Erika Brodbeck
Janek balanciert voller Konzentration über einen Baumstamm. Ein Sprung herunter, und hüpfend geht es weiter. Hier kommt der Lattenzaun, der jeden Morgen mit den Händen entlanggleitend befühlt wird. Plötzliches Innehalten - ein Spinnennetz glitzert in der Morgensonne. Janek ruft schnell den Vater, und staunend betrachten beide dieses Kunstwerk. An der Ecke rufen zwei Freunde, Janek reißt sich los und rennt zu den Kindern - schließlich muss er noch so viel erzählen (…).
Ein Stück Sozialromantik oder ein zukunftsfähiges Modell für die gesunde Entwicklung von Kindern? Der Bewegungsmangel heutiger Kinder und die damit verbundenen Folgen haben erschreckende Ausmaße angenommen. Die Schuleingangsuntersuchungen liefern jedes Jahr exakte Zahlen über den Gesundheitszustand der sechsjährigen Kinder. Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, orthopädische Schäden sowie Defizite im grob- und feinmotorischen Bereich sind in direktem Zusammenhang mit Bewegungsmangel zu sehen.
Über die Ursachen des heutigen Bewegungsmangels herrscht weitgehend Einigkeit. Städte und auch Dörfer sind in den letzten Jahrzehnten einseitig für den motorisierten Verkehr umgebaut worden. Für Kinder sind zahlreiche natürliche Bewegungsräume wie Straßen, Brachflächen oder Grünflächen weggefallen. Und wenn es diese Räume noch gibt, werden sie häufig von Eltern als zu gefährlich eingeschätzt. Gleichzeitig mit der Verödung des kindlichen Wohnumfelds bekommen neue Medienangebote wie Computer und Fernsehen eine zentrale Bedeutung für die Beschäftigung von Kindern.
Mit Stubenarrest können heutige Eltern nicht mehr drohen
So klar die Ursachen auf der Hand liegen, so unterschiedlich sind die Überlegungen zur Bewegungsförderung. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass gerade für jüngere Kinder das Wohnumfeld der wichtigste Ort der Bewegungsförderung ist. Eine Verbesserung der Verkehrssituation hat nachhaltigen Einfluss auf die motorische Entwicklung von Kindern.
Alle pädagogischen Bewegungsprogramme haben den Nachteil, dass die erzielten Fortschritte wieder verloren gehen, wenn das Förderprogramm nicht weitergeht. "Die Situation ist grotesk! Da werden die Ursachen motorischer Defizite intensiv erforscht und man kommt zum überzeugenden Ergebnis, dass die fehlenden spontanen Bewegungs- und Spielmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe der Wohnung die Hauptursache motorischer Defizite bilden. Doch was tut man? Es werden Bewegungsspiele für den Kindergarten, die Familie und die Schule erprobt und eingeführt (...). Mit keinem Wort wird die Möglichkeit erwähnt, dass man die Ursachen der Defizite beheben könnte. Hopsprogramme statt Ursachenbekämpfung" (Hüttenmoser).
Auch wenn es ungleich schwerer ist, die Verkehrssituation in den Städten zu ändern, versucht die Stadt Bremen mit verschiedenen Projekten, die Stadt für Kinder wieder zurückzugewinnen und bespielbar zu machen. Der Verein SpielLandschaftStadt arbeitet in Bremen seit acht Jahren an diesem Thema.
Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten
In dem Projekt "Bewegte Kindheit", gemeinsam entwickelt von SpiellandschaftStadt e.V., der Bremer Sportjugend und dem Verkehrsclub Deutschland Landesverband Bremen (VCD) im Rahmen des Europäischen Jahres der "Erziehung durch Sport", ging es darum, bestehende Bewegungsangebote in den Stadtteilen zu vernetzen und eine breite Zusammenarbeit von Kindergärten, Schulen und Sportvereinen herzustellen. Unter anderem wurde das Bewegungskonzept Borgfeld, ein Bremer Stadtteil, weiter vorangebracht. Gemeinsames Ziel der Borgfelder Grundschule und des Kindergartens ist es, Kinder und Eltern zum "Zu-Fuß-Gehen" zu motivieren. Dafür wurden verschiedene "Fuß-Haltestellen" entwickelt: 15 Haltestellen an Wegen, die sternenförmig zur Schule führen, sind in dem Stadtteil eingerichtet worden. Kinder können sich dort treffen, um gemeinsam weiterzugehen. An sechs Stellen sind Maßnahmen zur Sicherung des Schulweges geplant. Weiter geplant ist es, gezielt Bewegungsanreize entlang der Wege zu schaffen. Schon kleine Veränderungen wie Balancierbalken, aufgezeichnete Hüpfspiele, Ziele zum Abschlagen/ Geräusche, Pfähle zum Hüpfen, Mosaikplatten oder kleine Fußspuren können einen Weg für Kinder spannend und erlebnisreich machen.
Das Gleiche funktioniert auch für Kindergartenwege. Den begleitenden Eltern kommt die bewegte Zeit mit ihren Kinder zugute. Die Kinder kommen wach und mit neuen Erlebnissen auch im sozialen Austausch mit anderen Kindern im Kindergarten an.
Tür auf, raus und spielen
Lea ist langweilig. Draußen sieht sie zwei Mädchen an den neuen Reckstangen spielen. Schnell rennt sie raus und erobert sich die dritte Stange. Nach einigen Umdrehungen und ersten Annäherungen ziehen die drei gemeinsam weiter. Vorne am Wendehammer sind viele Kinder auf der Straße. Eine Nachbarin hat die Spielkiste geöffnet. Mit Bällen, Pedalos, Laufrädern und Hüpfseilen wird der ganze Straßenraum bespielt. Zwei Jungs ziehen gerade ein mobiles Tor auf die Straße. Lea trifft ein paar Freundinnen, und sie beschließen, zusammen auf den großen Spielplatz zu gehen, der eine ganze Ecke entfernt ist, aber tolle Spielgeräte hat.
Das direkte Wohnumfeld hat einen großen Einfluss auf die Bewegungsentwicklung von Kindern. Ist das Spielen draußen zu gefährlich oder gibt es nichts, was die Kinder nach draußen zieht, so ist die Verlockung der virtuellen Ersatzspielwelten sehr groß. Wenn die Eltern es sich zeitlich und finanziell leisten können, starten sie aufwändige Ersatzprogramme: Die Kinder werden zum Spieltreff, zur Ponygruppe, in den Turnverein gefahren.
Die öffentlichen Spielplätze, häufig das letzte Refugium für spielende Kinder, reichen selten aus, den Spielbedarf in einer Stadt zu decken. Kinder haben sehr kleine Aktionsradien. In einer Bremer Aktionsraumstudie wurde herausgefunden, das Kinder bis zu zwölf Jahren maximal 300 Meter allein im Stadtteil unterwegs sind. Viel befahrene Straßen sind weitere, oft unüberwindliche Hindernisse.
Das Ziel der Bremer Spielraumentwicklung ist es, zusätzlich zu großen, öffentlichen Spielplätzen viele kleine, sehr wohnungsnahe Spielmöglichkeiten zu schaffen. Mit der Aktion "SpielRäume schaffen" (eine Gemeinschaftsaktion der Bremer Jugendsenatorin und des Deutschen Kinderhilfswerks, angesiedelt bei SpielLandschaftStadt) sind seit 1997 über 170 neue Spielmöglichkeiten entstanden: in öffentlichen Grünflächen, auf Brachflächen, entlang von Straßen und auf öffentlich zugänglichen Schulhöfen oder Kindergartenaußengeländen.
Mit einem Förderfonds und einer kostenlosen Fachberatung (dem Mobil-Team "SpielRäume schaffen") ist es gelungen, dass Sportvereine, Kleingartenvereine, Kirchengemeinden und sogar Elterninitiativen neue Spielmöglichkeiten einrichten. Zunehmend gibt es auch Kindertageseinrichtungen, die ihr Gelände nachmittags und am Wochenende öffnen, um die Spielsituation im Stadtteil zu verbessern. Entscheidend dabei ist die Unterstützung durch das Mobil-Team. Neben der fachlich planerischen Hilfe sind oftmals die Unterstützung und Moderation bei Anwohnerbeschwerden, der Kontakt zu Behörden, die Hilfe bei der Antragsstellung und schließlich eine Anleitung zur Unterhaltung der Spielräume entscheidend für das Gelingen der neuen Spielraumprojekte.
Auch das "Spielen-Lassen" will gelernt sein
Es nieselt, draußen ist alles grau. Für zwanzig mit Regenhose und Gummistiefeln ausgerüstete Kindergartenkinder ist die Welt bunt und voller Erlebnisse. Große Pfützen werden "erplanscht", der Erdhügel ist so matschig, dass man auf dem Po herunterrutschen kann, der Schlamm lässt sich zu kleinen Kügelchen formen, im Weidentipi verstecken sich Kinder, der regennasse Holunderbusch wird kräftig geschüttelt, wenn jemand darunter läuft. Am Ende des Tages sind die Kinder dreckverschmiert, aber voller neuer Erfahrungen und Erkenntnisse.
Normaler Alltag oder heute eher die Ausnahme im Kindergarten? Da sind die Eltern, die saubere Kinder erwarten - möglichst noch mit einer Bastelarbeit, die den Lernerfolg demonstriert. Da sind die Erzieher, die angesichts von verwirrenden Sicherheitsvorschriften für das Spielgelände, mit der Aufsichtspflicht im Nacken, umringt von rechtsschutzversicherten Eltern, schließlich wider besseres Wissens die Bastelarbeit am Tisch dem sinnlichen Matscherlebnis draußen vorziehen. Viele Erwachsene müssen es erst wieder lernen: Bewegung ist Bildung; spielend lernt das Kind; vielfältige sinnliche Erfahrungen schulen die kindliche Wahrnehmung. Sicherheit gibt es letztlich nur durch Risiko. Überbehütete Kinder, die kein Risiko erleben dürfen, die sich nicht ausreichend im Spiel austesten und entwickeln können, sind unfallgefährdeter als andere Kinder.
Für all diese Fragen und Themen bietet SpielLandschaftStadt e.V Seminare, Fachtage und Workshops an in einem alljährlichen Weiterbildungskalender. Denn die neuen Spielräume sollen nicht nur baulich räumlich in der Stadt geschaffen werden, Spielräume müssen auch in den Köpfen der Erwachsene entstehen.
Literatur
Blinkert, Baldo: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Freiburg 1996
Kleine, Wilhelm: Tausend gelebte Kindertage, Sport und Bewegung im Alltag der Kinder. München 2003
Hüttenmoser, Marco: Und es bewegt sich noch! Bewegungsmangel bei Kindern: Ursache, Folgen, Maßnahmen. Bern 2002