Susanna Roux
Fragen nach Bildungsmöglichkeiten fanden in der Pädagogik der frühen Kindheit lange Zeit keine Anerkennung, trotz vorliegender theoretischer und praktischer Erkenntnisse. Ist Bildung vielleicht (doch) kein Thema für die Erziehung im Kindergarten? Schließlich ließ das Bekenntnis zum vorschulischen Bildungsauftrag nicht nur lange auf sich warten. Zu fragen ist auch, wie konsequent dieser Auftrag vollzogen wurde bzw. wird. "Verbuddeln wir unsere Kindheit im Sand?", versäumen wir es, wesentliche Bildungschancen zu nutzen beim "Trödeln im Spielparadies"? Jedenfalls sind solche Äußerungen gegenwärtig vielerorts zu hören.
Die PISA-Studie bietet die einmalige Chance, dieses Thema wieder in breiterem Rahmen zu diskutieren. Das sollte auf einer fachlich fundierten Basis geschehen. Das bedeutet, es müssen theoretische sowie praktische Erkenntnisse unterschiedlicher Couleur beleuchtet werden. Neben dem Blick auf die aktuelle Lage kann es auch hilfreich sein, bildungsgeschichtliche Aspekte mit aufzunehmen.
1. Die PISA-Studie und ihre Aussagekraft für die Vorschulerziehung
Kein Ereignis hat die bundesweite Öffentlichkeit seit fast einem Jahr wohl so beschäftigt wie die Bekanntgabe der Ergebnisse der so genannten "PISA-Studie", die Deutschland "über Nacht in einen nationalen Bildungsschock" (Fthenakis, 2002) versetzten.
"PISA" ist die Abkürzung für "Programme for International Student Assessment". So heißt die internationale standardisierte Leistungsmessung zu Basiskompetenzen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler verschiedener Länder, die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) initiiert wurde (Baumert et al., 2001). Die Studie umfasst drei Erhebungszyklen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Die bereits vorliegenden Ergebnisse beziehen sich auf die Schwerpunktsetzung Lesekompetenz. Diese Daten wurden im Frühsommer des Jahres 2000 erhoben. Im Jahre 2003 wird die mathematische und im Jahre 2006 die naturwissenschaftliche Grundbildung im Mittelpunkt der Erhebungen stehen.
Neben diesen kognitiven Fähigkeiten werden aber auch fächerübergreifende Kompetenzen erfasst. Hierzu gehören Kooperation und Kommunikation, selbstreguliertes Lernen und geschlechtsspezifische Unterschiede. Weitere Informationen werden zu familiären Hintergründen und Lebensbedingungen der Schülerinnen und Schüler aufgenommen.
Die Zielsetzung der Studie liegt unter anderem darin, den teilnehmenden 32 Ländern den jeweiligen Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler am Ende der Pflichtschulzeit anzuzeigen. So sollen die aus der Studie gewonnenen Daten etwa Auskunft über die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der nationalen Bildungssysteme geben.
PISA 2000 zielte darauf ab, zu erfahren, inwieweit die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, sich mit unterschiedlichen Textarten auseinander zu setzen. Es ging hier konkret um das Ermitteln von Informationen, das Interpretieren von Texten, um Reflexion, Bewertung des Inhalts und der Form.
Betrachtet man die Ergebnisse, so liefert die Nationenrangliste einen Überblick darüber, welchen Rang die Teilnehmerstaaten im internationalen Vergleich einnehmen. Im Bereich der Leseleistungen belegte Deutschland hier (nur) den 21. Platz, und lag somit unter dem OECD-Durchschnitt. Alarmierend wirken dabei vor allem folgende Punkte: Fast 10 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler erreichten die unterste von insgesamt fünf Kompetenzstufen bei der Lösung der Aufgaben nicht. Hier handelt es sich um die so genannte Risikogruppe. Weitere 13% der Schülerinnen und Schüler kamen nicht über die erste Kompetenzstufe hinaus, die in etwa Grundschulniveau entspricht. Das bedeutet, dass fast ein Viertel (23%) der getesteten deutschen 15-Jährigen in ihrer Lesekompetenz nicht über Grundschulniveau hinaus kommt. Weiterhin alarmierend ist auch die große Streuung der Leistungen. Bei uns ist der Abstand der 5% schlechtesten zu den 5% besten Schülerinnen und Schülern am größten. Außerdem geben 42% der Schülerinnen und Schüler an, nicht zu ihrem Vergnügen zu lesen. Der OECD-Durchschnitt lag hier bei 31%.
Eine besondere Bedeutung erhalten die Ergebnisse, wenn wir betrachten, welche Faktoren für die erreichte Lesekompetenz mitverantwortlich gemacht werden können:
- Männliche Schüler schneiden im Vergleich zu ihren weiblichen Mitschülern besonders schlecht ab. Zwei Drittel der 15-jährigen Schüler, die die unterste Kompetenzstufe nicht erreichen, sind Jungen
- 21,7% der beteiligten Jugendlichen leben in Familien mit Migrationsgeschichte. Von diesen Jugendlichen besuchten mehr als 70% nach eigenen Angaben schon seit dem Kindergartenalter deutsche Bildungseinrichtungen. Die meisten kamen also bereits lange vor der Durchführung von PISA in den Genuss vorschulischer Erziehung und Bildung sowie der daran anschließenden Bildungsinstitutionen. Hat es das Vorschulsystem (und später das Schulsystem) in Deutschland verpasst, auf den Zweitspracherwerb dieser Jugendlichen einzuwirken?
- Auch die soziale Herkunft und das damit einher gehende Bildungsniveau spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Solche Zusammenhänge lassen sich übrigens bereits in Studien aus den 70er Jahren finden (Mundt, 1980). Ein erheblicher Teil der Jugendlichen, die die unterste Kompetenzstufe nicht erreichten, stammt aus Familien mit Migrationsgeschichte und niedrigem sozialen Status.
Männliches Geschlecht, Migrationshintergrund und niedriger sozialer Status stellen also Risikofaktoren dar, die in ihrer jeweiligen Kombination als Ursachen für mehr oder minder gute Leistungen bezüglich der Lesekompetenzen genannt werden können. Dies wirft natürlich Fragen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation auf. Und Fragen nach Erfolg bzw. Misserfolg beabsichtigter Chancengleichheit im gesamten Bildungssystem.
Vor allem die unterschiedlichsten Bildungspraktiken der teilnehmenden Staaten stehen zur Diskussion. In Deutschland wird u.a. die Frage diskutiert, ob die frühzeitige soziale Segregation (soziol.: Trennung von Personengruppen mit vermeintlich gleichen - z.B. sozialen - Merkmalen von Personengruppen mit anderen Merkmalen, um Kontakte untereinander zu vermeiden) der Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse nicht eher unterschiedliche Bildungschancen festigt, denn der Chancengleichheit nutzt. Und es lassen sich plausible Rückschlüsse auf Risikogruppen ausmachen, auf die schon in der Vorschulerziehung eingewirkt werden kann, in Richtung des Ausgleichs von familiär bedingten Bildungsunterschieden. Aber zu dieser Erkenntnis kamen wir nicht erst durch PISA.
Aus Sicht der Pädagogik der frühen Kindheit muss festgehalten werden, dass sich die Ergebnisse nicht direkt zur Erläuterung guter oder schlechter Bildungsarbeit im Kindergarten nutzen lassen. Auch Forderungen wie die um eine Vorverlegung der Einschulung, die in der Folge der Studie öffentlich debattiert werden, lassen sich nicht direkt aus den Ergebnissen ableiten.
Die Erklärung dazu ist einfach, denn die Ergebnisse betreffen die unter bestimmten Kriterien gemessenen Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern. Sie leisten keine längsschnittliche Beschreibung von Lernprozessen im Lebenslauf der Kinder. Sie erlauben daher auch keine empirisch fundierten Aussagen über die allgemeine Bedeutung oder den spezifischen Einfluss vorschulischer Bildungseinrichtungen auf die Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Relevanz der PISA-Studie für die Vorschulerziehung ergibt sich also nicht aus der direkten Betrachtung der Test-Ergebnisse.
Gleichwohl aber indirekt aus den in ihr dargestellten Zusammenhängen. So hat die PISA-Studie wieder einmal die grundlegende Bedeutung der Lesekompetenz für die Bereiche des alltäglichen Lebens vorgestellt und eindrücklich betont (Baumert et al., 2001). Wer viel und gut liest, hat große Chancen, höhere Bildungsniveaus zu erreichen. Denn über die Schrift werden Informationen und Ideen, Wertvorstellungen und kulturelle Inhalte vermittelt. All das ist Voraussetzung für die Teilhabe an sozialen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft. Mangelnde Lesekompetenz und, damit eng verbunden, mangelnde Sprachkompetenz bringen also einen großen Chancennachteil mit sich. Die Folgerung liegt nahe, dass der Förderung von Sprachkompetenz schon vor dem Eintritt in die Primarstufe erhebliche grundsätzliche Bedeutung zukommt. Prinzipielle (alle Kinder betreffende) und spezielle (Kinder mit besonderen Bedürfnissen betreffende) Sprachförderungen werden insofern auch zukünftig wichtige Themen der Vorschulerziehung sein.
Der Nutzen der PISA-Studie für den Elementarbereich liegt also einmal darin, das Augenmerk einerseits wieder auf besondere Entwicklungsschwerpunkte zu lenken. Andererseits bietet sie die Chance, die Bildungsfrage in der frühesten Kindheit auf breiter Ebene zu thematisieren. Schon einmal kam der vorschulischen Erziehung erhöhte Aufmerksamkeit entgegen. Nämlich in der Bildungsreform. Interessant ist es nun, ihre Geschichte nachzuzeichnen, um etwaige Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zur aktuellen Situation offen zu legen.
2. Von der Bildungsreform bis heute
Am Vorabend der Bildungsreform Mitte der 60er Jahre befand sich Deutschland in einer Phase des Wirtschaftswachstums. Die expandierende Wirtschaft benötigte dringend Fachkräfte. Gleichzeitig erschütterte der so genannte Sputnikschock Ende der 50er Jahre die westlichen Industrienationen. Man suchte händeringend nach Strategien, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Zusammenhang wurde der Bildungsnotstand bzw. die Bildungskatastrophe ausgerufen (Picht, 1964). Die Reform der Bildung wurde als Ausweg aus der Krise gefordert.
In bildungspolitischer Hinsicht suchte man nach Lösungen zur Steigerung der Effizienz des Bildungssystems. Sozialpolitisch verfolgte man die Hoffnung auf Chancengleichheit. Diese inhaltlichen Überlegungen zur Neustrukturierung des Bildungswesens führten zur "Entdeckung" der frühkindlichen Bildungschancen. Unterstützt wurde dies durch Erkenntnisse zur Beeinflussung der Intelligenzentwicklung im frühen Kindesalter aus lerntheoretischer Sicht. So wurde schnell Kritik an der traditionellen Kindergartenpädagogik laut, insbesondere auch aus schulorientierter Richtung. Beispielsweise prangerte man die praktizierte "Schonraumpädagogik" an. Die Kinder würden künstlich dumm gehalten.
Als Konsequenz der bildungsreformerischen Neuerungen wurde im Strukturplan für das deutsche Bildungswesen von 1970 (Deutscher Bildungsrat, 1970) der Kindergarten als unterste Stufe bzw. Elementarbereich dem Bildungssystem zugeordnet. Er sollte nun eine Doppelfunktion innehaben: einerseits der Entlastung von Familien dienen, andererseits den Auftrag der pädagogischen Förderung aller Kinder erfüllen.
Gleichzeitig schlug der Deutsche Bildungsrat vor, die Fünfjährigen aus dem traditionellen Kindergarten herauszunehmen und in besonderen Vorklassen zusammenzufassen. So sollte die stärkere schulbezogene Förderung dieser Altersgruppe ermöglicht werden. All dies löste nachhaltige Auseinandersetzungen um die Zuordnung der Fünfjährigen aus. Eine Entscheidung sollte von den Ergebnissen aus Modellversuchen (Vorklasse, Modellkindergarten) abhängig gemacht werden. Letztendlich wurde die Entscheidung politisch getroffen. Die Ergebnisse waren, wenn überhaupt vorhanden, nur sehr schwach. In der Folge verstärkte sich das Engagement in inhaltlichen Richtung. Unterschiedlichste Vorschulcurricula wurden entwickelt und im Rahmen eines überregionalen Erprobungsprogramms erprobt.
Mit dem Ausklingen der Vorschulreform gegen Ende der 70er Jahre kehrte sich die Vorschulpädagogik wieder dem Alltagsgeschäft zu (u.a. Retter, 1983). Die Verbreitung der Ergebnisse aus dem Erprobungsprogramm erfolgte allenfalls vereinzelt. Die "hohe Theorie der Curriculumdiskussion" wurde nach 1978 durch eine "einfache Theorie der Praxis" abgelöst. Gründe dafür liegen u.a. darin, dass die Leitziele und Ideen der Reform sich für die Praktiker als zu abstrakt und anspruchsvoll erwiesen. Sie scheiterten letztlich an der Praxis. Ein weiterer Schwachpunkt ist wohl auch darin zu sehen, dass Fachschulen nicht konsequent einbezogen wurden.
Als interessante und für unsere Fragestellung bedeutende Entwicklung ist festzuhalten, dass sich die Vorschulerziehung weitgehend resistent gegenüber schulbezogener Förderung zeigte. Diese Konzepte bewährten sich scheinbar in der Praxis nicht. Stattdessen besann man sich auf Aspekte einer ganzheitlichen Pädagogik. Im Gegensatz dazu nahm nun die Grundschule Akzente der Kindergartenpädagogik auf. Eine Entwicklung, die uns zu denken geben sollte. Denn auch aus dieser Sicht wird unterstrichen, dass Formen und Methoden der vorschulischen Erziehung direkten Einfluss auf das Denken und Lernen der Kinder nehmen und sogar bewusst zur kindgerechten Gestaltung solcher Prozesse genutzt werden (u.a. Petillon, 1997; Petillon & Valtin, 1999).
In dieser kurzen Skizze der Reformgeschichte deutet sich bereits an, dass sich das Bildungsverständnis gewandelt hat. Bildung wird nicht mehr nur auf originär kognitive Leistungsmerkmale eingrenzt (z.B. Rechnen können), sondern bezieht weitere Kompetenzen u.a. sprachlicher, sozialer und emotionaler Art ein.
Auch ein Wandel am Kindbild vollzog sich (vgl. Fried, im Druck). Wurden Erziehung und Bildung vor der Bildungsreform deutlicher aus der Perspektive des Kindes heraus konzipiert, so wurden sie danach, ausgehend durch die Funktionsdidaktik, mit Blick auf die gesellschaftlichen Erfordernisse definiert. Dieser Wandel wurde aber durch die Praxis nicht mit getragen. Es folgte die Hinwendung zu situationsdidaktischen Ansätzen, später wieder stärker individualisierenden Konzepten (z.B. Situation der Scheidungskinder).
Auch gegenwärtig deutet sich ein gewisser Trend hin zu gesellschaftlich begründeter Vereinnahmung von Erziehung und Bildung mit dem Blick auf gesamtgesellschaftliche Ziele an. Die Gefahr einer schulorientierten Vereinnahmung ist offensichtlich. Hier sollten wir vorsichtig sein mit allzu schnellen "Hurra-Rufen" und "Freudentänzen" angesichts der Fülle an Materialien und Vorschlägen zum "Ausweg aus der Krise". Denn nach wie vor ist auf die schwache Absicherung aus wissenschaftlicher Sicht hinzuweisen. Selbst wenn einige wissenschaftliche Vorschulprogramme existieren, die Erwachsenen Bildungshinweise geben, ist unklar, ob diese Programme ihren Zielen auch gerecht werden (Fried, im Druck). So zeigen die wenigen Studien zu Wirkungsfaktoren von Vorschulprogrammen in der Pädagogik der frühen Kindheit entweder eine Wirkungslosigkeit, ein Anhaften an Altbewährtem (z.B. Barres, 1972; Röchner, 1987; zitiert nach Fried, im Druck) bzw. ein gemischtes Bild der Wirkungen auf die Praxis (u.a. Wolf, Becker & Conrad, 1999).
3. Zur gesellschaftspolitischen Problematik von "Bildung" im Kindergarten
Bereits Friedrich Fröbel, der "Vater des Kindergartens", betonte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bildungsmöglichkeiten im frühen Kindesalter. Er legte sogar bedeutende Grundlagen für die Frühpädagogik. Trotz dieser Pionierarbeiten hat der Kindergarten seit jeher mit seiner Legitimation als Bildungsinstitution zu kämpfen. Der Bildungsaspekt stand stets - wenn er überhaupt geäußert wurde - im Schatten der Familienfürsorge.
Dies kann man bereits den Auseinandersetzungen bzw. dem Richtungsstreit um Begründung und Inhalt der öffentlichen Kleinkinderziehung zwischen Fröbelianern und konfessionell orientierten Einrichtungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Reyer, 1987) entnehmen. Letztendlich wurde die öffentliche Kleinkinderziehung als "sozialhygienische" Maßnahme des Staates in der Kinder- und Jugendfürsorge verstanden.
Das zeigt sich auch in der gesetzlichen Fixierung dieses bevölkerungspolitisch-sozialhygienischen Motivs durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922. Interessant ist, dass bereits kurz zuvor, nämlich anlässlich der Reichsschulkonferenz von 1920 (Reyer, 1987, S. 70f.), Forderungen nach einer Einheit der Bildung vom Kindergarten bis zur Hochschule diskutiert wurden. Der in diesem Zusammenhang eingebrachte Vorschlag, den Besuch von Kindereinrichtungen zur allgemeinen Pflicht zu machen, wurde abgelehnt.
Schließlich dominierte auch in der Nachkriegszeit die Funktion der Nothilfeeinrichtung für elternlose, vernachlässigte und von Verwahrlosung bedrohte Kinder. Die im Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 festgelegte Standortbestimmung sieht den Kindergarten denn auch als familienfürsorgerische Einrichtungsform, eingeordnet in das subsidiär organisierte System der Jugendhilfe.
Dass dies nicht zwingend dazu kommen muss, zeigt ein Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte. In der sowjetischen Besatzungszone erfolgte bereits seit 1946 die gesetzliche Einbindung des Kindergartenbereichs in das staatliche Bildungssystem (mit Erziehungs- und Bildungsauftrag), die auch in der späteren DDR gesetzlich verankert wurde.
Im Prinzip hat sich, zumindest im Westen, seit Anbeginn der öffentlichen Kleinkinderziehung und in Bezug auf bildungspolitische Weichenstellungen nie etwas grundlegend geändert. Die Etablierung, Verbreitung und inhaltliche Bestimmung der Institution Kindergarten wurde stets eher durch primär erwachsenen- und gesellschaftsbezogene Argumente bestimmt, nicht durch kindbezogene (u.a. Liegle, 2001). Letztendlich waren auch nicht in erster Linie bildungspolitische Überlegungen entscheidend für die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Jahre 1996, sondern u.a. frauenpolitische Forderungen im Rahmen der Auseinandersetzungen um den Abtreibungsparagraphen (u.a. Elschenbroich, 1998). Es lassen sich also bereits auf strukturell-konzeptueller Ebene Schwierigkeiten ausmachen, die Bildungsthematik zu einem zentralen frühpädagogischen Thema zu machen.
4. Bildung in der Pädagogik der frühen Kindheit
Die ganze Debatte um PISA und die Folgen ist letztlich nutzlos, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, was wir unter Bildung im Allgemeinen bzw. Bildung im Kindergarten verstehen. Nicht nur die allgemeine Bestimmung des Begriffs ist kaum möglich. Auch seine Spezifizierung auf den frühpädagogischen Bereich stellt ein zwar interessantes, aber kompliziertes Unterfangen dar.
Allein schon in der Umgangssprache reicht die Bedeutung von der Beschreibung der Bildung als anzustrebendes, wertvolles Gut, über Bildung als Zustand des Bewusstseins bis hin zur Beschreibung von Bildung als Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit (u.a. Pleines, 1978). Diese ersten vagen Beschreibungen deuten bereits darauf hin, dass mit dem Begriff Bildung gemeinhin eine bestimmte Zustandsform des menschlichen Seins gekennzeichnet wird.
In historischer Sicht kann man u.a. folgende Grundauffassungen des Begriffs ausfindig machen (u.a. Wehnes, 2001):
- Zunächst den mystisch-religiösen Bildungsbegriff des 14. Jahrhunderts, dem ältesten deutschen Begriff für Bildung. Bildung beschreibt hier die Gottesebenbildlichkeit (imago dei) und bezieht sich (noch) nicht auf den ganzen Menschen, sondern vielmehr auf seine gottesbildliche Seele, die von außen kaum steuerbar erscheint.
- Eine weitere historische Grundvorstellung mit deutlich anderer Akzentuierung stellt das organologische Bildungsverständnis der Renaissance und des Humanismus dar. Bildung wird darin als naturhaft-organischer Wachstumsprozess verstanden, der möglichst ohne äußere Störungen zur Entfaltung der inneren Anlagen und geistigen Keimkräfte kommen soll. Der Mensch soll nicht einfach von außen geformt werden, sondern hat ein naturgegebenes Recht auf die Ausbildung seiner individuellen Anlagen (Selbstgestaltung des Menschen).
- Erst der Bildungsbegriff z.B. der Spät-Aufklärung betont ein spezifisch pädagogisches Bilden anderer Menschen. Er steht in engem Zusammenhang mit dem (neuen) Glauben an die menschliche Vernunft.
Bereits dieser kurze Einblick zur Entwicklungsgeschichte des Bildungsbegriffs macht als zentrale Problematik die Wandelbarkeit der Basisvorstellungen zu Bildung in Abhängigkeit von historisch-gesellschaftlichen Leitideen deutlich.
In Bezug zur Frühpädagogik scheint die Unterscheidung zwischen so genannten materialen und formalen Bildungsauffassungen fruchtbar zu sein (u.a. Klafki, 1978):
- Die materiale Bildungstheorie vertritt das Ziel, möglichst umfassende Bildungsinhalte (Bildungsmaterial) zu vermitteln. Der Zielzustand "gebildet sein" steht im Zentrum der Bemühungen. Diese konzentrieren sich auf inhaltliche Fragestellungen. Im Grunde wird hier der Blick auf die Objektseite des Bildungsgeschehens gerichtet. Je mehr und je umfassender Inhalte vermittelt werden, desto besser. Dies erinnert nun stark an den Nürnberger Trichter - die Vorstellung, wir könnten unabhängig von den Voraussetzungen des zu Bildenden Bildungsinhalte nach eigenem Ermessen "eintrichtern". Außer dieser lassen sich weitere Schwachstellen an diesem Verständnis nennen. So können nicht alle Bildungsinhalte vermittelt werden. Außerdem existiert kein Konsens über wichtigste bzw. weniger wichtige Bildungsinhalte. Und schließlich wandeln sich Bildungsinhalte sehr schnell, sie "veraltern" in kurzer Zeit.
- Die dieser Grundposition konträre Auffassung, die formale Bildungstheorie, sieht das Ziel von Erziehung und Bildung in der Entwicklung (bzw. Formung) der Kräfte und Fähigkeiten des Lernenden. Hier wird das Subjekt in den Blick genommen, nämlich das Kind bzw. die Person, die gebildet werden soll. Im heutigen pädagogischen Sprachverständnis geht es hier um die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. Zu ihnen gehören neben der Fähigkeit zur Reflexivität, der Fähigkeit zu Selbständigkeit insbesondere Methodenkompetenzen (z.B.: Wie lerne ich am besten?). Zu ihnen gehören aber auch Sozialkompetenzen (z.B.: Wie gehe ich mit sozialen Konflikten um?). Schwierig am formalen Bildungsverständnis bleibt allerdings die Vernachlässigung der Bildungsinhalte zu Gunsten der Schlüsselqualifikationen.
Somit ist keine der beiden Positionen für sich allein genommen aussagekräftig, um das Verständnis von Bildung befriedigend zu kennzeichnen. Letztendlich geht es wohl um eine Verbindung beider Vorstellungen. Denn würden wir den Zustand "gebildet sein" als einziges Kriterium zulassen, dann bräuchten wir Bildung in der frühen Kindheit nicht diskutieren. Wer würde ein sechsjähriges Kind in diesem Sinne als gebildet bezeichnen? Mehr noch, man könnte sogar in Frage stellen, ob die Mehrheit der Menschen einen solchen Zustand je erreichen kann. Eine Festlegung an einer Zieldimension "gebildet sein" erscheint insofern unbefriedigend.
Also rücken die Kennzeichen des Bildungsprozesses in die Betrachtung. Bildung wird hier um eine Handlungsdimension erweitert, nämlich die der "Art und Weise des sich Bildens" (aus der Sicht des Individuums). Gleichzeitig legt dieser Zugang auch den pädagogischen Aspekt eines "den anderen in seinem Bildungsprozess unterstützenden Handelns" nahe. Wobei hier noch völlig offen ist, welcher Art diese Unterstützung sein kann.
Schließlich könnte als eine dritte Dimension die des Bildungskontextes in den Blick gerückt werden. Denn Bildung ist immer in z.B. soziale, kulturelle und strukturelle Kontexte eingebettet, die je hemmend oder unterstützend wirken können.
Lässt man sich auf diese Konkretisierung ein, dann ist der Begriff Bildung nicht zu trennen von dem der Erziehung (vgl. auch Brezinka, 1995). Insofern könnten wir Bildung also gleich setzen mit Erziehung. Und in Bezug auf unsere Altersgruppe spricht meines Erachtens einiges dafür.
Wie sieht es nun aus mit der Anwendbarkeit solcher Vorstellungen? Welche Art Bildung brauchen Kinder?
Derzeit existiert weder eine allgemein anerkannte Bildungsdefinition für den Elementarbereich noch ein fest geschriebenes, allgemein gültiges Bildungsverständnis, das einer solchen Bildungsdefinition zugrunde liegen könnte. Auch im Recht der Kinder auf Betreuung, Bildung und Erziehung, das wir im Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 (§ 22 Abs. 1, 2) nachlesen können, sucht der interessierte Leser vergebens nach einer näheren Bestimmung der Begriffe bzw. nach Vorschlägen zu ihrer Realisierung.
Bleibt die Möglichkeit, sich mit den 12 Empfehlungen für Reformen im deutschen Bildungswesen auseinander zu setzen, die das Forum Bildung auf Initiative von Bund und Ländern vorgestellt hat (Forum Bildung, 2001). Sie fassen die Ergebnisse einer zweijährigen Arbeit zusammen, die dazu dienen sollte, Grundlagen für Bildungsreformen zu erarbeiten.
Auch das Forum Bildung geht davon aus, dass Bildung eine Schlüsselrolle in der Gesellschaft von morgen haben wird sowie Wissen und Kompetenzen gleichzeitig beinhalten muss. Als vordringliche Ziele für den Elementarbereich werden die frühe und individuelle Förderung des Lernens angesehen, auch mit Blick auf die Grundschule.
Richten wir den Blick auf die zentralen Adressaten der pädagogischen Bildungsbemühungen, die Kinder, könnte man den Eindruck erhalten, dass sie unserer Unterstützung auf ihrem Bildungsweg eigentlich gar nicht bedürfen. Denn Kindern werden gegenwärtig schon in frühester Jugend enorme Fähigkeiten zugeschrieben. Diese Beschreibungen verdichten sich zu einem Bild der wissenden, sich selbständig handelnd mit seiner Umwelt auseinandersetzenden Persönlichkeit, die mehr ist und kann, als Erwachsene häufig hinter ihr vermuten. Schon Säuglinge werden als "Forschergeist in Windeln" (Gopnik, Kuhl & Meltzoff, 2001), oder als "kompetent" (Dornes, 1993) bezeichnet.
Natürlich lassen sich solche Verweise nicht einfach vom Tisch wischen. Außerdem werden sie durch Forschungsergebnisse belegt. Insbesondere aus Sicht der Kognitionswissenschaften, zu denen u.a. Psychologie, Philosophie, Linguistik, Informatik oder die Neurowissenschaften zählen. Diese geben in jüngerer Zeit zahlreiche Hinweise auf komplizierte Wahrnehmungsvorgänge und ihre Bedeutung für die frühkindliche Entwicklung.
Wenn schließlich auch aus entwicklungspsychologischer Sicht resümiert wird, dass es sich in der frühkindlichen Bildung in erster Linie um Selbst-Bildung handelt (z.B. Schäfer, 1995), stehen wir vor der Frage, ob sich unsere pädagogische Aufgabe etwa auf die Gestaltung kindlicher Erfahrungsräume reduziert, um kindliche Erkenntnisprozesse anzuregen. Und wo wären in einem solchen Verständnis weitere kontextuelle Einflussfaktoren auf Bildung zu verorten, z.B. die Tatsache, dass Bildungsprozesse sehr stark von sozialen Interaktionen bestimmt und geleitet werden? Gerade hierauf deuten die Ergebnisse der PISA -Studie, wenn sie den Zusammenhang zwischen Sprachbeherrschung, Leselust und sozialem Kontext betonen. Denn es genügt eben nicht, unseren Kindern "(...) günstige Räume und reichhaltige Materialien zur Verfügung zu stellen und darauf zu vertrauen, dass sie stark, selbstbestimmt und aktiv genug sind, um diese Chance für ihre eigene Bildung zu nutzen. Vielmehr benötigen sie Erwachsene, die ihnen Bildungsmöglichkeiten bereiten, genau beobachten, wie sie auf diese Möglichkeiten reagieren, um so herauszufinden, wo und inwiefern sie neben der Anregung noch Stützung, Ermutigung und Vermittlung brauchen" (Fried, im Druck).
Nicht erstaunlich ist es daher, wenn das Bildungsverständnis in der frühen Kindheit dahingehend erweitert wird, einen Ansatz vorzuschlagen, der soziale und konstruktivistische Dimensionen verbindet (Fthenakis, 2002). Ein solcher Zugang betrachtet das Kind von Geburt an in soziale Beziehungen eingebettet und definiert Lernen und Wissenskonstruktion als interaktionalen und ko-konstruktiven Prozess. Hier geht es aus pädagogischer Sicht darum, pädagogische Leitlinien zu finden. Sie sollten den Interaktionsprozess so gestalten, dass Entwicklung sich überhaupt vollziehen kann.
Um kindliche Bildungsprozesse anzuregen, muss also ein in besonderem Maße förderliches Umfeld vorhanden sein. Das sollte dem sich entwickelnden Wesen prinzipielle Kompetenzen zur Eroberung und Erfahrung seiner Umwelt zugestehen und sich bewusst sein, inwiefern unterstützende Tätigkeiten und Interaktionen für die Entwicklung, Wissenserschließung etc. unentbehrlich sind. Auch wird hier deutlich, dass sich die beschriebenen Kompetenzen nicht nur auf kognitive Aspekte beziehen, sondern gerade die Vorteile der sozialen, emotionalen und dinglich-materiellen Erfahrung für die Entwicklung und als Wissensbasis nutzen.
Bildung im Vorschulalter bezieht sich also auf Basisfertigkeiten und Grundfähigkeiten zur Weltaneignung und Welterschließung. Dazu gehört aber auch, den Kindern behilflich zu sein, prinzipielle Lebenskompetenzen zu entwickeln. Solche Lebenskompetenzen scheinen besonders in unserer schnelllebigen, pluralistischen Gesellschaft angezeigt zu sein, in der beispielsweise soziale Orientierungen und Verbindlichkeiten immer brüchiger werden. Dies kann man zum Beispiel an der stetigen Zunahme der Scheidungsraten festmachen. Unsere Kinder brauchen auch hierin "bildungsbezogene" Erziehung und Unterstützung. Zum Beispiel muss ihnen etwas zugemutet werden, sie sollten gefordert werden, sich mit Konsequenzen ihres Tuns auseinandersetzen lernen, Durchhaltevermögen, Ausdauer und Beharrlichkeit entwickeln können, für ihr Tun verantwortlich gemacht werden dürfen usw.
Natürlich stehen oder fallen pädagogische Prozesse mit den Personen, die sie begleiten, arrangieren, initiieren. Wir wollen an dieser Stelle in aller Kürze die Erzieherinnen und die Eltern in den Blick nehmen. Welche Funktionen schreiben Erzieherinnen im Vergleich zu Eltern den Kindertageseinrichtungen zu? Zu dieser Frage liegen aktuelle Ergebnisse aus Rheinland-Pfalz vor.
Erzieherinnen (n=2.045) und Eltern (n=395) sollten im Rahmen einer Untersuchung zur Qualität im Kindergarten die Bedeutung von Betreuung, Bildung, Erziehung und Sozialisation in eine Rangfolge bringen. Demnach liegt für Eltern die wichtigste Funktion der Kindertagesstätte in der Betreuung, gefolgt von Sozialisation, Erziehung und, erst auf dem letzten Platz, von Bildung. In den Aussagen der Erzieherinnen nimmt die Sozialisation den wichtigsten Platz ein. Danach folgt die Erziehung, dann die Betreuung und auch hier - wiederum erst auf dem letzten Platz - die Bildung. Erzieherinnen und Eltern ordnen also gleichermaßen und ohne Unterschiede der Bildungsfunktion eine eher nachrangige Wichtigkeit in Kindertageseinrichtungen zu.
Kann durch diese Ergebnisse darauf geschlossen werden, dass Erzieherinnen dem Thema Bildung im Kindergarten eher ablehnend gegenüber stehen? Falls dem so ist, wie können sie dann bildnerisch tätig sein? Oder haben Erzieherinnen nur ein anderes Bildungsverständnis?
In den Elternantworten scheint sich möglicherweise eine gesamtgesellschaftliche Sichtweise der Aufgaben des Kindergartens widerzuspiegeln. Aber wie erklären sich die Elternantworten, wenn andererseits zahlreiche Ergebnisse aus Forschungsarbeiten zu finden sind, in denen Eltern dem Aspekt der Schulvorbereitung immer wieder eine herausragende Bedeutung zumessen (u.a. Wolf, Becker & Conrad, 1999)? Und wer wollte diese Bedeutung abstreiten, wenn wir betonen, dass der Kindergarten die erste Stufe des Bildungssystem darstellen muss?
5. Ausblick
Die PISA-Studie machte es möglich: Der Kindergarten ist wieder im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Dieses Interesse sollten wir produktiv nutzen. Und vor allem darauf achten, Fehler der ersten Bildungsreform zu vermeiden. Nach PISA scheinen insbesondere Veränderungen und Weiterentwicklungen in folgenden Bereichen wichtig: in der allgemeinen Organisationsentwicklung, der Programmentwicklung, der Qualitätsentwicklung, der Aus- und Fortbildung sowie bezüglich der Entwicklung neuer Formen der Elternarbeit/ Elternbildung.
Zur allgemeinen Organisationsentwicklung
Eigentlich hätte die prinzipielle Weichenstellung zur Reform der Bildung im Kindergarten bereits mit der Zuordnung des Kindergartens als Elementarstufe des Bildungssystems vor mehr als 30 Jahren grundgelegt sein können. Doch der Rückblick zur Bildungshistorie zeigte, dass diese Zuordnung letztendlich nicht konsequent vollzogen wurde. Es entsteht der Eindruck, als wäre die Bildungsthematik der Frühpädagogik von vorübergehender Wichtigkeit. Nämlich jeweils so lange, wie die Gefahr des Verpassens von Bildungschancen artikuliert wird. Falls dem so ist, könnte es schlimmstenfalls bedeuten, dass nach PISA 2006 das eben aufgeflammte Bildungsinteresse wieder im Sande versickert und wir zur frühpädagogischen Tagesordnung zurück gehen können.
Andererseits stellt sich die Frage, ob eine Anbindung des Vorschulwesens in das staatliche Bildungssystem mit allen Konsequenzen (kostenfrei, Anhebung des Ausbildungsniveaus usw.) letztendlich eine entscheidende Wende einleiten würde. Und angesichts der Finanzlage des Staates sind solche Vorstellungen, selbst wenn sie politisch gewünscht wären, realistischerweise nicht schnell zu verwirklichen.
Schließlich existieren in der gesamten Bundesrepublik an Universitäten derzeit nur insgesamt vier Lehrstühle zur Frühpädagogik. Dies deutet auf ein grundlegendes strukturelles Defizit unseres Fachs hin. Denn hier spiegelt sich seine gesellschafts- und bildungspolitische Stellung wider. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Frühpädagogik in Deutschland im Vergleich zu anderen "Bildungsdisziplinen" von wissenschaftlicher und forschungstheoretischer Seite her tatsächlich Entwicklungsland ist. Und wir uns eben nicht an aktuellen Erhebungen und Forschungsergebnissen in unserer täglichen Praxis orientieren können. Dabei wären, wie wir aus den bisherigen Äußerungen entnehmen konnten, u.a. Forschungsstudien und Evaluationen zu folgenden Aspekten der frühpädagogischen Praxis mehr als nötig:
- Studien zu Handlungsroutinen im Alltag der Einrichtungen (An welchen Bildungszielen orientieren sich Erzieherinnen? Wie gestalten sie den Alltag in Kindertageseinrichtungen?...)
- Studien zu curricularen Vorgaben (Werden Vorschulcurricula ihren Zielen gerecht?...)
- Studien zur Entwicklung praxisrelevanter Beobachtungsinstrumente (z.B. zur Erfassung besonderer Stärken und Schwächen der Kinder)
- Studien zur Erfassung kindlicher Wahrnehmungen (Welche Erwartungen haben Kinder? Wie sehen sie ihre soziale Umwelt?) usw.
Zur Programmentwicklung
Die curricularen Schwächen des Reformprozesses wurden deutlich. Worin diese Schwächen genau liegen, mag noch dahingestellt sein. Letztendlich scheiterten die Ansätze an der pädagogischen Praxis. Stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt konkrete Curricula in der Vorschulerziehung? Wäre es nicht produktiver, eine Schwerpunktsetzung etwa auf Ansätze zur Entwicklungsoptimierung junger Kinder zu legen (vgl. Schmidt-Denter, 1987), anstelle der mühseligen und letztlich unbefriedigenden Diskussion allgemeiner Curriculumentwicklung? Von der Idee, als "Programmmacher für die Praxis" zu dienen (Fried, im Druck), sollte zukünftig Abstand genommen werden.
Natürlich muss in diesem Zusammenhang der frühpädagogische Bildungsbegriff konkretisiert werden. Zum Beispiel durch die Entwicklung eines frühpädagogischen Bildungsverständnisses. Dies sollte Teildisziplinen vereinen, sich am Kind orientieren, entwicklungspsychologische Erkenntnisse aufgreifen, frühpädagogische Fördermöglichkeiten beachten, soziale Chancen, Bildungsaufgaben und -bereiche konkretisieren, im Sinne einer dynamischen Bildungsvorstellung ausgearbeitet werden und nicht als Lehrplan verzweckt und entfremdet werden.
Ausbaubedürftig scheint auch der Bereich der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule zu sein. Dies wird zwar von Seiten der frühpädagogischen Praxis immer wieder gefordert, aber bisher nicht entsprechend umgesetzt. Hier sollte ein Modell partnerschaftlicher Bildungsinstitutionen konzipiert und realisiert werden, das aber den Vorschulbereich nicht ausschließlich als Zuliefererdienst für die Grundschule ansieht.
Zur Qualitätsentwicklung
Im Zuge der PISA-Diskussion erscheint auch die Frage nach der pädagogischen Qualität in neuem Licht. Denn gute Bildungs- und Erziehungsarbeit spiegelt sich in der pädagogischen Qualität von Einrichtungen wider. Dazu liegen aktuelle Ansätze und Informationen vor. Weitere werden in Kürze erwartet, wenn die Ergebnisse der Nationalen Qualitätsoffensive zu unterschiedlichsten Qualitätsbereichen vorgelegt werden.
Zur Entwicklung der Aus- und Fortbildung
Auch hier ergeben sich Wünsche zur Überprüfung. Darunter zählt insbesondere, festgestellte Diskrepanzen zwischen Ausbildung und Praxis zu verringern, Bildungsarbeit der Fachkräfte zu betreiben, die Frage nach einer Anpassung der Aus- und Fortbildung auf das internationale Niveau zu diskutieren, die Frage nach den Einstiegsvoraussetzungen zur Ausbildung zu erörtern, die Frage nach einer Verlagerung des Ausbildungsortes an eine andere Institution zu diskutieren und die Frage nach Modalitäten der Ausbildung aufzugreifen.
Zur Elternarbeit/Elternbildung
Hier wäre schließlich zu verweisen auf die Aufgabe, neue Wege in der Familienarbeit bzw. Elternbildung zu suchen. Denn es ist offensichtlich, dass der Kindergarten familiäre Defizite nicht erschöpfend auffangen kann, ebenso wenig wie die Schule. Hier muss breiter, komplexer gedacht werden, müssen beraterische Kompetenzen ausgebaut werden (u.a. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002).
Können wir von einer momentanen Bildungseuphorie sprechen, wenn wir den Blick auf neue Bildungschancen verbunden mit neuen Bildungshoffnungen lenken? Oder müssen wir eher eine Bildungsdepression feststellen, angesichts der Geschichte der Vorschulerziehung und unter Verweis auf die aktuelle gesellschaftliche Lage? Die Pädagogik der frühen Kindheit sollte sich auf ihre Grundfeste besinnen: von realen Situationen und Anforderungen ausgehend, das Kind und seine Bedürfnisse fest im Blick, unter Bezug auf frühpädagogische Forschungserkenntnisse die pädagogischen Ziele und Praxis zu gestalten, im Rahmen einer "bildungsbezogenen Erziehungsarbeit". In diesem Sinne hilft weder die Proklamation einer zweiten Bildungskatastrophe noch eine übereilte Bildungseuphorie der Frühpädagogik letztlich zur Profilentwicklung entscheidend weiter. Die gesellschaftliche Anerkennung der Bildungskompetenzen der Frühpädagogik ist aber ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
6. Literatur
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7. Autorin
Dr. Susanna Roux
Universität Koblenz-Landau
Campus Landau
Institut für Pädagogik
August-Croissant-Str. 5
76829 Landau
Email: roux@uni-landau.de
Website: http://www.uni-landau.de/~infopaed/