Aus: 4bis8, Fachzeitschrift für Kindergarten und Unterstufe 2008, Nr. 11, S. 25-26, http://www.4bis8.ch
Dominique Högger
Kinder haben genügend eigene Bewegungsimpulse für eine gesunde Entwicklung - wenn man sie nur lässt. Entsprechende Bedingungen zu schaffen, war das Ziel des Projektes Bewegter Kindergarten der Pädagogischen Hochschule FHNW (Schweiz). Die Ergebnisse, die die erste Durchführung im Schuljahr 2007/08 gebracht hat, sind eindrücklich.
Ungeeignete Materialien, falsche Verbote und ablenkende Tätigkeiten verhindern nur allzu oft die freie Entfaltung der kindlichen Bewegungslust. Hier setzen die Bewegten Kindergärten an: Sie richten die Innen- und Aussenräume bewegungsfreundlich ein, sie schaffen vielseitig einsetzbare Materialien an wie zum Beispiel Bockleitern, Bretter, Kisten oder Lastwagenschläuche, sie lassen das kreative Chaos zu, das beim Bewegungsspiel der Kinder vielfach entsteht, und sie nutzen Ausflüge in den Wald, um Spiel-, Bewegungs- und Entdeckungsmöglichkeiten um ein Vielfaches zu erweitern.
41 Kindergärten und eine Unterstufenklasse waren im Schuljahr 2007/08 beim Projekt "Bewegter Kindergarten" der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz dabei. An acht Terminen verteilt über das ganze Schuljahr beschäftigten sich die Teilnehmerinnen theoretisch und praktisch mit der Bewegungsentwicklung von Kindern, mit Bewegungsförderung und den Chancen der Bewegung für die gesamte schulische Laufbahn. Dozent Hansruedi Baumann stellte wie schon bei seinem erfolgreichen Programm "Mut tut gut" (http://www.muttutgut.ch) immer und immer wieder das Kind, seine Bedürfnisse und Fähigkeiten ins Zentrum und unterstrich seine Botschaft mit eindrücklichen Bildern von spielenden, balancierenden oder kletternden Kindern: Kinder können und wollen mehr, als wir ihnen zutrauen. Stefan Häusermann und Ursula Kyburz unterstützten die Botschaft aus der Perspektive der Psychomotorik und zeigten auf, welche Unterstützung jene Kinder brauchen, die man nicht einfach machen lassen kann.
Parallel zu den Kursabenden setzten die Teilnehmerinnen die Projektziele im eigenen Kindergarten um: Sie schafften neues Material an und entsorgten anderes, sie erprobten eigene Ideen und liessen jenen der Kinder vermehrt Raum. Sie profitierten dabei auch vom Austausch unter Kolleginnen und von der individuellen Beratung durch Fachleute. Für die Anschaffung von gutem Material hatte das Projekt jeder Kindergärtnerin 500 Franken zur Verfügung gestellt.
Begeisterung, die ansteckt
Das Resultat nach dieser ersten Projektdurchführung darf sich sehen lassen: Keine Teilnehmerin, die nicht von eindrücklichen Erlebnissen im Laufe dieses Schuljahres, von begeisterten Kindern und staunenden Eltern zu berichten wüsste. Für den Kindergarten Grüebli in Rothrist haben sechs Väter zum Beispiel einen eigenen Waldplatz hergerichtet. Im Kindergarten Vogtsmatte in Laufenburg hat sich die Bewegungsecke in den ganzen Kindergartenraum ausgedehnt, und Tische für ruhigere Spiele finden nun locker in der ehemaligen Bewegungsecke Platz. Oder die Kinder aus Merenschwand erhalten immer wieder Besuch von Schülerinnen und Schülern, die ebenfalls mit dem tollen Material spielen wollen. Und der Kindergarten Klösterli in Wettingen ist nur einer unter vielen, der die Begeisterung der Kinder für ein Zirkusprojekt genutzt hat. Im Kindergarten Bilander in Brugg wird nicht auf Stühlen gesessen, sondern auf Kisten, die sich gleichzeitig zum Bauen eignen. Und der Kindergarten Poststrasse in Spreitenbach hat das Thema Indianer genutzt, um bloss noch auf dem Boden zu sitzen. Das bringt nicht nur mehr Platz und Möglichkeiten für Bewegung und Spiel - ohne Stuhllehne finden die Kinder darüber hinaus zu einer besseren Sitzhaltung.
Selbst Lehrerinnen mit langer Erfahrung in Bewegungsförderung berichten, sie seien durch das Projekt noch einmal mehr sensibilisiert worden für die kindlichen Bewegungsbedürfnisse, sie seien mutiger geworden, großzügiger, resistenter gegen Lärm und Zweckentfremdung von Material. Tische umdrehen und zum Schiff umfunktionieren? Im Kindergartenraum rennen? Auf Fenstersimse oder Gestelle klettern? All das hat in bewegten Kindergärten grundsätzlich Platz, denn die Lehrpersonen wissen: Die Kinder danken es mit freudvollem, kreativem und ausdauerndem Spiel, mit mehr Ruhe und Aufmerksamkeit, wenn sie in den Kreis zurück kommen, mit einer Entwicklung, die nicht nur die Bewegung, sondern den ganzen Menschen betrifft.
Dies sind eigentlich schon genügend Gründe, um einen bewegten Kindergarten zu rechtfertigen. Übergewicht, Haltungsschwächen oder Rückstände in der motorischen Entwicklung sind nur zusätzliche Argumente. Kinder mit Sprachschwierigkeiten benötigen vor allem das Rollenspiel, um zu einer ungezwungenen Kommunikation zu finden, und diese Möglichkeit ergibt sich in bewegten Kindergärten zuhauf. Für Kindergarten und Schule besonders interessant sind aber die Zusammenhänge zwischen der motorischen Entwicklung und der schulischen Leistungsfähigkeit. So unterstützt Bewegung die Entwicklung von Kompetenzen, die auch für die Denkarbeit eine wichtige Rolle spielen, etwa Raumvorstellung, Objektwahrnehmung oder Konzentrationsfähigkeit, Erfahrungen mit Erdanziehung und Hebelgesetz, aber auch Kreativität und Problemlösefähigkeit. Die einzige Unterstufenlehrerin im Projekt weiß dies für ihren Unterricht zu nutzen: Buchstaben werde nicht nur geschrieben, sondern auch mit dem Körper dargestellt, die Treppe dient zum Rechnen, Partnerarbeiten werden mitunter mit Ball und Wippbrett ausgeführt, stille Arbeiten in selbst gewählten Sitz-, Steh- oder auch mal Liegepositionen. In die selbe Richtung arbeiten Kindergärten, die unscheinbare Kellertreppen oder Gartenplatten mit Zahlenfolgen versehen haben.
Bewegungsmuffel kommen in Bewegung
Die Eigeninitiative und der Ideenreichtum der Kinder sichern nicht nur den Spaß an der Sache und ein angemessenes Anspruchsniveau. Sie geben den Lehrpersonen auch Raum, um sich um die Kinder mit speziellen Bedürfnissen zu kümmern: um Kinder, die unruhig, ungeschickt oder im Bewegungsverhalten gehemmt sind. Die vermehrte Zuwendung eröffnet auch diesen Kindern einen eigenen Zugang zum Klettern, Rutschen, Purzeln und Springen. Praktisch alle Projektteilnehmerinnen haben von einem bis zwei Kindern in ihrer Gruppe berichtet, die sich anfangs nichts aus Bewegung gemacht haben: Sie waren ängstlich, übergewichtig, ungeschickt oder überbehütet, einige haben sogar angeleitete Klatsch- und Rhythmusspiele verweigert. Viel Geduld, etliche Einladungen oder Aufforderungen, wiederholte Ermutigung und Hilfestellung haben in den meisten Fällen Erfolg gebracht; oft haben auch die anderen Kinder mit ihrer Bewegungsfreude angesteckt, oder die Reize des Materials und des gemeinsamen Spiels waren unwiderstehlich. So waren irgendwann auch die Übergewichtigen und die Sprachscheuen oben auf der Bockleiter und haben herunter gerufen: "Schau, ich habe es geschafft!". Die Leiter ist dabei ein gutes Symbol für das, was der bewegte Kindergarten will: Jedes Kind klettert so hoch, wie es kann, und springt aus der Höhe, die es sich zutraut. So kommen alle zu ihrem eigenen Erfolgserlebnis und gewinnen oder behalten die Freude an der Bewegung.
Das Buch zum Projekt
Dominique Högger: Kinder in Bewegung. Impulse für offene Bewegungssettings im Unterricht. Verlag LCH, Lehrmittel 4 bis 8, Niederrohrdorf 2009. Direkt bestellbar unter http://www.lehrmittel4bis8.ch/specials/kinderInBewegung/aktuell.php
Weitere Informationen
Seit Sommer 2008 läuft die zweite Durchführung des Projektes. Weitere Durchführungen sind in Planung. Aktuelle Informationen finden Sie im Web:
http://www.fhnw.ch/ph/iwb/beratung/gesundheit/projekte
Zum Zusammenhang von Bewegung und kognitiver Entwicklung empfiehlt der Autor die Materialiensammlung "Begreifen braucht Bewegung": http://www.fhnw.ch/ph/iwb/beratung/gesundheit/publikationen