Aus: DIE ZEIT 44/2001, Rubrik "Wissen"
Donata Elschenbroich
Warum geht ihr in den Kindergarten?", fragten die Erzieher die Kinder. "Dass die Mama zum Friseur gehen kann", sagten die Kinder. "Weil meine Mama arbeiten geht..." Die Erzieher erschrocken: "Das ist alles?" Der Bildungsanspruch ihres Kindergartens - nichts davon angekommen bei den Kindern?
Seit 1996 hat jedes Kind in Deutschland das Recht auf einen Kindergartenplatz: Erziehung, Betreuung in den Jahren vor der Schule - und erstmals ausdrücklich: Bildung. Damit ist die historische Trennung in verschiedene Typen von Kindergärten überwunden: Betreuung, während die Mütter in der Fabrik oder auf dem Feld arbeiten einerseits, Anregung und Bildung in exklusiven Kindergärten gegen höhere Gebühr oder über unbezahlte Mitarbeit von Eltern andererseits. Zunächst jedoch nur auf dem Papier.
Als Pflicht und Selbstverständlichkeit wird dieser Bildungsauftrag des Kindergartens noch längst nicht verstanden. Zwar möchten viele Erzieherinnen ihre Arbeit mit anderen Augen sehen, suchen nach neuen Themen im Kindergarten, führen lebhafte Diskussionen über ihr Selbstverständnis. Nur, bei welchen Gelegenheiten können sie vertrauende Neugier der Kinder anregen und sie im Aufbau ihres Weltwissens unterstützen? Wie sollen sie jene Grundfertigkeiten vermitteln, die jedes Kind auf dem Weg in die Wissensgesellschaft brauchen wird?
Mitte der sechziger Jahre zeigte ein Dokumentarfilm am Beispiel einer West-Berliner Kita den erschreckenden Alltag in vielen damaligen Kindergärten: Unfreundliche Frauen scheuchten Dreijährige zum kollektiven Mittagsschlaf in ihre Bettchen. Ein liebloser, im weitesten Sinn unästhetischer Umgang mit Kindern. Viel hat sich seither verändert.
Heute wird im deutschen Kindergarten respektiert, dass nicht jedes Kind Appetit hat auf die gleichen Speisen und nicht jedes zur selben Zeit essen möchte. Gemeinsame Toilettengänge zu festen Zeiten gibt es nicht mehr. Nicht jede Dreijährige muss dasselbe können wie die Gleichaltrige. Spielzeuge und Bastelmaterial werden nicht mehr verschlossen - die Kinder können in alle Regale und Kisten greifen. Man lässt sie kaum noch mit lange einstudierten Tänzen auftreten zur Erbauung des Elternpublikums. Kinder streiten nicht deshalb, weil sie "ungezogen" sind oder einen schlechten Charakter haben, sondern sie "tragen Konflikte aus". Auch das wissen Erzieherinnen heute.
Eine interessante Bildungs- und Lernzeit bescheren diese Erkenntnisse den Kindern allerdings noch lange nicht. Nach wie vor hegen Erzieherinnen in Deutschland Groll gegen das Lernen: Sie setzen es gleich mit Leistungsdruck und Überforderung, sprechen von "Verschulung" und beklagen den Verlust von Kindheit schlechthin. Das, wer würde widersprechen, will man Kindern ersparen.
Wo aber in Kindergärten Gemütlichkeit verordnet wird in überdekorierten Räumen, wo der Blick in die Außenwelt behindert wird durch Schablonenschmetterlinge und Bilderbuchwolken an den Fenstern - da sind Kinder weniger "unterfordert" (was haben wir von ihnen zu fordern?) als gelangweilt und in ihrem Potenzial unterschätzt. Noch wird in vielen deutschen Kindergärten den Kleinen unterstellt, sie hätten es gern möglichst anspruchslos. Von den 4000 wachen Stunden, die ein Kind dort verbringt, könnten viele die lebendigsten, unvergesslichsten Stunden des Lebens sein. Sie sind es leider nicht.
Dabei weisen uns Hirnforschung und neue Studien mit Säuglingen den Weg. Von den Titelseiten amerikanischer Zeitungen, Newsweek, New York Times, blickt uns seit einiger Zeit ein anderer Typ von Baby an. Statt friedlich schlummernder Säuglinge oder prall gesunder Zwiebackbabys, richten sich schlanke Babys auf; "kompetente Säuglinge" runzeln nachdenklich die Stirn. Wir haben sie lange unterschätzt, diese leidenschaftlichen Experimentierer und Lerner, sagen amerikanische Säuglingsforscher - unterschätzt in dem, was sie bereits wissen, vor allem unterschätzt in dem, was sie können und lernen wollen.
Nicht nur Essen und Fortpflanzung erzeugen die bekannten Botenstoffe im menschlichen Gehirn, sondern auch das Problemlösen, haben Hirnforscher beobachtet. Diese Botschaft verändert unseren Blick aufs Kind: Der Mensch will lernen, üben, von Anfang an. Er will Probleme lösen, nicht nur als Diktat, als Leistungsqual, sondern als primäres Glückserlebnis - vorausgesetzt, das Kind ist beteiligt am Wissensaufbau. Die Säuglinge, die ein Mobile selbst mit dem Fuß in Bewegung setzen können, bleiben länger bei der Sache und glucksen häufiger als Gleichaltrige, denen das bewegte Mobile nur vorgeführt wird.
Die Entwicklungspsychologie entdeckte kognitive "Fenster" im dritten, vierten, fünften Lebensjahr: optimale Zeitpunkte für die Aneignung von Akzent und Basisgrammatik einer zweiten Sprache, für die Orientierung im Raum und für elementares mathematisches Denken - oder für die Steigerung der in jedem Menschen angelegten Musikalität. Von "strahlender Intelligenz" der Kinder in den frühen Jahren sprach Sigmund Freud. Peter Sloterdijk beschreibt die Lichtquelle genauer: Da erscheint das erkenntnissuchende, das "sich selbst bildende Kind" als eines, das wie ein Grubenarbeiter die Laterne auf dem Kopf trägt, mit der es sich seinen Weltausschnitt beleuchtet.
Das anthropologische Staunen, dieser neugierige Respekt gegenüber dem kognitiven Potenzial unserer Nachkommen, ist gute Zukunftspflege. Wenn es so ist, dass Kinder den Blick, den sie auf sich ruhen fühlen, zurückspiegeln, zunächst als Selbstreflexion, später auf die eigene Familie, vielleicht aber auch auf die Gesellschaft als Ganze - dann könnte daraus eine für vieles offene Mentalität entstehen. Jene Zeiten dagegen, in denen Erwachsene sehr genau zu wissen meinten, wie Kinder sind und was sie brauchen - sei es Zucht, sei es Selbstverwirklichung -, haben wohl eher autoritäre und eindimensionale Zeitgenossen hervorgebracht.
Nicht brav oder stark müssen unsere Kinder werden, sondern wach und intelligent. Für die menschliche Fähigkeit, von Anfang an Weltwissen aufzubauen, gibt es zwar eine neue Aufmerksamkeit. Doch die Konsequenzen für Lernen und Bildung von Anfang an stehen noch aus - insbesondere im Kindergarten, der ein ideales Milieu ist für das neue Verständnis des Lernens.
Anders als in der Schule, die das Vorwissen der Kinder wenig achtet, kann im Kindergarten zum Tragen kommen, was sie bereits können. Der Bildungsauftrag des Kindergartens wird es dann sein, Eigenschaften und Fähigkeiten, die Kinder mitbringen, zu steigern. Ihre primäre Musikalität zum Beispiel. "Nicht musikalisch" zu sein ist erst erlernt. Erzieher müssen dem Kind helfen, die Singstimme zu finden, einen Rhythmus in den Füßen zu spüren. Kinder staunen über alles und zugleich über gar nichts, ein kognitives Kunststück, das Erwachsene nicht mehr so leicht zustande bringen.
In dieser Eigenschaft sind Erzieherinnen den Kindern näher als alle Fachdidaktiker. Und die kulturschöpferische Energie der Kinder - wie sie die Sandburg, von der Welle fortgespült, gleich wieder neu aufbauen -, sie wird im Kindergarten nicht benotet, nicht eingespannt in Erfolgskalkül. Die ersten Botschaften können auf Kritzelbriefen ausgetauscht werden. Sie können, wie in den Reggio-Kindergärten in "Freundschaftskästen" eingelegt werden ohne Angst vor Richtig und Falsch. Probegänge in die Welt des Schreibens in einer Kultur der Freundschaft, ohne Abschreiben vom anderen, ohne Verkrampfungen, die, in frühen Schuljahren erworben, uns oft lebenslang das expressive freie Schreiben verleiden.
Und dann eine weitere Stärke aller Kinder: wie sie verzeihen können. Das Schulfach Verzeihen gibt es nicht. Es ist ein Lebensfach, das im Kindergarten geübt wird. Die Großzügigkeit, mit der Kinder die Leistungen anderer bewundern, ihr unbedingter Wunsch, der "Welt, die sie als ein Höheres ahnen, angehören zu wollen" (Hegel) - im Kindergarten kann es kultiviert werden, ohne dass die Kinder sich dadurch selbst abwerten und in der Konkurrenz zurückfallen. Hier könnte es viele Gelegenheiten geben für den Aufbau von Selbstbewusstsein für ihren eigenen Beitrag: Ich würde fehlen, wenn ich nicht da bin! Im Kindergarten der amerikanischen Vorschulpädagogin Nancy Hoenisch wird das wegen Krankheit abwesende Kind durch eine Puppe vertreten, die Kinder legen sie ins Bett und streicheln sie.
Zeit für Experimente, Zeit für Fehler, fürs Üben, für Wiederholungen - der Kindergarten bietet das alles. Elementare Zugänge zu Naturwissenschaften, der Schrift, den Künsten. Im Kindergarten kann ihnen die Welt ein Labor werden, ein Atelier, eine Werkstatt. Oder ein Wald. Oder der Mond.
Die Erzieher müssen den Kindern helfen, ihr Tagesprogramm in persönliche Lernerlebnisse zu verwandeln. Beim Waldtag etwa werden sie sich nicht auf einen Lehrpfad zurückziehen. Wie die Nadelhölzer heißen, interessiert sie weniger als der Lebenskampf: Wer frisst wen? Wie das Leben wimmelt unter dem Baumstamm. Und was davon kann ein Mensch essen?
Um sich von den Kindern mitnehmen zu lassen ins Offene, auf ihre Entdeckungsreisen und Mondlandungen - dazu müssen die Erwachsenen ihrer Sache sicher sein. Nur wenn man viel weiß, kann man auf komplizierte Fragen einfache Antworten geben, Antworten, die wieder neue Fragen auslösen. Dass die deutsche Erzieherausbildung von kleiner Flamme auf ein anspruchsvolleres Niveau gehoben werden müsste, daran zweifelt niemand. "Je mehr man von der Welt weiß, umso interessanter wird sie" - diesen vorangeschobenen Horizont müssten Erzieher auch selbst im Beruf immer wieder erfahren können. Dafür brauchen sie Abstand zu den Kindern. Erzieher sind gesellig, neue Ideen entstehen im Gespräch. Dafür muss es Zeit geben, Bildungszeit für Erzieher, als Fortbildungspflicht von den Trägern finanziert. Mehr reisen müssten sie alle, ihren Blick bilden an guter Praxis in anderen Weltgegenden.
Warum gibt es Auslandspraktika nur für Studenten, warum nicht für Erzieherfachschüler? Warum schickt man Kindergartenteams im Rahmen von Städtepartnerschaften nicht als Botschafter und Beobachter von Bildung in früher Kindheit anderswo? Warum gibt es keine öffentlichen Preise für die Kindergärten, die etwas Neues wagen und zeigen, was Bildung in diesem Alter heißen kann? In den skandinavischen und den meisten anderen europäischen Ländern auch werden Kindergartenerzieher an Hochschulen ausgebildet - warum bilden gerade Deutschland und Österreich mit ihrer Erzieherausbildung an Fachschulen das Schlusslicht in Europa?
Wenn man den Erziehern Hochachtung für ihre Aufgabe anmerken soll, müssen sie selbst mehr Achtung für ihre Bildungsarbeit erfahren. Diese öffentliche Anerkennung wird dann auch zurückstrahlen auf die Kinder. Sie sollten wissen, dass es für sie bessere Gründe gibt, ihre kostbare frühe Lebenszeit in einem Kindergarten zu verbringen als nur der Mama beim Haarefärben oder im Büro aus dem Weg zu sein.