Aus: Kindergarten heute 1999, Heft 3, S. 24-29
Lothar Klein
Wie geht es Jungen unter lauter Frauen?
Fehlt es in Kindertageseinrichtungen an Möglichkeiten, die männliche Geschlechtsrolle auszuloten?
Stellen Sie sich einmal vor, in einer Kindertageseinrichtung gäbe es nur Männer. Nehmen wir an, diese Einrichtung hätte 5 Gruppen und einen freigestellten Leiter. Die ca. 100 Kinder hätten es dort Tag für Tag mit neun Männern zu tun. Eine solche Einrichtung würde sich bestimmt von dem unterscheiden, was Sie kennen: In Rollenspielecken fände man neben Kleidern und Schleiern auch Schwerter, eine Rüstung, Polizeimützen, ein Lasso, einen Cowboygürtel, einen Bauarbeiterhelm, eine Kochmütze und eine Detektivausrüstung. Die Einrichtung besäße bestimmt einen "echten DFB-Fußball" im Wert von ca. 200.- DM, und in den Gruppen fände sich Kicker oder ein Tipp-Kick-Spiel. Natürlich wären auch Feuerstelle und selbstgezimmertes Baumhaus vorhanden. In den Gruppenräumen wären Schraubstöcke, Werkzeug, Lupen und eine "Experimentierecke", bestimmt auch ein Schuhkarton mit Sience-fiction-Figuren und jede Menge Autos selbstverständliches Inventar. Auch echte Fahrtenmesser zum Schnitzen gehörten (zwar nicht jederzeit frei zugänglich) ebenso zum Inventar wie Rucksack, Kompass, Schrittmesser oder Fernglas. Im Tagesablauf wären sportliche Aktivitäten groß im Rennen. Die Erzieher hätten viel Spaß, dann und wann selbst mitzukämpfen, mitzurennen, sich gegenseitig auszutricksen und schließlich auch zu gewinnen. Auch an lautem Gebrüll würden sie sich freiwillig beteiligen. Im Technikatelier würden fachmännisch Videorecorder oder Walkman auseinandergenommen.
Auf dieses Gedankenspiel haben sich Erzieherinnen und Erzieher eingelassen, die mit der Frage beschäftigt waren, ob es in Kindertagesstätten und Kindergärten eventuell an dem mangelt, was Jungen helfen könnte, ihre männliche Geschlechtsrolle besser auszuloten. Natürlich, so meinten diese Erzieherinnen, würden ähnliche Betätigungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen auch Mädchen helfen, ihre weiblichen Rollen zu erweitern. Und: natürlich wäre eine "rein männliche" Einrichtung ebenso wenig wünschenswert, wie die uns allen bekannte Situation, in der Männer (fast) ganz fehlen.
Wird sich das eines Tages ändern? Anfang letzten Jahres erbrachte eine "Männerstudie" der beiden großen Kirchen ein nicht gerade freudig stimmendes Ergebnis. Darin bildeten zwar (immerhin) diejenigen Männer die größte Gruppe (36%), die sich selbst um ein neues Männerbild bemühen. Sie gelten in der Studie als "ängstlich-unsicherer Typ", der "zwischen allen Stühlen" sitzt! Aber immer noch etwa ein Fünftel der ca. 2000 befragten Männer hält auch 1998 noch an der traditionellen Männerrolle fest und meint, Haus- und Kinderarbeit sei Frauensache. Es scheint, als vollzöge sich der Wandel in den Geschlechterrollen zögerlicher, als wir alle es gerne möchten.
"Wir sprechen nicht mit Weibers!"
Diese Situation hat Folgen, für Jungen ebenso wie für Mädchen. Emrah war 8 Jahre alt, als er mich eines Tages mit einem "Clubausweis" überraschte. "Du bist jetzt Mitglied im Club Weiß", sagte er. Mitgebracht hatte er auch eine Clubliste. Darauf waren zwei Fotos zu sehen, eines von Emrah und eines von mir. Mein Foto hatte er von der Werkstattwand abgemacht. Auf meiner Ausweiskarte steht die Nummer 101. Ich war also das erste Mitglied hinter der Nummer 100. Die Nummer 100 besitzt Emrah. Ich fragte Emrah, was denn der Zweck unseres Vereins sei. Emrah lächelte und erklärte verschwörerisch: "Wir sprechen nicht mit Weibers!" "Oh", erwiderte ich, "mit wem soll ich hier denn dann reden?" Emrah antwortete ganz selbstverständlich: "Mit Hedwig, die gehört nicht zu den Weibers!" Hedwig ist eine Leitungskollegin. "Na gut", sagte ich, "und was soll ich nun tun?" "Du brauchst zuerst einen Decknamen!", legte Emrah dar. Also bekam ich einen. Mein Deckname lautete fortan: "Imtigo".
Mehr Mitglieder hat Emrah für seinen Club nie geworben, mich aber noch ein halbes Jahr lang ausschließlich mit meinem Decknamen angeredet. Für ihn waren wir eine Geheimbande. Nur wir wußten, dass wir nicht mit Weibers redeten. Wenn wir es doch taten, haben die gar nicht gemerkt, dass wir eigentlich nicht mit ihnen reden. So geheim war unser Auftrag und deshalb auch so sicher! Die Weibers, das waren die Erzieherinnen von Emrah.
Die "Nicht-Frauen"
Jede menschliche Identität ist auch eine weibliche oder männliche. Die geschlechtliche Identität bestimmt die ganze Persönlichkeit in wesentlichen Bereichen. Jeder Mensch möchte sich im Laufe seiner Entwicklung auch darüber klar werden, wie füllt sie oder er persönlich diese Geschlechtsrolle aus. So auch Emrah. Emrah macht uns aber auch auf etwas für die Kindertageseinrichtung Typisches aufmerksam. Um nämlich den Jungen in sich und damit die eigene Geschlechtsidentität fühlen zu können, war er in der Kindertagesstätte gezwungen, sich deutlich von seiner von Frauen dominierten Umgebung absetzen. "Wir reden nicht mit Weibers.", sagte er. Wir, das waren der Junge und der Mann. Und wir reden nicht mit Weibers, weil wir nämlich keine sind! Wir sind anders, eben männlich, wollte er sagen.
Tim Rohrmann und Peter Thoma haben in ihrem Buch "Jungen in der Kindertagesstätte" sehr anschaulich beschrieben, wie Jungen in der Kindertagesstätte ihre männliche Geschlechtsidentität und auch ihre Geschlechtsrolle fast ausschließlich in Abgrenzung als "Nicht-Frauen" entwickeln. Während Mädchen sich auf vielfältige und deshalb auch differenzierte Weise mit dem gleichen Geschlecht identifizieren können, müssen Jungen erst jemanden finden, der so ist wie sie selbst. Aber, "nur in Beziehung zu Männern können Jungen erfahren, dass bestimmte Eigenschaften sowohl zu Männern als auch zu Frauen 'gehören'. Fehlen sie, so besteht die Gefahr, dass der Junge seine Identität nur durch Abgrenzung (von Frauen) herzustellen sucht.", schreiben Tim Rohrmann und Peter Thoma.
Erzieherinnen spüren dies. Wie oft z.B. ist in Gesprächen über Jungen zu hören: "An den komme ich einfach nicht 'ran." Die meisten Jungen lieben ihre Erzieherinnen. Um sich aber als Junge fühlen können, müssen sie sich zugleich abgrenzen. Sie wehren die subjektiv als Übergriff erlebten Einmischungsversuche der Frauen ab und reagieren dabei nicht selten aggressiv - eben so, wie sie sich "richtige" Männer vorstellen.
Für das "So-sein-wie" greifen diese Jungen in Ermangelung realer Männer nämlich auf die Bilder und Symbole von Männlichkeit zurück, die ihnen zugänglich sind: Film- und Comic-Helden, Sportler, Männer aus der Werbung etc. Sie orientieren sich zugleich aber auch an den Erwartungen der Frauen. Das Männerbild der Erzieherinnen hat also auch Auswirkungen auf das der Jungen! Und drittens gilt: was weiblich ist, kann für sie nicht zugleich auch männlich sein und umgekehrt. Für Jungen bedeutet das: "Ich muss 'anders als' die Erzieherinnen sein, wenn ich Mann werden will."
Im Alltag bringt dies Jungen manchmal in fatale Situationen, beispielsweise wenn sie Konflikte verbal lösen, nicht so laut sein, mehr Gefühle zeigen, auch mal malen und kreative Eigenschaften entwickeln sollen. Die Männer in Filmen, in Comics oder auch in der Werbung sind nämlich ganz anders. Jungen fällt es auch deshalb schwer, solche Erwartungen der Erzieherinnen zu erfüllen.
Es fehlt eben an realen Männern, die Jungen zeigen könnten, dass sich auch Männer nicht nur schlagen, dass auch sie weinen und traurig sein, malen und gestalten können. Es fehlt an Männern, die auch die Versagensängste und Ohnmachtsgefühle wahrnehmen, die sich häufig hinter dem scheinbaren Dominanz- und Konkurrenzgebahren von Jungen verbergen. Aber, es fehlt auch an Frauen, die das Experimentieren der Jungen mit der männlichen Geschlechtsrolle bewusst zulassen, fördern und die Jungen in ihrem "anders-sein-als" bestärken.
Loch in der Hose und Loch in der Erde
Die vornehmlich von Frauen geprägte Kultur der Kindertagesstätte bringt es mit sich, dass Dinge, die die meisten Jungen gerne tun, in der Regel unterrepräsentiert sind. Es fehlt für Jungen häufig an Möglichkeiten, Bestätigung auf Gebieten zu erhalten, wo sie gut sind. So interessiert sich beispielsweise wohl die Mehrzahl der Erzieherinnen nicht besonders für Fußball. Jungen, die gut spielen können, werden daher auch nicht gelobt, weil es die Erzieherinnen gar nicht beurteilen können und wollen, ob jemand ein guter Mannschaftsspieler ist oder nicht. Auch ein Loch in der Hose, sichtbares Zeichen für gelungene Verteidigung, heißt doch noch lange nicht, dass dieser Junge eines Tages das Männerbild von John Wayne übernimmt, und könnte deshalb durchaus auch ein wenig mehr Anerkennung finden.
Ich plädiere dafür, Jungen wie Mädchen auch im Ausprobieren des aktiven, aggressiven, experimentierenden, lautstarken oder bewegungsreichen Anteils ihrer Geschlechtsrolle zu unterstützen. Als eines Tages vier und fünfjährige Jungen ein metertiefes Loch gruben und sich dabei lautstark als "Arbeitsmänner" zu erkennen gaben, waren bald auch die Mädchen dabei. Die Jungen störte das in diesem Falle nicht. Sie alle wurden nun zu "Arbeitsmännern" und verschwanden bald gemeinsam in ihrer tiefen Grube.
Selbst wenn das Schwergewicht im Aushandeln, in Auseinandersetzungen und beim Regeln von Alltagsfragen auf dem verbalen Ausdruck liegt, gibt es auch geeignete nonverbale Formen der Konfliktlösung. Wer herausrennt und Türen zuschlägt, löst für sich die Situation durchaus. Auch ein fairer Kampf mit gegenseitigem Gerangel, Prügeln und Kniffen klärt vieles und schafft sogar Körpernähe. Was als fair gilt, handeln Jungen wie Mädchen gerne aus, wenn es erlaubt ist.
Auch die von den Inuit (wir nennen sie Eskimos) überlieferte Variante des "Männerkampfes" kann eine Alternative zu den herkömmlichen Konfliktlösungsstrategien darstellen: Weil Inuitmänner nur gemeinsam jagen können, war es schon in alten Zeiten verboten, dass sie sich untereinander töten. Sie entwickelten statt dessen den "Männerkampf". Hier sitzen sich die Kontrahenten auf dem Boden gegenüber und beschimpfen sich so laut und so einfallsreich wie möglich. Derjenige gewinnt, der für seine verbalen Beschimpfungen den stärksten Applaus erhält. Können Sie sich einen "Männerkampf" im Flur Ihrer Einrichtung vorstellen?
Wenn Erzieherinnen solche Formen nicht von vorneherein ausschließen, unterstützen sie nicht nur die Jungen, sondern erweitern auch die Geschlechtsrolle der Mädchen. Sie sind dann selbst sichtbares Beispiel für die aktiven und aggressiven Anteile der weiblichen Geschlechtsrolle. Einer Rollenfixierung auf das passive, abwartende Sich-Zurückhalten wird dadurch entgegengesteuert. Umgekehrt bewirkt es, dass Jungen nicht auf das Anders-sein-als festgelegt bleiben. Ihnen fällt es leichter, auch das, was bei ihnen als weiblich gilt, auch für sich selbst als Verhaltensvariante zu erkennen und in ihre männliche Geschlechtsrolle zu integrieren, wenn sie ihr eigenes "Junge-Sein" nicht so sehr gegen die Frauen verteidigen müssen.
Formel 1, Degen, LKWs und Zeitmaschine
In der Praxis bedeutet dies, bewusster über einen Ausgleich zwischen der Überrepräsentation von "Weiblichkeit" und der Unterrepräsentation von "Männlichkeit" nachzudenken. Ich meine, der Kindertagesstättenalltag müsste daher mehr Attribute , die noch als typisch männlich gelten, aufweisen.
Dafür vier Beispiele:
- Eine Gruppe hat einen neuen Gruppennamen. Früher hieß sie Schmetterlingsgruppe, nun nennt sie sich Formel-1-Gruppe.
- Julius, fünf Jahre alt, ist der "Hüter der Formel-1-Gruppe". Er verwaltet die beiden Degen, die sich die Gruppe angeschafft hat. Bringt sie jemand nicht zurück, verteilt er Strafzettel.
- Christopher, sieben Jahre alt, liebt LKWs. Sein Vater, von der Mutter getrennt lebend, ist LKW-Fahrer. Mit ihm besucht er öfter die LKW-Rennen. Es ist Advent. Jedes Kind bekommt ein Adventsgeschenk. In Christophers Päckchen findet sich ein Truckerposter. "Das ist das beste Geschenk von allen!" ruft er strahlend.
- Steffen, acht Jahre alt, wird von seinen Erzieherinnen als in hohem Maße "auffällig" beschrieben. Steffen gilt einerseits als hochintelligent, andererseits wird ihm fast jegliches Sozialverhalten abgesprochen. Eines Tages baut er sich aus einem Riesenkarton eine Zeitmaschine mit allen Schikanen. Als sich eine Erzieherin einmal zu ihm in diese Zeitmaschine setzt - sie darf - , erlebt sie ein kleines Wunder: Steffen hält ihr darin nicht nur Vorträge über die Relativität der Zeit, sondern zeigt sich auch weich, zugänglich und verträglich.
Männerclub aus lauter Kumpels
Ein weiterer Weg, Jungen wie Mädchen bei ihrer Suche nach geschlechtlicher Identität zu unterstützen, sind die gleichgeschlechtlichen Gruppierungen. Im Kindergarten sind sie meist kurzlebiger als im Hort, entstehen eher im Zusammenhang mit bestimmten Spielen und Aktivitäten, als dass es dauerhafte Gruppen werden. Anders im Hort. Hier ist das Bedürfnis nach gleichgeschlechtlicher Gruppierung groß.
In dem "Männerclub", in dem ich einige Jahre Mitglied war, war alles männlich. Das Begrüßungsritual stammte aus Amerika. Die Hände wurden aneinander geschlagen, begleitet vom coolen "give me five" oder "Schlag ein, Kumpel!". Wer Mitglied werden wollte, musste natürlich eine Mutprobe hinter sich bringen. Die Jungen haben sich überlegt, was das sein könnte, und haben entschieden: zwischen den beiden Fußballtoren in 20 Sekunden hin- und zurückrennen. Der Männerclub hatte eine "Eiskasse", in die jeder wöchentlich 50 Pfennige zahlte. Die erste viertel Stunde verging häufig damit, zum wiederholten Male den Inhalt der Kasse zu zählen.
Was waren die Aktivitäten des Männerclubs: Fahrrad fahren, Eis essen, Fußball spielen, Kickerturniere, über Sex reden, eine Holzhütte bauen, auf Dächer klettern, ins Kino gehen, Schneeballschlachten organisieren, auf die Eisbahn gehen, Auto fahren, sich über Autos unterhalten, die Bayern München- und Eintracht Frankfurt-Fanartikel bewundern, Zeitmaschinen bauen usw. Höhepunkt war natürlich das Zelten in einem Steinbruch. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir nachts zusammen am Feuer saßen, in den Himmel sahen, und die Jungen sich über Gott, das Weltall, die Sterne, Angst und Liebe unterhielten. Zuvor waren wir auf "Wildschweinjagd". Der 8jährige Ernesto hatte sich dafür eine "Panzerfaust" gesucht, einen Holzstamm, den er kaum tragen konnte, aber beharrlich die ganze Zeit über dabei hatte.
Absolutes High-light des Männerclubs aber war die Feuerstelle im Außengelände der Einrichtung. Die Jungen erwarben "Feuerscheine" und wurden "Feuerhüter". Sie grillten Würstchen und andere Dinge. Am Martinstag, den 11. November, schichteten sie jedes Mal einen riesigen Holzstoß auf. Ein Teil der älteren Jungen begleitete die jüngeren Kinder auf deren Umzug. Sie "sicherten" den Umzug mit Fackeln. Einige waren als Boten eingeteilt. Ihre Aufgabe bestand darin, den Feuerhütern zu melden, wann sich der Zug der Kleinen näherte. Wenn es dann so weit war, zündeten die Feuerhüter den Holzstoß so an, dass er genau dann zu brennen anfing, wenn sich der Zug wieder dem Gelände näherte.
Und schließlich, gefragt, was ihnen selbst als Höhepunkt im Männerclub galt, haben die meisten Jungen geantwortet: "Als wir mit den Fahrrädern richtig gerast sind. Das war echt geil." Richtig gerast sind wir ca. 7 km einen Berg hinunter. Wir hatten viel Spaß gemeinsam, oftmals ausgelassen, manchmal sehr nah. Hier konnten die Jungen unangestrengt einfach so sein, wie sie wollten.
"Panzerfaust", Degen und "Wildschweinjagd" sind genauso pädagogisch wertvolle Aktivitäten wie das Hausfrau-, Mutter- oder Prinzessin-Spielen der Mädchen: Sie üben sich darin, ihre Geschlechtsrolle zu definieren und mit ihr zu spielen. Sie tun so als ob. Gerade, weil wir alle natürlich nicht wollen, dass Jungen in der traditionellen Geschlechtsrolle verhaftet bleiben, müssen wir die Kindertageseinrichtung für ihre spezifischen Aktivitäten öffnen. Sonst sind die Jungen gezwungen, ihre Geschlechtsrolle fast ausschließlich im "anders-als", und die Mädchen im "so-wie" herauszubilden. Nur selbstbewusste und zufriedene Jungen sind in der Lage, über ihren Schatten zu springen und sich auf etwas Neues einzulassen.
Jungen dürfen auch Ängste haben
Die meisten Jungen haben vor allem Angst vor ihrer Angst. Wohl kein Gefühl ist in der traditionellen Männerrolle so sehr verpönt, wie die Angst. Als Angsthase zu gelten, ist für Jungen immer noch schlimm. Sie wehren sich dagegen, lassen ihre Ängste nicht zu, verheimlichen sie und tun besonders mutig, damit niemand ihre zarten Seelen entdeckt.
Frauen gegenüber fällt es Jungen besonders schwer, ihre Ängste zu zeigen. Das heißt nicht, dass sich nicht trösten ließen. In solchen Augenblicken übertragen sie Erzieherinnen allerdings die Mutterrolle. Werden Erzieherinnen jedoch als Frau wahrgenommen, haben vor allem ältere Jungen große Probleme, ihre Schwächen und Ängste zu offenbaren. Im Extremfall kann das dazu führen - und leider betrifft das immer noch einen Großteil der Männer -, dass sie den Zugang zu ihren eigenen Ängsten und auch anderen Gefühlen verlieren.
Zwar brauchen sie vor allem Männer, die ihnen zeigen können, dass Angst-Haben auch zu Männern gehört, aber auch hier kann die Kindertagesstätte Jungen gut unterstützen. Für Jungen ist es wichtig, dass Angst-Haben erkennbar erlaubt ist. Möglichkeiten sind z.B. das Erzählen oder Vorlesen von Gruselgeschichten, Nachtwanderungen, "Mutproben" oder auch das Gespräch über die Angst.
Geschlechtsbewusster arbeiten
Geschlechtsbewusster zu arbeiten bedeutet wahrzunehmen, dass sowohl Mädchen wie Jungen ihren jeweils eigenen Weg zur Geschlechtsidentität suchen und dass sie dabei unterschiedliche Wege einschlagen müssen, weil sich die Geschlechter eben unterscheiden. Damit entsprächen wir auch besser einem Auftrag des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz). § 9 des KJHG verlangt nämlich, "die unterschiedlichen Lebenslagen von Jungen und Mädchen zu berücksichtigen".
Geschlechtsbewusst zu arbeiten bedeutet nicht, Jungen oder Mädchen auf eine Geschlechtsrolle festzulegen. Was gesellschaftlich und kulturell als männlich oder weiblich gilt, unterscheidet sich sowieso von dem individuellen Junge-(Mann)- oder Mädchen-(Frau)-Sein. Mir geht es um die Erweiterung beider Geschlechtsrollen. Das Ziel sollte vielmehr die Rollenflexibilität sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es ausreichend Möglichkeiten gibt, mit der eigenen und der anderen Geschlechtsrolle zu experimentieren.
Derzeit mangelt in Kindertageseinrichtungen aus meiner Sicht vor allem der Anteil an dem, was als männlich gilt. Daher die Aufforderung, mehr Attribute und Verhaltensweisen in den Kindertagesstättenalltag zu integrieren, die von Jungen und Mädchen als männliche definiert werden.
Literatur
Tim Rohrmann, Peter Thoma: Jungen in Kindertagesstätten. Ein Handbuch zur geschlechtsbezogenen Pädagogik. Lambertus, Freiburg 1998
Margarete Blank-Mathieu: Kleiner Unterschied - große Folgen? Zur geschlechtsbezogenen Sozialisation im Kindergarten. Herder, Freiburg 1997
Christian Büttner, Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen, böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Belz, Weinheim, 2. Aufl. 1993