Barbara Perras-Emmer
Ruhe und Bewegung sind relative Beschreibungen: "In der Mechanik ist ein Körper in Bewegung, wenn er seinen Ort oder seine Lage gegenüber einem anderen Körper, dem Bezugskörper, oder gegenüber einem Bezugssystem verändert. Ein Körper ist in Ruhe, wenn er seinen Ort oder seine Lage gegenüber einem Bezugskörper oder Bezugssystem nicht ändert" (Raum, Bernd/ Schmidt, Gerd-Dietrich, Hrsg.: Bewegung, Berlin 1999, S. 12).
Ein Körper kann gleichzeitig in Ruhe und in Bewegung sein, wenn er an verschiedenen Bezugskörpern oder -systemen gemessen wird. Der Beifahrer im Auto kann sich in Ruhe befinden und seine Lage gegenüber dem Fahrzeug als Bezugskörper nicht verändern und ist doch gleichzeitig in Bewegung, weil er sich mit dem Auto von einem Ort zu einem anderen bewegt.
Kinetik bezeichnet die Lehre von den Bewegungen und ihrer Beeinflussung. Kinematik umfasst die Lehre von Bewegungen im Raum im Verhältnis zur Zeit, ohne die bewegende Kräfte zu untersuchen.
Der Bewegungsbegriff der Physik entspricht alltäglichen Erfahrungen. Viele Bewegungen können wir unmittelbar wahrnehmen; andere, unsichtbare oder sehr schnelle bzw. sehr langsame Bewegungen werden mittels physikalischer Methoden beobachtet und erfasst (Mende, Dietmar, Hrsg.: Wir wiederholen Physik, Leipzig 1986, S. 29).
Die Bewegung starrer Körper besteht im Allgemeinen aus Verschiebungen (Translationen) und Drehungen oder Kreisbewegungen (Rotationen). Bei Verschiebungen stimmen für alle Punkte des starren Körpers Betrag und Richtung der Momentangeschwindigkeit überein, z.B. beim Rücken eines Tisches oder Schieben eines Rollbrettes mit feststehenden Rädern. Bei Fortbewegung auf Rädern kommt es immer zu einer Rotation der Räder um die eigene Achse und einer räumlichen Translation. Bei beweglichen Rädern kann zur Verschiebung des Körpers und Rotation der Räder um die Radachse noch eine Rotation um die vertikale Aufhängungsachse eines oder mehrerer Räder kommen.
Bei Rotationen befinden sich jeweils die Punkte der Momentandrehachse in Ruhe (oder auch nicht, wie wir soeben beim Rollbrett während der Translation mit doppelter Rotation gesehen haben). Bei der Karussellplatte ist dies für Kinder sehr deutlich sichtbar, wenn sie sich (1) genau in die Mitte setzen und somit die Drehachse senkrecht verlängern oder sich (2) quer über die Mitte legen, also selbst eine Drehachse mit ihrem eigenen Körper bilden, oder wenn sie (3) mit der Fliehkraft der Kreisbewegung und der Geschwindigkeit spielen und sich immer mehr in Nähe der Aussenkante setzen und um eine fremde Achse (das Lager der Karussellplatte) rotieren.
Verschiebungen und Drehungen werden nach dem zeitlichen Ablauf in
- gleichförmige und
- ungleichförmige Bewegungen eingeteilt.
Gleichmäßig beschleunigte und periodische Bewegungen (Schwingungen) bilden innerhalb der ungleichförmigen Bewegungen wichtige Spezialfälle. Verschiebungen werden nach der Bahnform nach geradlinigen und krummlinigen Bewegungen und der besonderen Rolle der Kreisbewegung unterschieden.
Eine Bewegung ist erst dann exakt beschrieben, wenn ihre Abhängigkeit von der Zeit bekannt ist; bei komplizierteren Bewegungen sind mehrere Angaben erforderlich. "Ihre Anzahl läßt die Freiheitsgrade des bewegten Körpers erkennen" (Mende 1986, S. 31). Dabei kann der Begriff "Freiheitsgrad" mit "Bewegungsmöglichkeiten" gleichgestellt werden. "Die Anzahl der Freiheitsgrade eines Körpers oder eines Systems von mehreren Körpern ist gleich der Anzahl der Koordinaten, die zur Beschreibung der Lage benötigt werden" (Mende 1986, S. 31).
Irgendwie erinnert mich dieser physikalische Grundsatz an die Situation unseres Kindergartens: Um alle Bewegungsmöglichkeiten innerhalb unserer Einrichtung erfassen zu können, sind unzählige Angaben notwendig, und diese Vielfalt erweckt den Eindruck von "Unordnung bzw. Chaos". Für die Kinder sind die Regeln jedoch überschaubar, sie finden im Gegensatz zu Erwachsenen schneller "gemeinsame Nenner", um gekürzte Normen (gemäß dem Bruchrechnen) zu entwickeln. Je jünger die Kinder sind - wenn sie mit vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Fakten konfrontiert werden -, desto besser kann ihr Gehirn entsprechend geformt werden, um später die schnelllebige Entwicklung der Gesellschaft und die explosive Wissenserweiterung zu verkraften und für sich zu nutzen.
Gleichförmige Bewegungen
Bei gleichförmigen Bewegungen werden in gleichen Zeitabschnitten gleiche Wege auf gerader Bahn zurückgelegt (Seilbahn auf dem Burgspielplatz). Kinder versuchen, zunächst ein Fahrzeug gleichförmig zu beherrschen, um Sicherheit zu gewinnen. Sie fahren immer wieder gleiche Wege und drehen endlose Bahnen im Raum, bis diese Gleichförmigkeit langweilig wird.
Ungleichförmige Bewegungen
Bei ungleichförmigen Bewegungen werden innerhalb gleicher Zeitabschnitte unterschiedlich große Wege auf gerader Bahn zurückgelegt. Die Ergebnisse sind auch auf krummlinige Strecken übertragbar.
Das Flitzi von loquito (Klaus Miedzinsiki) ist ein Rollbrett mit zwei mal 4 Rädern, die 4 größeren dienen dem Fahren auf dem Boden, die 4 kleineren innen liegenden berühren den Boden nicht. Mit diesen fährt das Rollbrett auf der Langbank, die äußeren, größeren bilden die Führungsschiene entlang der Langbank. Wird eine Langbank in die Sprossenwand eingehängt, so dass eine schiefe Ebene entsteht, und mit einer weiteren Langbank in der Geraden auf dem Turnhallenboden verlängert, fährt das Flitzi die verschiedenen Strecken immer innerhalb gleicher Zeitabschnitte. Besonders gut zu erkennen ist dies, wenn
- die gerade Ebene sehr lang ist, also aus 2 oder mehreren Langbänken besteht,
- die schiefe Ebene extrem steil ist und viel Schwung bietet,
- die Bahn am Ende wieder nach oben geht,
- die Bahn eher wellenförmig gebaut ist oder
- am Ende der Bahn eine Weichbodenmatte senkrecht steht und die Kinder dort einen Aufprall erleben können.
Beschleunigung
Bei ungleichförmigen Bewegungen wird die Beschleunigung als neue kinetmatische Größe eingeführt. Damit wird der zeitliche Ablauf der Geschwindigkeitsänderung erfasst. Der einfachste Zugang zu dieser Größe wird ermöglicht, wenn in gleichen Zeitabständen jeweils gleich große Änderungen der Geschwindigkeit stattfinden. Für Kinder ist es besonders interessant, zwischen Beschleunigung und "Treiben lassen" abzuwechseln: Sie schieben beim Rollerfahren so lange an, bis sie genug Schwung haben, um eine Verschnaufpause einzuleiten; zunächst wird der Schwung gleichmäßig umgesetzt, dann tritt die Umkehr der Beschleunigung in Kraft.
Gravitation
Die Berücksichtigung der Schwerkraft spielt bei der Beschleunigung und beim Einsatz der Kraft zur Beibehaltung der Geschwindigkeit eine nicht unübersehbare Rolle. Kinder benötigen neben absolut ebenen Flächen wie im Raum oder in der Turnhalle auch Hügel und Berge, um verschiedene Erfahrungen zu machen und zu kombinieren.
Sprungschanzen wie beim Schlittenfahren, in der Turnhalle aus einfachen Sprungbrettern gebaut, erhöhen den Reiz eines Fahrparcours. Gleichzeitig lernen die Kinder, dass Unterschiede bestehen zwischen horizontalen Flugbahnen, zwischen leicht nach oben bzw. nach unten geneigten Absprungflächen. Mit dem Luftwiderstand haben sie sich immer auseinander zu setzen, die Geschwindigkeit wird jedoch auf der geraden schneller als nach oben, und nach unten noch schneller als waagrecht.
Bodenbeschaffenheit
Möglichst viele unterschiedliche Materialien auf den Fahrwegen, von Linoleum, Parkett und Kork bis hin zu Schotter, Kopfsteinpflaster, Rasen oder Feldwegen, lassen die Kinder lernen, warum es sinnvoll ist, luftgefüllte Räder zu verwenden, wie unterschiedlich große Räder Stöße abfangen, und dass eine überschaubare Anzahl von Rädern leichter zu lenken ist. Sie bemerken aber auch die Nachteile, wenn sie ein "Loch fahren" und der Reifen platt ist.
Größe, Anzahl und Anordnung der Räder
Unsere Fahrzeuge und Rollbretter haben unterschiedlich große Räder, von ca. 4 cm Durchmesser bei den Bussen (Laufräder mit Sitzbänken auf Skateboardrollen) und Skatys bis zu 40 cm beim normalen Kinderfahrrad und beim Hochrad. Sie sind zum Teil fest angebracht, bzw. mit Hand oder Fuß zu lenken, oder auf frei rundum drehenden Achsen. Ihre Anzahl variiert von 2 Rädern beim Roller bis zu 6 beim sechseckigen und runden Rollbrett. Die Anordnung ist traditionell, bei 3 sind 2 hinten, eins vorne wie beim Dreirad oder Dreiradroller, oder eins vorne und zwei hinten, z.B. beim Lieferrad, oder auch eher unkonventionell wie beim Halbkreis-Rollbrett: eins in der Mitte der Kreisrundung und je 1 in der Ecke zwischen Gerader und Bogen. Durch diese Anordnung ist es nicht besonders stabil und kippt leichter um; unsere Kinder sagen: "Da fehlt etwas - es ist nur halb...".
Bewegende und lenkende Kraft
Der Antrieb erfolgt mit den Armen
- im Liegen oder Sitzen auf dem Rollbrett,
- durch die Übertragung von kreisenden Armbewegungen auf Räder beim Swingcart und Cyclecart,
- durch Vor-Zurück-Bewegungen beim Holländer und Rabcart,
- durch Hin- und Herbewegungen beim Roller Racer,
mit den Beinen
- beim Laufrad (Bus), beim Bobbycar und Laufspeedy, aber auch beim Schlitten, diagonal oder gleichzeitig beidseitig,
- beim Roller und beim Dreiradroller mit nur einem Bein,
- durch die Übertragung von kreisenden Bewegungen über Pedale direkt auf das Vorderrad beim Dreirad und Hochrad,
- direkt auf das Hinterrad beim Lieferrad und beim Artisten-Zweirad,
- über Pedale und Zahnräder auf das Hinterrad beim Fahrrad mit verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten,
- beim Pedalo im Stehen.
Das Lenken erfolgt
- mittels einer Lenkstange vorne beim Roller, Fahr- und Dreirad,
- mit Hand und/oder Fuß beim Rollbrett, Laufrad und beim Schlitten,
- gleichzeitig mit dem Handantrieb beim Swingcart und Cyclecart,
- mittels zweier Lenkhebel in der Mitte des Fahrzeugs beim Swing Racer und Rabcart auf ein oder zwei Hinterräder,
- durch Gewichtsverlagerungen beim Skaty und Schlitten,
- mit den Beinen auf die Vorderachse beim Holländer.
Bei jedem Fahrzeugtyp muss der Körperschwerpunkt neu und individuell ausgependelt werden. Die vielfältigen Erfahrungen werden mit der Zeit automatisiert und laufen weitgehend unbewusst ab. Relativ sichere Fahrzeuge wie Roller und Rollbrett führen zu den anspruchsvolleren wie dem Fahrrad und dem Hochrad und vielleicht später dem Einrad. Ganz nebenbei entwickelt das Kind wissenschaftliches Verständnis dafür, warum der Antrieb über Zahnräder, das Fahren mit 4 luftbefüllten Reifen usw. durchaus sinnvoll ist. Es ist dem Autofahren nicht mehr so hilflos ausgeliefert, hat Erfahrung mit Anfahren, Beschleunigen, gleichmäßigem Fahren, Kurven Fahren, Verlangsamen, Bremsen und Anhalten.
Die gewonnene Sicherheit im Umgang mit den Fahrzeugen ermutigt die Kinder zu weiteren Experimenten. Das Fahren mit einem Anhänger stellt neue Anforderungen an die Fahrtauglichkeit. Wer einmal mit einem Pkw-Hänger rückwärts in eine Einfahrt biegen wollte, versteht, was ich meine. Das theoretische Wissen, dass die Räder des Zugfahrzeugs genau andersherum stehen müssen, hilft gar nichts. Was zählt ist Übung, Übung, Übung ... - und wann haben die Kinder dazu mehr Zeit als im Kindergarten?
Weitere Versuche werden mit Transporten von Gegenständen und Personen gemacht. Zunächst sehr kreative Einfälle erweisen sich oft als nicht tauglich, sie werden als sogenannte Exformationen aussortiert. Zurück bleiben Informationen, welche selbst als Körper-Können und Körper-Wissen erfahren und nicht nur verbal vermittelt wurden. Eine Information hat dann die größte Bedeutung, wenn ich voraussetzen kann, dass mein Gegenüber die selben Exformationen als wertlos gestrichen hat.
Literatur
Kirchhoff, Rolf/ Roer, Wilhelm: Projekt Naturwissenschaften - Fortbewegung. Stuttgart 1995
Mende, Dietmar (Hrsg.): Wir wiederholen Physik. Leipzig 1986
Raum, Bernd/ Schmidt, Gerd-Dietrich (Hrsg.): Bewegung. Berlin 1999
Rentsch, Werner: Experimente mit Spaß - Bewegungen und Kräfte. Köln 1998
Steinmann, Albrecht: Naturphänomene Bewegungen - Arbeitsheft. Hannover 1998