Aus: KiTa aktuell BY 2015, 27 (5); S. 106-107. Mit freundlicher Genehmigung der Wolters Kluwer Deutschland GmbH
Martin R. Textor
Jungen als Jungen und Mädchen als Mädchen erziehen? Oder beide Geschlechter gleich behandeln? Oder Mädchen und/oder Jungen besonders fördern, damit sie gleiche Chancen haben? In diesem Artikel wird eine Antwort auf diese Fragen gegeben...
Die menschliche (psychosexuelle) Entwicklung wird zum Teil vom Erbgut geprägt. Je nachdem, ob zwei X-Chromosome oder ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom vorhanden sind, werden entweder weibliche oder männliche primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale ausgebildet. Männer und Frauen unterscheiden sich aber auch – weitgehend bedingt durch das Erbgut – hinsichtlich des Hormonhaushaltes, der Größe des Gehirns, der physischen Leistungsfähigkeit und weiterer Faktoren.
Einen eher noch größeren Einfluss auf die psychosexuelle Entwicklung und auf die Ausbildung der Geschlechtsidentität hat die Umwelt. Ab Geburt bzw. in den ersten Lebensjahren werden Mädchen und Jungen anders gekleidet und erhalten verschiedene Spielsachen. Eltern und Erzieher/innen verhalten sich ihnen gegenüber unterschiedlich. Über die Medien werden relativ klar differenzierte Vorstellungen von einem „weiblichen“ und einem „männlichen“ Verhalten vermittelt. Auch die Peergroup übt einen großen Einfluss aus: Vom Kindergartenalter bis ins späte Schulkindalter hinein werden überwiegend Spielkameraden und Freunde des gleichen Geschlechts gewählt, grenzen sich Mädchen- und Bubengruppen hinsichtlich ihres Verhaltens, ihrer Gesprächsthemen, ihrer Aktivitäten und ihrer Kleidung voneinander ab.
In unserer Gesellschaft erfolgt die Sozialisation – durch Familie, Peergroup, Nachbarschaft, Medien, Wirtschaft, Kultur usw. – somit weitgehend geschlechtsspezifisch. Hinzu kommt ein entsprechendes Erziehungsverhalten seitens der Eltern, das in manchen Familien (oft mit Migrationshintergrund) relativ stark ausgeprägt ist. Selbst wenn viele Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen sich bewusst von einer geschlechtsspezifischen Erziehung zu distanzieren versuchen, fallen sie immer wieder in entsprechende Verhaltensmuster zurück.
Die moderne Erziehungswissenschaft ist hinsichtlich der „richtigen“ Erziehung von Mädchen und Jungen zwiegespalten. Auf der einen Seite wird seit rund 50 Jahren eine besondere Mädchenpädagogik gefordert: Frauen seien in unserer Gesellschaft benachteiligt und müssten deshalb ab der frühen Kindheit besonders gefördert werden. Der Erfolg ist nicht ausgeblieben: Die Entwicklung und das Verhalten von Mädchen werden von Erzieher/innen positiver beurteilt; ihre Schulleistungen sind besser; mehr Mädchen als Jungen wechseln an weiterführende Schulen und schließen diese mit einem höheren Notenschnitt ab. Für manche Fachleute sind nun die Buben das benachteiligte Geschlecht; sie fordern eine besondere Jungenpädagogik.
Auf der anderen Seite steht die geschlechtssensible Erziehung: Ausgehend von der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter soll analysiert werden, inwieweit das eigene pädagogische Denken und Handeln bewusst und unbewusst durch Geschlechtsrollenstereotype geprägt werden. Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen sollen Kindern helfen, unabhängig von ihrem Geschlecht die eigenen Potenziale zu entfalten. Diese würden vor allem dann pädagogische Unterstützung benötigen, wenn geschlechtsspezifische Rollenerwartungen ihren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen entgegenstehen. Oft wird auch versucht, bei Jungen Eigenschaften und Fähigkeiten auszubilden, die eher als Stärken von Mädchen gelten (z.B. kommunikative und emotionale Kompetenzen) – und umgekehrt (z.B. Selbstvertrauen, konkurrierendes Verhalten, Durchsetzungsvermögen). Bedenkt man aber, wie stark die geschlechtsspezifische Sozialisation wirkt (s.o.) und dass viele Bezugspersonen entsprechend erziehen, kann geschlechtssensible Pädagogik leicht zu einer Sisyphusarbeit ausarten...
Sowohl die Mädchen- und Jungenpädagogik als auch die geschlechtssensible Erziehung werden seitens der (Bildungs-, Sozial-, Frauen-) Politik unterstützt, da sie auf denselben Werten beruhen (z.B. Gleichheit, Gerechtigkeit, Emanzipation). Dementsprechend haben diese Ansätze ihren Niederschlag in entsprechenden Vorgaben der Kultus- und Sozialministerien gefunden (z.B. in den Bildungsplänen für Kindertageseinrichtungen). Es bleibt dann den Erzieher/innen und Lehrer/innen überlassen, wie sie mit den Widersprüchlichkeiten zwischen der Mädchen- bzw. Jungenpädagogik und der geschlechtssensiblen Erziehung umgehen...
Vielleicht liegt die Lösung darin, sich gänzlich von der wie auch immer gearteten Orientierung am Geschlecht des jeweiligen Kindes frei zu machen. „Männlich – weiblich“ ist letztlich eine genauso nichtssagende Dichotomie wie „behindert – nicht behindert“. Anstatt Kinder anhand von zwei groben Kategorien zu klassifizieren, sollten Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen deren Individualität fokussieren. Und genau das fordert die Inklusion: Jedes Kind sollte in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen werden. Jedes Kind hat unverwechselbare Eigenschaften, besondere Stärken und Schwächen, individuelle Bedürfnisse und Bedarfe. Hier setzt die inklusive Erziehung an!
Fazit
Deutlich wird, dass jede Klassifikation, insbesondere wenn sie so pauschal wie männlich – weiblich, deutsch – ausländisch, behindert – nicht behindert ist, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen missachtet. Eine qualitativ hochwertige frühkindliche Betreuung, Erziehung und Bildung setzt voraus, dass jedes Kind in seiner Individualität wahrgenommen, verstanden und behandelt wird.