarten - Schule des Sehens
Der Kindergarten ist der kindorientierte Lernort schlechthin. Im Kindergarten besteht die Möglichkeit, dass alles -Räume, Ausstattung, Material, zu behandelnde Themen usw. - am Kind und seinen Bedürfnissen ausgerichtet werden kann. Der Kindergarten bietet eine Welt, die sich demnach ganz wesentlich von der Welt der Erwachsenen unterscheidet.
Wir sind jetzt vielleicht versucht zu denken, dass der Kindergarten somit eine geschützte, spezifisch kindgemäß ausgestaltete Welt, eine Insel unbesorgter Kindheit, eine Laborsituation darstellt. Das wiederum kann und darf nicht der Fall sein. Allerdings sollten als Priorität die Bedürfnisse der Kinder gesehen werden. Außerhalb des Kindergartens dominieren die Bedürfnisse von Erwachsenen, steht z. B. Kinderpolitik contra Frauenpolitik und Arbeitsmarktpolitik. Eine ausreichende Lobby für Kinder und das, was Kinder brauchen, fehlt.
So werden die Mitarbeiter im Kindergarten, aber auch Träger und Elternvertreter sowie die Eltern selbst, zu unverzichtbaren Partnern bei der Gestaltung der Lebenswelt Kindergarten. dass das nicht konfliktfrei möglich ist, zeigen auch die verschiedenen Interessenlagen, z. B. in punkto Öffnungszeiten. Hier muss das Wohl der Kinder ebenso berücksichtigt werden wie der Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Alle die vorgenannten Faktoren beeinflussen den Kindergartenalltag und die Ausgestaltung des Tagesablaufs. Damit im Zusammenhang stehen die Materialien, Spiele und Themen, die notwendigerweise den Kindern zur Verfügung stehen bzw. aufgegriffen werden müssen. Je umsichtiger, weitsichtiger und offener die Erzieher arbeiten, desto größer ist die Chance, dass wirklich gesehen wird, was für Kinder wichtig ist. Dann werden auch die Kinder eingeführt werden in das Sehen von negativen und positiven Dingen, von schönen und hässlichen Objekten, von deprimierenden und motivierenden Situationen, von Werten und Sinnhaftigkeiten in unser aller Lebensalltag.
Da Kinder heute einen ganz wesentlichen Teil des Tages im Kindergarten oder anderen Tagesstätten zubringen, sind diese neben der Familie die wichtigste Sozialisationsinstanz. Eine große Verantwortung für Erzieher, auf die Aus- und Fortbildung noch lange nicht ausreichend reagieren.
Alle im Kindergarten eingesetzten Materialien lassen sich unter dem Begriff Spiel-, Lern- und Arbeitsmittel zusammenfassen. Im Spiel stecken Lernen und Arbeit ebenso wie im Lernen Spiel und Arbeit bzw. in der Arbeit Lernen und Spiel. Die Pädagogin Maria Montessori verwendet vor allem den Begriff der Arbeit und verbindet ihn mit "Selbsttun" und "Selbsttätigkeit", wodurch sie das Kind zur Sinnesentfaltung und individuellen Selbstvermittlung führen will. Während hingegen zum Beispiel Pestalozzi und Fröbel im Lernen die Lösung komplexer Aufgaben sehen, denen sich das Kind entsprechend seinen Bedürfnissen stellen kann.
Spiel-, Lern- und Arbeitsmittel sprechen durch ihr Material, ihre Funktion und ihren Zweck ganz bestimmte Sinne direkt an, zum Beispiel Bilder das Auge, Schallplatten das Ohr, Bälle die Haut und das Auge usw. Ebenso fordern sie aber auch Persönlichkeitsbereiche, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie soziale, kognitive und emotionale Fähigkeiten wie Toleranz, Kooperation, Ich-Stärke, Konzentration, Beobachtung, Kreativität, Denken, Zärtlichkeit, Frustrationstoleranz und vieles mehr.
Auch wenn wir den Kindergarten als die Schule des Sehens für Kinder erachten, ist es schwer, die richtige Auswahl bei den Materialien und der Ausgestaltung der Räume und des Alltags zu treffen. Beides hängt ganz wesentlich vom Erzieher und von den Kindern ab. Wenn Zwang und Leistung den Alltag prägen, geht die Sicht für Motivation, Neugier und Eigeninteresse der Kinder verloren.
Kinder sehen alles
Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, Kinder sehen alles - auch das, was sie nicht sollen oder wollen.
- Sie sehen einem Spielkameraden an, dass er traurig ist.
- Sie sehen die Hektik von Peters Mutter, die den Jungen eben schnell durch die Kindergartentür schiebt.
- Sie sehen die Unfreundlichkeit einer Erzieherin gegenüber einem unangemeldeten Vertreter an der Tür.
- Sie sehen die Lieblosigkeit, mit der Susannes Frühstücksbrot von der Mutter hergerichtet wurde.
- Sie sehen die Fröhlichkeit in den Augen der behinderten Martina.
- Sie sehen die neue Hose von Klaus.
- Sie sehen den Blumenstrauß, der im Gruppenraum gleich eine andere Atmosphäre verbreitet.
- Sie sehen die Neugier in Karins Augen.
- Sie sehen, wie Doro die Schokolade aus einem fremden Brottäschchen stibitzt.
- Sie sehen die vielen Bausteine und wählen wieder die Holzklötze aus.
- Sie sehen die Auswahl der Spiele und können sich nicht entscheiden.
- Sie sehen die Veränderung der Farbe auf nassem Papier.
- Sie sehen die Bläschen im Hefeteig beim Backen der Martinsgänse.
- Sie sehen das Keimen der Bohnen im Glas auf der Fensterbank.
- Sie sehen den Schatten, der sich an der Wand entlang bewegt.
- Sie sehen...
Das Sehen der Kinder nimmt kein Ende. Fragen Sie Ihre Kinder einmal, was sie alles sehen können - im Gruppenraum, im Garten, bei den Kindern, an den Erwachsenen usw. Reden Sie mit den Kindern über das Gesehene. Das Wochengespräch oder die regelmäßige Kinderkonferenz sind dazu geeignete Foren.
Beispiel aus einer Kinderkonferenz: Die Handpuppe fragt Pedro: "Du, Pedro, du hast so ein Strahlen in den Augen. Was ist denn die Ursache, dass du so glücklich aussiehst?" Pedro dreht sich zur Seite und strahlt seinen Freund Max an, der neben ihm sitzt. "Weißt du, Max war ganz lange im Krankenhaus und jetzt ist er wieder gesund. Siehst du es nicht, er ist wirklich wieder gesund!" Max strahlt und kann nichts sagen, vor Freude.
Ein anderes Kind berichtet in der Kinderkonferenz, dass es gesehen hätte: "Im Garten draußen, da wachsen ganze Massen von riesigen Pilzen, wirklich!" Als die Gruppe später nach draußen geht, findet sie keine Pilze. Karl beteuert: "Wirklich, ich hab' sie gesehen, die muß einer ganz schnell gepflückt haben!' Bei der Suchaktion nach den Pilzen haben die Kinder aber sehr viel entdeckt:
- Unter dem Haselstrauch schieben sich kleine grüne Spitzen aus der Erde.
- Beim Fliederbusch liegt eine zerbrochene Bierflasche.
- Ein Erdloch lässt auf die Wohnung einer Maus schließen usw.
Hätte Karl "nicht die Pilze gesehen", wäre viel im Garten am heutigen Tag ungesehen geblieben!
Vom Übersehen
Sehen wird auch vom Willen, vom Bewusstsein, von Verdrängungsmechanismen usw. beeinflusst. Der Satz, "das habe ich übersehen" geht allen, Kindern und Erwachsenen, schnell und leicht über die Lippen. Meist wird er als Entschuldigung gebraucht für einen Fehler, für etwas, was vergessen wurde. Der sechsjährige Peter erklärt demnach ganz richtig: "Wenn man über was oben drüber schaut, dann sieht man es aber wirklich nicht. Wenn in meinem Zimmer alles durcheinander ist und ich schau' zum Fenster raus, dann sehe ich wirklich nicht all das Zeug auf dem Boden. Meine Mama glaubt mir das immer nicht und die im Kindergarten auch nicht!" Das Übersehen, eine Hilfsbrücke oder Entschuldigung für uns alle!
Aber ich will noch auf eine weitere Dimension eingehen, die sich in diesem Wort verbirgt. Übersehen heißt auch Überblicken, also etwas in seiner Ganzheit wahrnehmen, mit allen Bezügen, Zusammenhängen, Ursachen und Folgewirkungen. Für Kinder im Vorschulalter ist dies nur begrenzt erreichbar, das heißt, wenn der zu überblickende Bereich für das Kind auch wirklich überschaubar ist, das Kind ihn analysieren und die Zusammenhänge herstellen kann. Das bedeutet für Eltern und Erzieher, überschaubare Lebensräume für Kinder zu gestalten - im Elternhaus wie im Kindergarten. Nur so können die Kinder den Umgang mit den "großen Lebensräumen" lernen.
Wenn wir den Kindergarten als Schule des Sehens beschreiben, so müssen wir uns bemühen, dass der damit verbundene Auftrag auch kindgemäß erfüllt wird. Unser Ziel muss es deshalb sein, dem Kind zu einer vorausschauenden Planung zu verhelfen. Dabei darf nicht alles vorgegeben werden. Vielmehr muss das Kind lernen, zu überlegen, seine bisherigen Erfahrungen auszuwerten und in die Planung einzubringen und dann bausteinartig die notwendigen Dinge zusammenzutragen.
Am anschaulichsten lässt sich dies an einem Beispiel aus dem kreativen Bereich beschreiben: Das Kind ist begeistert von dem farbenfrohen Sommerstrauß, der seit heute im Gruppenraum steht. "Den mal ich", lautet die Entscheidung. "Soll ich Wachskreiden nehmen?" Vielleicht antwortet die Erzieherin mit Ja und sagt: "Papier und Wachskreiden sind im Schrank. Du kannst sie dir nehmen." Vielleicht antwortet die Erzieherin aber auch: "Was gefällt dir denn so sehr an diesem Strauß?" Und das Kind antwortet motiviert: "Weißt du, die vielen Farben. Hast du die vielen Blau und Rot gesehen? Wenn ich die Augen zusammenkneife, dann meine ich, das ist nur noch ein kunterbunter Klecks und gar kein Strauß mehr!"
Die Erzieherin rückt den Strauß auf den Sonnenfleck, der auf den Tisch fällt. Das Kind, dadurch angeregt, dreht die Vase, betrachtet die Blumen von allen Seiten und entdeckt plötzlich auch den Schatten, der auf den Tisch fällt. Es lehnt sich auf einem Stuhl zurück und meint überlegend: "Also, wenn ich das so anschau', da kann ich das gar nicht mit Wachskreiden malen. Viel besser wären Wasserfarben... Und wenn ich das Papier vorher nass mache, dann wird alles so kunterbunt, wie bei zugekniffenen Augen! Gibst du mir die Farben und alles?" fragt es die Erzieherin. Diese antwortet: "Überleg dir, was du brauchst, und dann kannst du dir alles selbst holen."
Das Kind beginnt für sich selbst aufzuzählen, läuft weg, bringt die Sachen herbei und stellt alles auf den Tisch. Es platziert sich davor und wirft einen prüfenden Blick auf die Utensilien. Es läuft noch einmal weg und holt noch mehr Zeitungspapier. Wie zu sich selbst sagt es: "Ich leg' mir mehr Zeitung unter, weil wenn mir der Becher mit dem Wasser umkippt..." Die Erzieherin steht nur dabei. Immer wieder hat das Kind sie angeschaut, sie hat ihm aufmunternd zugenickt. Das Kind hat die notwendige Übersicht gewonnen und ist noch lange beschäftigt.
Das fertige Bild wird über einer Kommode aufgehängt, die Vase mit dem Strauß stellt das Kind daneben. Wenn man die Augen zukneift, dann stehen zwei kunterbunte Farbtupfer nebeneinander.
Sehen als Lernziel
Wie wäre es, würde die Erziehung zum Sehen als ein Lernziel in den Katalog der Förderbereiche für die Kindergartenarbeit aufgenommen? Je intensiver und differenzierter die Sinne in frühester Kindheit geschult werden, desto umfassender wird die kindliche Sichtweise und bildet damit eine breitere Basis für das Lernen. Konkrete Wahrnehmungen würden damit erleichtert ebenso wie deren Übertragung und Abstrahierung.
"Für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die besten Systeme und Denkmethoden" (Hermann Hesse). Was der Mensch mit seinen Sinnen erfahren hat, prägt sich ein, wird nicht vergessen und wird damit zu einem Baustein seines Wissens.
Maria Montessori spricht in diesem Zusammenhang von der "Schaukraft der Liebe": "Die Eingebung, die das Kind dazu drängt, zu beobachten, ließe sich mit einem Wort Dantes 'intelletto d'amore' (Intelligenz, Schaukraft der Liebe) nennen. Die Fähigkeit, lebhaft und genau solche Züge der Umwelt zu beobachten, die für uns Erwachsene, denen jene Lebendigkeit bereits abhanden gekommen ist, völlig unwichtig erscheinen, ist zweifellos eine Form von Liebe. Ist nicht gerade die Empfänglichkeit, die uns an einer Erscheinung Lüge bemerken lässt, die andere nicht sehen, nicht schätzen, nicht entdecken, ein charakteristisches Kennzeichen der Liebe? Der Intelligenz des Kindes entgeht auch das Verborgene nicht, eben weil es mit Liebe beobachtet, nie aber mit Gleichgültigkeit. Dieses aktive, brennende, eingehende und dauernde Sich-Versenken in Liebe ist ein Merkmal des Kindesalters." (Maria Montessori in "Kinder sind anders", Stuttgart 1952).
Wie aber können wir das Lernziel Sehen im Kindergarten erreichen? Das Kind braucht die Chance, die Welt in sich aufzunehmen. Dazu benötigt es Verständnis, Zeit und Freiheit. Darüber hinaus muss es sich im Sehen üben, und dies wiederum ist nur realisierbar, wenn wir uns so verhalten, dass ihm die höchstwichtige Übung des Sehens möglich wird.
"Man weiß, mit welchem unwiderstehlichen Schwung und Mut sich das Kind in seine Gehversuche stürzt. Es will gehen, kühn, um jeden Preis, und es gleicht darin dem Soldaten, der ohne Rücksicht auf die Gefahr dem Sieg entgegeneilt. Der Erwachsene sucht das Kind vor der Gefahr zu beschützen und umgibt es daher mit Schutzvorrichtungen, die richtige Hindernisse darstellen. Da wird das Kind ins Laufställchen eingeschlossen oder im Kinderwagen festgeschnallt und herumgefahren, obwohl es schon längst stramme Beine hat. Das geschieht deshalb, weil der Schritt des Kindes kürzer ist als der des Erwachsenen und weil es auf längeren Spaziergängen weniger Ausdauer besitzt. Der Erwachsene aber ist nicht imstande, auf seinen eigenen Gehrhythmus zu verzichten. Selbst wenn es sich um eine Kinderpflegerin handelt, also um eine Person, die dazu ausgebildet ist, sich ausschließlich dem Wohl des Kindes zu widmen, muss sich das Kind der Gangart der Pflegerin anpassen und nicht umgekehrt." (Maria Montessori in "Kinder sind anders", Stuttgart 1952).
In dieser Aussage Montessoris wird deutlich, dass die Erwachsenen bestimmen, wo der Weg hingeht, wie das Tempo ist, wie das Ziel aussehen soll. Und da Gehen und Sehen nicht voneinander getrennt werden können, wird mit diesem Erwachsenenverhalten das kindliche Sehen stark beeinflusst und vor allem auch eingeschränkt. Das Lernziel "Sehen" zu verwirklichen, bedeutet demnach in erster Linie Arbeit an uns Erwachsenen selbst, Einlassen auf das Tempo der Kinder und deren Methoden der Wahrnehmung.
Weiter gilt es zu prüfen, welche elementaren Beobachtungen wir bei Kindern verstärkt finden und welchen Objekten ihr besonderes Interesse gilt. Dann können wir Sehreize für Kinder im Kindergarten schaffen und damit ganz wesentliche Lernanstöße gehen.