Axel Bernd Kunze
Die "Agenda 21", beschlossen von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 im brasilianischen Rio, fordert in Kapitel 36 nicht weniger als eine "Neuausrichtung der Bildung" mit dem Ziel, ein ökologisches und ethisches Bewusstsein sowie Werte, Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu schaffen, die mit einer "nachhaltigen Entwicklung" vereinbar sind - so lautet das Leitprinzip, auf das sich die Vereinten Nationen damals verständigten. Zur Halbzeit der inzwischen abgelaufenen UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" bekräftigte VENRO, der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen, 2009 noch einmal: "In einer Welt, die mehr als je zuvor geprägt ist durch wirtschaftliche, ökologische, soziale, politische und kulturelle Krisen, müssen sich alle am Globalen Lernen beteiligen" (VENRO-Diskussionspapier 2009). Der universale Horizont begründet eine "Bildung für alle" - ein Anspruch, der sich in einem eigenständigen Menschenrecht auf Bildung konkretisiert und vermehrt Eingang in Entwicklungsprogramme und -indizes gefunden hat.
Vor diesem Hintergrund soll gefragt werden: (1) Wie lässt sich die Beschäftigung mit globalen Fragen in der Sozialpädagogik begründen? (2) Inwiefern ist Globalisierung ein Bildungsthema? (3) Welche Chancen und Grenzen stellen sich beim Globalen Lernen? (4) Was bedeuten globale Fragestellungen für das Selbstverständnis der Elementarbildung? (5) Wie lässt sich Globales Lernen im Kindergarten konkret realisieren?
1. Wie lässt sich die Beschäftigung mit globalen Fragen in der Sozialpädagogik begründen?
Sozialpädagogische Berufe gehören zu jenen Tätigkeiten, die nichts herstellen, sondern mittels personenbezogener Dienstleistung soziale Unterstützung bieten. Professionen zeichnen sich durch eigene Fachlichkeit, eine wissenschaftliche Grundlage und eine besondere Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft aus. In den vergangenen fünfzehn Jahren ist viel getan worden, die sozialpädagogischen Bereiche der Kindheitspädagogik und Elementarbildung zu professionalisieren. Dies betrifft auch das Bemühen, eine eigenständige Berufsethik sozialen Handelns heraus zu profilieren.
Die Ansprüche und Instrumente einer "moralischen Profession" müssen immer wieder der ethischen Kritik ausgesetzt und auf ihre Lebensdienlichkeit hin befragt werden. Selbstkritisch wird auch auf die Grenzen des eigenen professionellen Handelns zu achten sein, damit sich gute Absichten nicht in Moralisierung, Bevormundung oder Kontrolle verkehren.
Hierfür ist es nicht allein wichtig, eine "Ethik des Handelns" auszubilden, also die Ziele und Strategien des professionellen Handelns auszuweisen. Es bedarf auch einer "Ethik des Denkens und der wissenschaftlichen Theoriebildung". Denn eine Profession trägt nicht allein Verantwortung für ihre Adressaten und für die Gesellschaft. Es kann noch von einem weiteren, dritten Mandat gesprochen werden. Dieses "weist zwei Teildimensionen auf, nämlich wissenschaftsbasierte Interventionen im Hinblick auf Veränderungen auf der sozialen Mikro-, Meso- und Makroebene sowie einen Ethikkodex, der [...] die Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit als normative Leitideen enthält" (Staub-Bernasconi 2010/2011, S. 31). Ein Ethikkodex ermöglicht die kritische Reflexion von Gesetzes-, Wert oder Moralvorgaben, und zwar in Freiheit gegenüber gesellschaftlichen und staatlichen Vorgaben, aber auch in gebotener Distanz zu Zeitströmungen innerhalb der eigenen Disziplin oder gegenüber möglichen Zumutungen Dritter.
Die Menschenrechte schützen jene fundamentalen Dimensionen des Menschseins, ohne die der Mensch ein Leben in Würde, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gar nicht realisieren könnte. Als moralische Rechte antizipieren sie fehlende rechtliche Bestimmungen, legitimieren bestehendes Recht und verlangen unter Umständen Veränderungen an diesem. Begriffen werden können die Menschenrechte als Antwort auf historisch-konkrete Erfahrungen von Leid, Unrecht und Gewalt, die gemeinsam gewertet wurden und ein politisches Handeln freigesetzt haben - und zwar als eine Antwort in der Sprache des Rechts. Dabei werden die Menschenrechte ein offenes Projekt bleiben, solange Menschen nicht müde werden, über unfreimachende Lebensbedingungen zu reflektieren.
Die Freiheit von Furcht und die Freiheit von Not, die Sicherung politischer Freiheiten sowie deren soziale Absicherung, gehören zusammen. Die Menschenrechte sind unteilbar und verhalten sich interdependent zueinander. So wie die liberalen Individual- und politischen Beteiligungsrechte freie Vergemeinschaftung ermöglichen wollen und damit zugleich soziale Rechte sind, schützen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte die "Realbedingungen freiheitlicher Existenz in der modernen Wirtschaftsgesellschaft" (Bielefeldt 1998, S. 169), sind also zugleich Freiheitsrechte. Die Justiziabilität der historisch jüngeren Sozialrechte ist nicht zuletzt seit Ende des Ost-West-Gegensatzes deutlich gestärkt worden.
Heute wird die Frage, wie die menschenrechtlichen Bedingungen von Freiheit und gerechter Teilhabe gesichert werden können, nur vor einem weltgesellschaftlichen Horizont befriedigend beantwortet werden können. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Debatten um internationale Solidaritätsrechte, globale Menschenrechts- und Entwicklungsziele, für die sich die Weltgemeinschaft als Ganze verantwortlich weiß, oder internationale Solidarität im gemeinsamen Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Die gegenwärtige Debatte um Flucht, Migration und Integration unterstreicht noch einmal die Dringlichkeit dieser Anliegen. Der weltgesellschaftliche Hintergrund der eigenen pädagogischen Arbeit muss sich dann auch in den entsprechenden Ausbildungen, beispielsweise an Fachschulen für Sozialpädagogik, widerspiegeln.
2. Inwiefern ist Globalisierung ein Bildungsthema?
"Globalisierung", so Bernd Overwien und Hanns-Fred Rathenow in ihrem Band "Globalisierung fordert politische Bildung", dient als Sammelbegriff für jene politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder technischen Prozesse, die zu einer zunehmenden weltweiten Verflechtung, zu verstärkten globalen Abhängigkeiten, zu einer Intensivierung der grenzüberschreitenden Waren- und Informationsströme und zu Veränderungen der politischen Handlungs- und Entscheidungsrahmen geführt haben (vgl. Overwien/ Rathenow 2009, S. 9-11). Als Ursachen gelten der technische Fortschritt, nicht zuletzt im Bereich der Kommunikationssysteme, wie auch der Trend zur politischen Deregulierung. Die verschiedenen UN-Weltkonferenzen, die nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes stattfanden (der "Erdgipfel" von Rio wurde eingangs schon erwähnt), haben dazu beigetragen, zentrale Probleme wie Klimawandel, Bevölkerungsentwicklung, Migration, Terrorismus oder die Einhaltung der Menschenrechte als "Weltprobleme" zu definieren und ins öffentliche Bewusstsein zu heben, die nicht mehr national, sondern global angegangen werden sollen.
Das von der Volkswagenstiftung geförderte GLOBALIFE-Projekt, bei dem Jugendliche aus siebzehn Industrieländern befragt wurden, hat deutlich gemacht, wie konkret sich Globalisierungsprozesse auf die individuelle Lebenssituation auswirken können (vgl. Gaiser/ Gille 2010). Sie würden beispielsweise als Anwachsen ökonomischer Unsicherheiten empfunden. Die Etablierung auf dem Arbeitsmarkt verzögere sich, langfristig bindende Entscheidungen wie die Familiengründung würden aufgeschoben. Der Erwerb von Zusatzqualifikationen könne sich in Zeiten rascher Veränderungen als Sackgasse erweisen. Mit diesen Veränderungen umgehen zu lernen, ist eine wichtige Bildungsaufgabe, nicht allein der Schule, sondern auch der informellen Bildung.
Die verschiedenen pädagogischen Konzepte, die auf den globalen sozialen Wandel reagieren, werden als "Globales Lernen" zusammengefasst. Christel Adick hat vorgeschlagen, darin einen "Oberbegriff für alle jenen didaktischen Bemühungen zu sehen, die sich auf die Implementation und Strukturierung solcher Unterrichtsgegenstände richten, deren Fokus die gesamtmenschheitliche Lebenspraxis darstellt" (Adick 2002, S. 399). Unter diesem Fokus werden Kompetenzen zu fördern sein, die den Einzelnen dazu ermächtigen, sich umfassend am zivilgesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben aktiv zu beteiligen.
Wenn der Einzelne im Bildungsprozess dazu befähigt werden soll, selbst zu entscheiden, wie er in einer stärker globalisierten Welt leben und handeln will, reicht es nicht aus, "Globalisierung" selbst zum Bildungsziel zu erheben. Bildung soll den Einzelnen dazu befähigen, weltgesellschaftliche Entwicklungen eigenständig denkend nachzuvollziehen und zu beurteilen - mit dem Ziel, angesichts globaler Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten entscheidungsfähig zu bleiben. Ist der Bildungsbegriff bereits national umstritten, wird sich dies umso deutlicher in der internationalen Diskussion zeigen. Dies verlangt von den pädagogisch Verantwortlichen die Fähigkeit, auch das Bildungsverständnis selbst vor dem Horizont der Globalisierung zu reflektieren und um ein angemessenes Verständnis von Bildung in einer zunehmend globaler werdenden Welt zu ringen.
3. Welche Chancen und Grenzen stellen sich beim Globalen Lernen?
Wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen Bildung und Globalisierung pädagogisch zu bearbeiten, eröffnet sich zunächst ein Dilemma: Bildung kann sich grundsätzlich nur im Horizont einer individuellen Lernbiographie ereignen, wird damit aber sachlich und zeitlich immer begrenzt bleiben. Die Lösung weltgesellschaftlicher Probleme bleibt eine politische Aufgabe; weltgesellschaftliche Konstellationen lassen sich nicht einfach als individuelle Lernprozesse ausgestalten.
Annette Scheunpflug hat versucht, die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Lernens im Kontext der Weltgesellschaft mit Hilfe evolutionstheoretischer Annahmen zu klären. Sie geht davon aus, dass wir Menschen zunächst einmal "auf die Problemlösung im Nahbereich spezialisiert" seien, was "für die heutigen Probleme weitgehend dysfunktional" sei (beide Zitate: Scheunpflug 2003, S. 133). Allerdings ist der Mensch in der Lage, seinen Nahbereich zu überschreiten und die damit einhergehende Unanschaulichkeit durch Sprache und abstraktes Denken zu kompensieren. Er kann Einsichten in Problem- und Interessenlagen gewinnen, die ihn nicht unmittelbar lebensweltlich berühren oder für ihn nicht sinnlich erfahrbar sind. Selbstverständlich ist diese Leistung nicht; sie setzt vielmehr Bildung voraus. Dabei soll der Einzelne globale Belange und Erkenntnisse in sein Selbst-, Fremd- und Weltbild integrieren, ohne die eigene Identität aufgeben zu müssen.
Zwar soll auch die eigene Kultur befragbar werden (und wird sich dadurch auch verändern), doch wird sich ein Verständnis für das Fremde nur vom Standpunkt des Eigenen her entwickeln können, in der wechselseitigen Verschränkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dietrich Benner hat darauf hingewiesen, dass Kinder erst im Ausgang von einer Muttersprache andere Fremdsprachen erlernen können (vgl. Benner 2007, S. 18-20). Ähnliches gilt auch hier: Fremde Kulturen, Identitäten oder Religionen werden erst dann verständlich, wenn sich der Einzelne einen eigenen relativen Standpunkt erarbeitet hat.
Der in Schottland lehrende Soziologe Roland Robertson hat den Neologismus "Glokalisierung" in die internationale Debatte um Globalisierung eingeführt. Dieser verweist darauf, dass Prozesse der Transnationalisierung und Kosmopolitisierung zugleich die Rückbesinnung auf das Eigene verstärken und eine Festigung überkommener Identitäten befördern können. Globales Lernen kann nicht darauf zielen, kulturelle Vielfalt zu nivellieren oder eine globale Einheitskultur zu schaffen. Dies wäre kaum mit demokratischen und friedlichen Mitteln durchsetzbar. Zudem würde jene kulturelle Vielfalt verletzt, die "für die Menschheit ebenso wichtig [ist] wie die biologische Vielfalt für die Natur", so Artikel 1 der 2001 von der UNESCO-Generalkonferenz in Paris verabschiedeten Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt. Verloren gingen damit auch wesentliche Potentiale zur Lösung bestimmter Weltprobleme, die nur durch gemeinsame Anstrengung zu lösen sein werden.
Der Einzelne soll sich nicht an weltgesellschaftliche Entwicklungen anpassen, er soll sich an deren Ausgestaltung eigenverantwortlich beteiligen können. So verstanden, geht es bei global orientierten Lernprozessen nicht um subjektive Anpassungsleistungen - um Anpassungsleistungen, die zudem pädagogisch gar nicht determinierbar sind und die auch einen anderen Ausgang nehmen können als jenen, den der Lehrende vielleicht vorgesehen hat. Ein "globales Training", das allein darauf zielte, den Einzelnen "fit zu machen" für aktuelle Anforderungen des Weltmarktes wäre keine angemessene pädagogische Antwort auf die Globalisierung. Vielmehr soll der Einzelne dazu befähigt werden, "Globalisierung selber zu denken" und zu gestalten. Dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass Bildung für eine nachhaltige Entwicklung im umfassenden Sinne fruchtbar gemacht werden kann für eine verantwortungsbewusste Ausgestaltung der Globalisierung - so wie es beispielsweise die evangelische Bildungsdenkschrift "Maße des Menschlichen" von 2003 formuliert hat: "Bildung, wie wir sie brauchen, ist [...] nicht nur als Reaktion auf die Globalisierung zu verstehen, sondern auch als Initiative zu einer Globalisierung mit einem anderen Antlitz" (Maße des Menschlichen 2003, S. 77).
Globales Lernen kann Politik nicht ersetzen, aber die "Macht der Bildung" ins Spiel bringen, wenn es darum geht, einer veränderten Welt globaler Interdependenzen angemessen Rechnung zu tragen sowie mit den dabei zu Tage tretenden Widersprüchen und Interessenskonflikten umzugehen.
Sozialraumorientierte Bildungsprozesse sind ein Beispiel, wie dies konkret werden kann. Mit "Sozialraum" ist nicht allein ein sozialgeographisch begrenzter Raum gemeint, an dem bestimmte Zielgruppen anzutreffen sind, sondern ein symbolischer, sozial konstruierter Raum, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungsprozesse manifestieren und unterschiedliche Lebenswelten aufeinandertreffen, beispielsweise in der weiteren Nachbarschaft oder im Wohnquartier. Vernetzte Bildungs-, Familien- und Kinderhäuser sind ein Instrument, Bildung und Sozialraum sozialpädagogisch zusammen zu denken. Drei Bildungsaufgaben stellen sich dabei: (1) Mit anderen Akteuren vernetzte Bildungseinrichtungen können beraten, Dialogprozesse anstoßen und die Bereitschaft fördern, sich zu beteiligen. (2) Durch Prozess- und Entwicklungsbegleitung können Kompetenzen für soziale Teilhabe gestärkt werden, z.B. über begleitende Elternarbeit. (3) Ferner sind Multiplikatoren zu qualifizieren, die für regionale und kommunale Entwicklungsprozesse benötigt werden, z.B. in Netzwerk- oder Konfliktmanagement, Fundraising oder Moderation.
4. Was bedeuten globale Fragestellungen für das Selbstverständnis der Elementarbildung?
Für ein professionelles Selbstverständnis von Akteuren in der Elementarbildung, von dem in den vergangenen Jahren viel die Rede war, ist nicht allein der Erwerb eines fachlichen Handlungswissens notwendig, so wichtig dieses auch ist. Hierzu gehört ebenfalls die Fähigkeit, die öffentliche Sozial- und Bildungsdebatte zu verfolgen, zu bewerten und mitzugestalten, sei es innerhalb der eigenen Institution, auf Tagungen, in Medien oder Berufsverbänden - und so an der Ausgestaltung des eigenen Arbeitsumfeldes aktiv mitzuwirken. Dies gilt auch für die Debatten um die Internationalisierung der Disziplin, deren Rolle innerhalb der Weltgesellschaft oder ihren Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung. Der internationale Einfluss auf die Ausgestaltung der Elementarbildung wird noch wachsen, wenn die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - wie geplant - neben den schulischen PISA-Studien ihr Engagement im frühkindlichen Bereich verstärken wird. Dabei müssen politisch-gesellschaftliche Erwartungen fachlich rekontextualisiert werden, will die Disziplin ihr Selbstverständnis nicht einfach äußeren Erwartungen anpassen. Und hier spielt dann auch eine eingangs erwähnte Ethik der wissenschaftlichen Theoriebildung eine besondere Rolle.
Dabei kann die Auseinandersetzung mit weltgesellschaftlichen, entwicklungsbezogenen oder sozialethischen Bezugstheorien dazu beitragen, den eigenen (sozial-) pädagogischen Weltentwurf präziser, differenzierter und vielfältiger auszuarbeiten (vgl. Seitz 2002). Wird auf eine hinreichende gesellschaftstheoretische Fundierung verzichtet und bleibt der - oft unausgesprochene - sozialethische Legitimationshintergrund pädagogisch unaufgearbeitet, kann eine Bildung für nachhaltige Entwicklung abgleiten in Gesinnungsidealismus, Utopien der Weltverbesserung oder kosmopolitische Schwärmerei. Desintegrationsprozesse und Fragmentierungen innerhalb der Weltgesellschaft sollten nicht unterschätzt werden. Eine unvermittelte Ausdehnung politischer oder ethischer Verantwortung auf das Globale könnte sich paradoxerweise ins Gegenteil verkehren. Die ethischen Potentiale könnten überstrapaziert werden, sodass am Ende ein Zustand entsteht, der die ethischen Probleme so groß erscheinen lässt, dass sie nicht entschieden werden können, und der jede konkrete Verantwortung tilgt.
Die Ausgestaltung der Weltgesellschaft wird kein geradlinig verlaufender Prozess einer homogenen Globalisierung oder ein durch Politik und Erziehung planbarer Prozess der Rationalisierung aller Lebensverhältnisse sein. Kritisch zu reflektieren sein wird auch darüber, ob möglicherweise Bildungs- und Sozialsysteme oder nationale Lernkulturen selbst Anteil daran haben, gesellschaftliche Disparitäten und Verwerfungen zu vertiefen. Was Globales Lernen benötigt, ist eine besondere Aufmerksamkeit für die Schnittstellen zwischen Sozialer Arbeit, Pädagogik und Politik. Bildungsethik und Werterziehung werden klären müssen, welche Werte vor einem globalen Verantwortungshorizont vermittelt werden sollen. Als praktische Profession muss die Pädagogik sich fragen, welche Handlungen geeignet sind, diese Werte zu realisieren und die allen in gleicher Weise zukommende menschenrechtliche Freiheit wirksam anzuerkennen. Hierfür braucht es den notwendigen Freiraum für gemeinsame Sinnfindungsprozesse.
Dabei geht es nicht um eine "Sonderform" von Bildung, sondern um die Integration der ganzmenschheitlichen Perspektive in die verschiedenen Arbeitsfelder frühkindlicher Bildung und Erziehung. Drei Dimensionen sind dabei zu berücksichtigen: In kontextueller Hinsicht ist zu fragen, welche individuellen, lokalen wie globalen Wirkungszusammenhänge zu berücksichtigen sind, wie diese miteinander verwoben sind und wie diese zu werten sind. In kultureller Hinsicht geht es um die Vermittlung von Sach-, Urteils- und Handlungskompetenz. In historischer Hinsicht ist nach den Ursachen heutiger Probleme zu fragen, sind gegenwärtige Herausforderungen zu benennen und wird nach sinnvollen zukünftigen Lösungen zu suchen sein.
Aufträge an die Elementarbildung, bereits von klein auf zur internationalen Verständigung oder zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen, werden allein äußere Vorgaben bleiben, wenn die Disziplin auf die weltgesellschaftlichen Debatten nur reagieren wollte. Wenn der Eindruck entsteht, Probleme sollten "wegpädagogisiert" werden, droht ein gewichtiger Vertrauensverlust - in die eigene Disziplin wie die Politik gleichermaßen. Globales Lernen zielt darauf, den Einzelnen zu befähigen, in einer komplexer gewordenen Welt ein gutes, eigenverantwortliches Leben zu führen. Zugleich macht Bildung für nachhaltige Entwicklung aber auch darauf aufmerksam, dass die Gemeinschaft die sozialethische Verpflichtung hat, die notwendigen strukturellen, sozialen, kulturellen und ökologischen Voraussetzungen für dergestaltige Bildungsprozesse zu sichern. Es wird darauf ankommen, diese Debatten als Anlass zu begreifen, über die spezifischen Bedingtheiten, Anforderungen und Ziele der eigenen Profession Rechenschaft zu geben, über diese aufzuklären und nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu fragen. Wie eine Sozialpädagogik und Elementarbildung realisiert werden können, die den Ansprüchen nachhaltiger Entwicklung im umfassenden Sinne gerecht wird, kann nicht aus der Gesellschaftheorie, aus den Menschenrechten oder der politischen Philosophie abgeleitet werden. Diesen Auftrag kann und muss die Pädagogik selbst mit Leben füllen.
5. Wie lässt sich Globales Lernen im Kindergarten konkret realisieren?
Schon sehr junge Kinder nehmen globale Aspekte wahr, vielleicht vermittelt über die Medien, vielleicht durch die Beschäftigung mit Bildern und Geschichten, vielleicht über Erzählungen ihnen nahestehender Erwachsener oder durch Entdeckungen in ihrer Umwelt. Die Fragen liegen damit auf dem Tisch und können nicht aufgeschoben werden. Die didaktische Kunst besteht gerade darin, diese Fragen alters- und entwicklungsangemessen aufzubereiten sowie mit anderen Perspektiven zu verbinden.
Wie dies gelingen kann, soll am Themenbereich "Obst und Gemüse" verdeutlicht werden. Dabei können die im vorhergehenden Kapitel genannten Perspektiven - die kontextuelle, kulturelle und historische Dimension - mit den Kindern bearbeitet und miteinander verknüpft werden, wobei es wichtig ist, die Themen sehr anschaulich aufzubereiten (z.B. durch Fotos, Spiele, Exkursionen oder gemeinsames Kochen).
Dies kann im Blick auf die Ebene der kulturellen Dimension beispielsweise bedeuten:
- Was sollen die Kinder an Wissen erwerben? - Die Kinder setzen sich mit Essgewohnheiten hierzulande und anderswo auseinander. Sie kochen Speisen nach Rezepten aus anderen Ländern (z.B. indischen Reiskuchen).
- Worüber sollen die Kinder ein ethisches Urteilsvermögen ausbilden? - Sie setzen sich damit auseinander, unter welchen Bedingungen verschiedene Pflanzen angebaut werden und wie der Alltag von Kindern in Anbauländern anderer Erdregionen aussieht.
- Was sollen die Kinder für Handlungsfähigkeiten erwerben? - Sie tragen die Herkunft fremder Obst- und Gemüsesorten, die sie im Supermarkt gesehen haben, auf einer Weltkarte ein und lernen so, mit Karten oder Atlanten umzugehen. Sie wissen, wie man sich über andere Länder und Regionen informieren kann.
Im Blick auf die Ebene der kontextuellen Dimension ist beispielsweise zu fragen:
- Was erfahren die Kinder über sich selbst? - Die Kinder beschäftigen sich mit ihrer eigenen Rolle als Konsument.
- Was erfahren die Kinder über ihren eigenen Nahbereich? - Sie beschäftigen sich mit dem Obst- und Gemüseanbau in der eigenen Region (im Remstal, wo der Verfasser arbeitet, werden das z.B. die Streuobstwiesen sein) oder mit dem eigenen Kulturbereich und entdecken dabei, dass Hirse früher auch einmal bei uns ein wichtiges Grundnahrungsmittel war (zu denken ist nur an das Märchen vom süßen Hirsebrei). Die Kinder vergleichen ihre eigenen Ernährungsgewohnheiten mit denen von Kindern in anderen Teilen der Welt.
- Was erfahren die Kinder über globale Zusammenhänge? - Die Kinder beschäftigen sich mit der Herkunft einzelner Lebensmittel (ausgehend beispielsweise vom Besuch in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarktes) und mit den Lebensbedingungen auf anderen Kontinenten.
Im Blick auf die Ebene der historischen Dimension stellen sich etwa folgende Fragen:
- Was lernen die Kinder über die Ursachen heutiger Probleme? - Sie beschäftigen sich damit, wie sich die Ernährungsgewohnheiten und die Landwirtschaft im Vergleich zu früher verändert haben.
- Was lernen die Kinder über die Probleme, vor denen wir heute stehen? - Die Kinder beschäftigen sich mit der Frage, wo ihr Kakao herkommt, den sie zum Frühstück trinken, und mit den Bedingungen, unter denen er angebaut und produziert wird. Es gibt die Möglichkeit, selbst Themen, die zunächst einmal für jüngere Kinder weit entfernt sind, für diese anschaulich aufzubereiten (z.B. verdeutlicht das Spiel "Mückenplage" anhand von Bauklötzen die Probleme beim Reisanbau in Asien).
- Was lernen die Kinder darüber, wie wir in Zukunft handeln wollen? - Die Kinder fragen danach, worauf sie beim Einkauf achten sollten. Oder sie fragen, warum "weißer Reis" nicht unbedingt auch der beste Reis sein muss.
Die Themen und Fragestellungen verstehen sich nicht als ein verbindlich abzuarbeitender Katalog. Es geht um eine Auswahl an Möglichkeiten, die beispielhaft veranschaulichen will, wie Globales Lernen bereits in der Elementarbildung umgesetzt werden kann.
Inzwischen werden - nicht zuletzt als Frucht der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" - zahlreiche Praxismaterialien und Methodenbücher für das Globale Lernen in Kindergarten und Schule angeboten. So bieten die Zeitschriften "Kindergarten Mission" und "grenzenlos. Eine Welt in der Schule", die vom Kindermissionswerk "Die Sternsinger" e.V. herausgegeben werden, oder der Informationsdienst "Global lernen" des evangelischen Hilfswerks "Brot für die Welt" regelmäßig praktische Vorschläge, wie Globales Lernen in der Elementar-, Primarstufen- und Hortpädagogik umgesetzt werden kann. Entscheidend aber bleibt, dass Erzieher/innen in ihrer Ausbildung die Fähigkeit erworben haben, aus diesen Materialien eine didaktisch-methodisch sinnvolle Auswahl zu treffen und die vorgeschlagenen Themen so aufzubereiten, dass sie methodisch anschlussfähig werden an die konkrete Situation sowie die Bedürfnisse und Interessen der jeweiligen Kinder (-gruppe). Damit dies gelingt, müssen sie die Themen und Fragestellungen in der sozialpädagogischen Praxis selbst auf Sinn hin auslegen und in einer eigenständigen didaktischen Sachanalyse aufbereiten.
Dies alles sind Kompetenzen, die keineswegs neu sind, sondern sowieso in der Erzieherausbildung vermittelt werden sollten. Die Auseinandersetzung mit globalen Lernprozessen wird hieran anschließen. Nur dann werden angehende Erzieher/innen aber auch erkennen können, dass die Auseinandersetzung mit global bedeutsamen, ganzmenschheitsbezogenen Fragestellungen etwas ist, dass grundsätzlich alle Bereiche der Bildung und Erziehung durchzieht - und zwar deshalb, weil die pädagogische Teilpraxis von den Entwicklungen einer globalisierten Welt ebenfalls nicht ausgenommen ist. Pädagogische Akteure sind immer schon in diese verstrickt - ob sie wollen oder nicht. Bildung ermöglicht, diese Verstrickungen zu erkennen, zu klären und damit verantwortlich umzugehen - dies gilt im Kindergarten genauso wie in der Schule oder in der Lehrerbildung. Schon die frühe Bildung kann an der Pflege weltgesellschaftlicher und interkultureller Semantik mitarbeiten - über eine "Alphabetisierung" der Einzelnen, die zu einem selbstbestimmten Leben und zur Übernahme von Verantwortung in einer globalisierten Welt fähig werden sollen.
Literatur
Adick, Christel: Ein Modell zur didaktischen Strukturierung des globalen Lernens. Bildung und Erziehung 2002, 55, S. 397-416
Benner, Dietrich: Bildung und Religion. Überlegungen zu ihrem problematischen Verhältnis und zu den Aufgaben eines öffentlichen Religionsunterrichts heute. Religionspaedagogisk forum 2007, Heft 1, S. 18-20. Onlineausgabe: http://www.rpforum.dk/pdf/Dietrich Benner.pdf (04.03.2011)
Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998
Gaiser, Wolfgang/Gille, Martina: Profil einer Jugend auf der Suche nach Identität. In: Klasvogt, Peter/Fisch Andreas (Hrsg.): Was trägt, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Christliche Weltverantwortung im Horizont der Globalisierung. Festschrift zum sechzigjährigen Bestehen der Kommende - Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn. Paderborn 2010, S. 355-367
Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh, 2. Aufl. 2003
Overwien, Bernd/Rathenow, Hanns-Fred: Globalisierung als Gegenstand der politischen Bildung - eine Einleitung. In: Overwien, Bernd/Rathenow, Hanns-Fred (Hrsg.): Globalisierung fordert politische Bildung. Politisches Lernen im globalen Kontext. Unter Mitarbeit von Ghassan El-Bathich, Nils Gramann, Katja Kalex. Opladen, Farmington Hills, MI 2009, S. 9-21
Scheunpflug, Annette: Die Entwicklung zur globalen Weltgesellschaft als Herausforderung für das menschliche Lernen [ursprünglich 1996]. Wiederabgedruckt in: Lang-Wojtasik, Gregor/Lohrenscheit, Claudia (Hrsg.): Entwicklungspädagogik - Globales Lernen - Internationale Bildungsforschung. 25 Jahre ZEP [Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik]. Frankfurt am Main, London 2003, S. 129-140
Seitz, Klaus: Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen Globalen Lernens. o.O. (Frankfurt am Main) 2002
Staub-Bernasconi, Silvia: Geleitwort. In: Walz, Hans u.a. (Hrsg.): Menschenrechtsorientiert wahrnehmen - beurteilen - handeln. Ein Lese- und Arbeitsbuch für Studierende, Lehrende und Professionelle der Sozialen Arbeit. Luzern, Opladen, Farmington Hills, MI 2010/2011, S. 16-33
VENRO-Diskussionspapier 1/2009 (Langfassung) zur Halbzeit der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" (BNE)