Lernen in BewegungBewegungsförderung und -erziehung in der frühkindlichen Bildung. Im Interview mit Anja Voss

Anja Voss

Bewegung und Spiel sind primäre Aktivitäten in der frühen Kindheit und daher eine zentrale Aufgabe frühkindlicher Erziehungs- und Bildungsaktivitäten, wie sich auch aus den Bildungsplänen der Bundesländer ergibt. Für das folgende Interview befragten wir Prof. Dr. Anja Voss, die als Professorin für Bewegungspädagogik/-therapie und Gesundheitsförderung an der Alice Salomon Hochschule in Berlin tätig ist.

 

Welche Funktionen haben elementare Spiel- und Bewegungserfahrungen in der frühkindlichen Bildung?

Bewegung und Spiel haben in der frühen Bildung unterschiedliche Funktionen bzw. Bedeutungen: Zum einen geht es um erfahrungsbezogene Zugänge zur Welt, d.h., Kinder erschließen sich die Welt über eine sensomotorische Auseinandersetzung mit Personen und Dingen ihrer Umwelt. Erfahrungsbezogene Zugänge umfassen z.B. personale Erfahrungen (Kennenlernen des eigenen Körpers), soziale Erfahrungen (Verknüpfung eigener Handlungsziele mit denen einer Gruppe), materiale Erfahrungen (physikalische Phänomene der Umgebung kennenlernen) aber auch im- und expressive Erfahrungen (Gefühle z.B. von Freude durch Bewegung spüren aber auch über Bewegung zum Ausdruck bringen), produktive Erfahrungen (mit dem eigenen Körper etwas hervorbringen/selbstwirksam sein), komparative (sich mit anderen vergleichen/messen) und adaptive Erfahrungen (Anpassung an von außen oder selbst gesetzte Anforderungen).

Daneben geht es um eine allgemeine Entwicklungsförderung durch Bewegung. Dabei ist Bewegung primär Mittel zum Zweck, um Wachstum und Entwicklung des Organismus zu unterstützen, z.B. mit Blick auf eine Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems sowie des Bewegungsapparates (Muskeln, Knochen usw.) aber auch um die Förderung koordinativer und konditioneller Fähigkeiten sowie um eine Stärkung des Immunsystems und der allgemeinen Leistungsfähigkeit. Neben der körperlich-motorischen Entwicklung wird hier auch die emotionale und geistige Entwicklung angesprochen. Hierzu zählt zudem eine gesundheitsförderliche Perspektive, wobei es um die Entwicklung eines aktiven Lebensstils geht und Bewegung als Möglichkeit gesehen wird, die Ausbildung gesundheitlicher Ressourcen zu unterstützen, aber auch als Instrument zur Prävention von Erkrankungen oder auch zur Reduktion von Unfallrisiken.

Eine weitere Funktion von Bewegung in der frühen Bildung liegt in dem, was häufig unter kulturelle Bildung im Sinne von sinnlich-ästhetischen Zugängen zu Welt gefasst wird. Dazu zählen z.B. altersspezifische Bewegungsspiele und -tänze aber auch die Ausgestaltung des kindlichen Bewegungsalltags durch kulturelle Formen des Laufens, Werfens, Fangens, Kletterns und Balancierens. In diesem Sinne geht es auch bereits in der frühen Bildung um eine Verschränkung von Leib und Körper, um Körpersein und Körperhaben und damit um eine Sicht auf den menschlichen Körper als durch und durch kulturelles und gesellschaftliches Phänomen.

Welche Folgen kann Bewegungsmangel für die kindliche Entwicklung haben?

Bewegungsmangel wird als bedeutsamer Risikofaktor für die Entstehung von Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Erkrankungen des Bewegungsapparates (vgl. WHO) und für verschiedene Krebserkrankungen gehandelt (vgl. Deutsches Krebsinformationszentrum[1]) und mangelnde körperliche Aktivität kann u.U. sogar die Lebenserwartung verkürzen.[2]

Mit Blick auf die kindliche Entwicklung sind die negativen Folgen von Bewegungsmangel vielfältig und umfassen nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige und seelische Entwicklung von Kindern. Auf der körperlichen Seite können eine ernährungsbedingte, zu hohe Energiezufuhr oder zu geringer Energieverbrauch bereits im Kindesalter zu Übergewicht führen. Das Übergewicht kann weitreichende Folgen haben, denn wenn Kinder nicht bis zur Pubertät Normalgewicht erreichen, sind die durch Übergewicht entstandenen Fettzellen ein Leben lang erhalten. D.h., dass es immer schwieriger wird, Normalgewicht zu erreichen. Adipositas und Übergewicht können sich der CHILT-Studie zufolge bei Kindern der ersten Klasse negativ auf die Körperkoordination auswirken. Die Körperkoordination ist umso höher, je mehr Kinder in der Freizeit körperlich aktiv sind. Eine weitere Folge von Bewegungsmangel sind Haltungsschwächen.

So hat sich gezeigt, dass bereits 30-40 % der Kinder mit Haltungsschwächen bzw. -schäden in die Grundschule kommen, 40 % klagen über Rückenschmerzen und auch Kopfschmerzen können eine Folge von Haltungsschwächen/-schäden sein. Eine zu schwache Rückenmuskulatur kann zu Muskel- und Skeletterkrankungen im Erwachsenenalter führen und auch Osteoporose kann auf chronischen Bewegungsmangel zurückgeführt werden. Daneben kann Übergewicht zu hohem Blutdruck führen, der auch bei Kindern bereits vorkommt. Neben Übergewicht spielt auch Stress bei der Entstehung von Bluthochdruck eine Rolle. Bei Kindern kann Stress z.B. durch die Schule, bei Streitigkeiten in der Familie oder unter Kindern sowie durch zu hohen und undifferenzierten Medienkonsum entstehen. Für den Abbau von Stress ist Bewegung sowohl für Erwachsene als auch für Kinder von großer Bedeutung.

Neben den körperlichen Folgen von Bewegungsmangel kann dieser auch Konsequenzen für die kognitive und seelische Entwicklung von Kindern haben, wobei es hier weitgehend an empirischen Daten mangelt, die diesen Zusammenhang untermauern. Als gesichert gilt, dass Bewegung Kinder unterstützen kann, sich besser zu konzentrieren. Auch ermöglicht Bewegung die Stärkung personaler Ressourcen durch zahlreiche Selbstwirksamkeitserfahrungen und hat dadurch positive Auswirkungen auf Selbstwert und Selbstkonzept, unterstützt beim Aufbau eines positiven Körperkonzeptes und bei einer zuversichtlichen und optimistischen Grundeinstellung. Auch werden Kinder durch Bewegung in ihrer sozialen Entwicklung gestärkt, z.B. durch die Integration in eine Gruppe, durch die Bindung an andere Personen und durch den sozialen Rückhalt über den Aufbau sozialer Beziehungen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass Kinder, denen es an Bewegung mangelt, automatisch ein niedriges Selbstwertgefühl haben oder ein gering ausgeprägtes Sozialverhalten.

Bewegung stellt eine Möglichkeit dar, Kinder vor negativen körperlichen Folgen wir Übergewicht und damit verbundenen Folgeerkrankungen zu schützen. Daneben stellt Bewegung eine Ressource für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung dar. Nach dem Motto „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ werden in der Kindheit Grundlagen für einen aktiven Lebensstil gelegt. Dies stärkt das Potenzial der frühkindlichen Bewegungsbildung und in Institutionen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE).

Wie können Erzieher/innen die Bewegungserziehung im pädagogischen Alltag intensivieren?

Pädagogische Fachkräfte können Bewegung erstens im Rahmen offener Bewegungsangebote intensivieren. Das sind Bewegungsmöglichkeiten, die durch Verfügbarkeit von Material und Geräten von den Kindern selbst gestaltet, verändert und mit Sinn versehen werden können. Dazu gehören z.B. ein jederzeit zugänglicher Bewegungsraum (innen oder außen) mit einer Auswahl von Geräten und einer relativ sicheren Nutzung auch ohne Anleitung und Aufsicht, der Eingangshalle einer Kita (steht für Roll- und Fahrgeräte zur Verfügung oder als Bewegungslandschaft). Pädagogische Fachkräfte müssen nicht anwesend sein, aber in wichtigste Regeln des freien Spiels einführen.

Daneben bietet sich die Verankerung von angeleiteten Bewegungseinheiten im pädagogischen Alltag an. Dabei handelt es sich um regelmäßige und von der pädagogischen Fachkraft geplante Bewegungsangebote. Diese sind häufig mit Ritualen wie z.B. der Nutzung bestimmter Räumlichkeiten oder einem Kleidungswechsel verbunden. Im Mittelpunkt stehen inhaltliche Schwerpunkte und eine Rahmung, die aktuelle Themen der Einrichtung aufgreift (z.B. Zahlen oder Sprachförderung). Angeleitete Bewegungseinheiten können z.B. als sogenannte Bewegungsarrangements durchgeführt werden. Diese Bewegungsangebote haben einen experimentellen Charakter (z.B. Bewegungsbaustelle, -landschaft) und setzen sich in erster Linie aus Phasen des freien Ausprobierens, ggf. in Verbindung mit Phasen angeleiteter Bewegungen, zusammen.

Geschlossene Bewegungseinheiten hingegen sind stärker an vorab festgelegte Abläufe gebunden und unterliegen einem deutlicheren Wechsel zwischen angeleiteten und freien Bewegungsphasen. Ritualisierte Abläufe der Bewegungseinheiten sind bei Kindern beliebt, eine bekannte Rahmung gibt Sicherheit und in größerem Zeitrahmen können auch komplexere Themen und Inhalte bearbeitet werden. Besondere Berücksichtigung finden in den angeleiteten Bewegungseinheiten diejenigen Kinder, die sich nicht gerne an den offenen Bewegungsangeboten beteiligen und Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen, eher meiden. Hier geht es darum, diese Kinder durch einfühlsame, ermutigende Begleitung und Entdeckung der eigenen Stärken zu fördern.

Daneben gibt es außerdem die situativen Bewegungsgelegenheiten, worunter alltagsintegrierte Bewegungsgelegenheiten fallen. Diese entstehen situativ aus dem Spiel der Kinder, unterstützt durch eine bewegungsfreundliche Raumgestaltung.

Offene Bewegungsangebote, angeleitete Bewegungseinheiten und situative Bewegungsgelegenheiten sollten sich gegenseitig ergänzen und fester Bestandteil der pädagogischen Konzeption einer Kindertageseinrichtung sein. Die angeleiteten Bewegungseinheiten sind nicht durch offene oder situative Bewegungsangebote/-anlässe zu ersetzen, weil bei der Beschränkung auf freie Bewegungsgelegenheiten die Gefahr besteht, dass Angebote zufallsabhängig und ggf. durch augenblickliche organisatorische oder personelle Engpässe im Tagesablauf vernachlässigt werden.

In der frühkindlichen Entwicklung spielt die Körperwahrnehmung durch Bewegungserfahrungen eine große Rolle. Dies verweist auf den Bereich der Psychomotorik. Können Sie uns kurz erläutern, warum die Psychomotorik so wichtig für Kinder ist?

Während Bewegung mit körperlicher Aktivität übersetzt werden kann, betont die Psychomotorik das Zusammenspiel von Bewegung und Psyche. Für die Kindheitspädagogik ist die Psychomotorik sowohl als pädagogisches als auch als therapeutisches Konzept zur Entwicklungsförderung von Bedeutung, weil es zum einen um die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegungserlebnisse und -erfahrungen geht. Zum anderen stehen auch motorische Schwächen und Störungen sowie Probleme eines Kindes in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt im Mittelpunkt.

Die Psychomotorik ist ein Konzept, das aus der Praxis entstanden ist und in der kindheitspädagogischen Bewegungspraxis in zahlreichen Einrichtungen zur Anwendung kommt. Darüber hinaus fließen psychomotorische Ideen aber auch in Konzeptionen von Kitas ein und geben Impulse für organisationale Veränderungen oder mit Blick auf die professionelle (bewegungs-)pädagogische Haltung der pädagogischen Fachkräfte. Methodische Prinzipien wie Kindorientierung, Wertschätzung, Dialog oder Ressourcenorientierung bieten große Anschlussfähigkeit an Konzepte inklusiven Arbeitens und durch die Fokussierung auf materiale, soziale und körperliche Erfahrungen ist die Psychomotorik auch im U3-Bereich ein probates Konzept.

In welchem Zusammenhang stehen Gender und Psychomotorik in der frühkindlichen Bildung?

In der Psychomotorik als einem Konzept der Persönlichkeitsentwicklung spielt die Kategorie Geschlecht eine Rolle, weil es auch um die Entwicklung der Geschlechtsidentität als Bestandteil der Persönlichkeit geht. Außerdem setzt die Psychomotorik nicht nur auf Bewegung, sondern auch auf Prozesse der Sozialisation und damit auf soziale Welten, wodurch Gender im Sinne eines sozialen Geschlechts an Bedeutung gewinnt. Geschlecht ist in der frühkindlichen Bewegungsförderung vereinzelt in Kitas oder im Eltern-Kind-Turnen eine Analysekategorie.

In der Psychomotorik war Gender in Theorie und Praxis lange Zeit eine vernachlässigte Dimension. Inzwischen scheint deutlich zu sein, dass psychomotorische Erfahrungsräume keine geschlechtsneutralen Räume sind. Und bereits Vorschulkinder zeigen mit Blick auf ihr Bewegungsverhalten geschlechtsbezogene Präferenzen, obwohl die motorische Entwicklung bei Jungen und Mädchen weitgehend gleich verläuft. Mit geschlechterstereotypen Verhaltensweisen (z.B. von motorisch auffälligen Jungen und eher unauffälligen Mädchen) erfolgt seitens psychomotorischer Fachkräfte z.T. ein unreflektierter Umgang mit der Kategorie Geschlecht.

Hier müssten auch in der Psychomotorik die Herstellungsmechanismen von Geschlecht systematisch identifiziert und Geschlechterunterschiede als Ergebnis von Differenzierungen betrachtet werden. Das bedeutet, die Kategorie Geschlecht nicht nur `mitzudenken´, sondern zu schauen, wie Differenzen hergestellt werden, z.B. über geschlechterbezogene Zuschreibungen und Darstellungen in der Einteilung von Teams („Mädchen spielen gegen Jungen“). Mit dem Identifizieren des Doing Gender lassen sich auch Aspekte des Undoing Gender verbinden, im Sinne eines Angebots vielfältiger psychomotorischer Erfahrungsräume, in denen Einschränkungen der Entfaltung aufgrund des Geschlechts abgebaut werden oder sich ganz auflösen. Dabei könnte Diversität insgesamt mehr mitgedacht und weitere Differenzkategorien aufgegriffen werden.

Neben dem Blick auf Herstellungsmechanismen von Geschlecht ist die Perspektive von Geschlecht als Strukturkategorie auch für die Psychomotorik hilfreich, um die Disziplin bzw. die (geschlechter-)pädagogische Praxis der Psychomotorik zu hinterfragen. Dies würde u. U. bedeuten, geschlechterbezogene Themen in die psychomotorische Aus- und Weiterbildung zu integrieren und eine Geschlechterkompetenz bei den Kursleitungen auszubilden, z.B. über die Auseinandersetzung und Reflexion mit der eigenen bewegungsbezogenen Geschlechtsbiografie. Eine geschlechtssensible Haltung ergänzt psychomotorische Prinzipien und trägt ihren Teil zur Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung in Bewegung bei.[3]

[1] Vgl. https://www.dkfz.de/de/krebspraevention/Krebsrisikofaktor_Bewegungsmangel.html (Zugriff am 05.05.2021)

[2] Vgl. https://www.dkfz.de/de/krebspraevention/Krebsrisikofaktor_Bewegungsmangel.html (Zugriff am 05.05.2021)

[3] Zum Weiterlesen Gender und Psychomotorik (motorik, 43. Jg. 2) und Voss, A. & Gramespacher, E. (2019). Geschlecht – eine relevante Kategorie in der frühkindlichen Bewegungsbildung (in A. Voss (Hrsg.), Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. S. 138-151

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