Frühe Bildung sichert Zukunftsfähigkeit

Anna Christiany

1. Gesellschaftliche Veränderungen

2003 erschien die Studie "Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt", die unter Mitwirkung von über 70 Experten aus Wissenschaft, Schule und Unternehmen eine Reform des deutschen Bildungswesens von der Kinderkrippe bis zur Seniorenweiterbildung darlegte. Für jede dieser Lebens- und Lernphasen entwickelt die Studie Empfehlungen, die die besondere demografische Situation im Jahr 2020 berücksichtigte. Mit der Einleitung der Reformen muss nach Meinung der Experten unmittelbar begonnen werden, wenn noch rechtzeitig Effekte für den Erhalt des Wirtschaftsstandorts Deutschland auf einem angemessenen sozialen Niveau erwartet werden.

Das Staatsversagen im deutschen Bildungssystem zeigt sich nach Angabe der Studie darin, dass der Anteil der Hochqualifizierten mit 25 bis 35 Prozent deutlich zu gering ist und 20 Prozent eines Altersjahrgangs nicht berufsbildungsfähig sind. Es gilt den Anteil der Höher- und Höchstqualifizierten systematisch zu steigern, unter anderem durch eine anspruchsvolle Primärausbildung.

Der demografische Wandel ist die größte Herausforderung für die Zukunft, denn die Zahl der Erwerbstätigen wird bis zum Jahr 2030 um 1,2 Mio. auf 37,5 Mio. sinken.

Das Individuum der Zukunft wird selbstverantwortlicher und in Bezug auf sein Leben "unternehmerisch" tätig sein und sich nicht auf die organisierende Tätigkeit des Staates verlassen. Jedes Mitglied der künftigen Gesellschaft muss nach Ansicht der Experten lernen, in seine eigene Bildung mehr zu investieren, sowohl ökonomisch als auch im Hinblick auf Zeit und Anstrengung. Bildung sei keine exklusive Staatsangelegenheit, sondern solle auch dem Markt und der privaten Initiative offen stehen.

2. Mit vier Jahren in die Schule

Die Studie sollte deutlich machen, wie man in Zukunft dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland begegnen kann. Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler und Präsident der FU Berlin sowie Mitautor der Studie "Bildung neu denken", ist der Meinung, dass nichts anderes übrig bleibt, als die eigene Bevölkerung auf ein höheres Bildungsniveau zu heben. Das heißt nicht nur, die Zahl der Hochqualifizierten zu vermehren, sondern auch die Zahl der Lernschwachen zu verringern. Das Lernpotenzial der Lernschwachen wie das der besonders Begabten müsse früh erkannt und entsprechend gefördert werden. Die wichtigste Gruppe sind die heute bis 20-Jährigen, da sie die Leistungsträger von morgen sein werden.

Einen sparsamer Umgang mit Lebenszeit bei gesteigerten Lerneffekten halten die Experten für möglich durch eine Verfrühung des Lernens und mögliche Vorverlegung des Einschulalters auf das vollendete 4. Lebensjahr (je nach Ergebnis einer vorausgehenden Anamnese der individuellen Lernvoraussetzungen). Vor der Einschulung, die ab dem vollendeten 4. Lebensjahr möglich sein solle, raten sie zur Erhebung der Beschulungsfähigkeit durch ein Schulleistungsscreening.

Wichtigste Aufgabe des primären Bildungsbereichs ist die Vermittlung von Literalität (Basiskompetenzen). Dazu zählt nach Angaben der Studie die Beherrschung der Verkehrssprache, mathematische Modellierungsfähigkeit, fremdsprachliche Kompetenz, IT-Kompetenz, die Fähigkeit zur Selbstregulation des Wissenserwerbs und motorische Koordinierungsfähigkeit sowie personale Schlüsselqualifikationen.

Die Entwicklung neuer Unterrichtsmodelle wird vorgeschlagen. Lernmethoden müssten sich an gesichertem empirischem Wissen über Lehr-/ Lernprozesse orientieren. Der Einsatz neuer Lernmedien soll in breiter Form gewährleistet sein. Der Medieneinsatz muss auf dem neuesten Stand stattfinden.

Den Zeitfaktor wird für wichtig gehalten: zum einen, weil tatsächlich keine Zeit verloren werden darf, um dem drohenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Zum anderen verschwende das deutsche Bildungssystem Lernzeit in einer unverantwortlichen Weise. Es schult die Kinder nicht nur sehr spät ein, sondern hält sie auch viel zu lange in der Schule.

3. Lernen, bevor es zu spät ist

Der Neurobiologe Singer leitet das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und arbeitet seit 1972 an neurophysiologischen Fragestellungen: was ein Mensch wann lernen kann. Nach dem Stand der Forschung bildet die Menge der miteinander verbundenen Neuronenenden im Gehirn den Rahmen für alle Möglichkeiten, die dem einzelnen Menschen durch Lernen zur Verfügung stehen. Diese Menge der Verknüpfungen ist beeinflussbar durch "Training", und die Zeit, in der diese Verknüpfungen möglich sind, ist begrenzt. Sie endet spätestens mit der Pubertät, meist schon mit dem 7./8. Lebensjahr. Nur so lange kann man den Rahmen gestalten, innerhalb dessen die jeweiligen Fähigkeiten und Anforderungen ausgebildet werden können.

Das "Training" besteht im Aneignen vielfältigster Kompetenzen. Je weiter diese Kompetenzen angelegt sind, desto mehr Sachwissen lässt sich später in ihnen erwerben. Kinder müssen also früh in ihren Fähigkeiten gefördert werden, wenn sie für ihr Leben alle in ihnen angelegten Fähigkeiten nutzen sollen.

Auch Elsbeth Stern - Lernforscherin und Professorin der Neuropsychologie am Max-Planck-Institut in Berlin - befürwortet eine anspruchsvollere Erziehung in Kindergarten und Schule. Sie warnt vor einer überalterten Vor- und Grundschulpädagogik. Da kleine Kinder eine sehr begrenzte Aufnahmekapazität haben, sei es ihrer Ansicht nach von Vorteil, "Kinder schon in frühem Alter gezielt mit dem Lehrstoff der Schule vertraut zu machen." Kinder, die schon zu Beginn des Schuljahres Wissen mitbringen, haben die besten Chancen, etwas dazuzulernen. Anhand einer Untersuchung bewies Elsbeth Stern, dass Vorwissen allmählich aufgebaut werden muss, wenn etwas "hängen bleiben" soll.

4. Für eine frühe Bildung

Bildung entscheidet nicht nur über den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft, sondern sie ist auch grundlegend für die materielle Sicherheit und die Entfaltung der Persönlichkeit sowie Schlüssel zu einer erfolgreichen Entwicklung jedes Einzelnen und der Gesellschaft.

Neben den Kindertageseinrichtungen ist das Elternhaus der erste entscheidende Ort, an dem das Kind Wertschätzung von Bildung erfährt, wo Wissens- und Charakterbildung beginnen. Für das zunächst nachahmende Kind bieten die Eltern eine Vorbildfunktion. Gelingende Lebensführung und soziale Integration bauen auf Bindungs- und Bildungsprozesse in Familien und Kindertageseinrichtungen auf. Auch die Erziehenden in den Familien müssen deshalb stärker unterstützt und gefördert werden.

In der Online-Umfrage Perspektive-Deutschland 2004/05 forderten die Bürger eine Verbesserungen der Kinderbetreuung und Bildung. Aus Sicht der mehr als 500.000 Befragten ist Bildung das zweitwichtigste Handlungsfeld hinter Wirtschaft/ Arbeitsmarkt. Mehr als 40 Prozent der Befragten wünschen sich eine bessere Sprachförderung.

Bei der Studie "Frühkindliche Förderung" wurden 2.500 Bürgerinnen und Bürger im Juni 2004 durch das Meinungsforschungsinstitut infas zur frühkindlichen Förderung und Bildung im Auftrag von "Kinder früher fördern" der Bertelsmann-Stiftung befragt. Danach halten 60 Prozent der Bevölkerung die öffentlichen Angebote zur frühen Förderung für unzureichend.

Wolfgang Tietze ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Fragen der Feststellung, Entwicklung und Sicherung pädagogischer Qualität in Einrichtungen für jüngere Kinder sowie der internationale Vergleich. "Die Qualität des Kindergartens macht bis zu einem Jahr Entwicklungsunterschied bei Kindern im Vorschulalter aus", führte Tietze, Autor der ersten bundesweiten Studie zur pädagogischen Qualität in Kindergärten, als Argument an, um die Bedeutung der Qualitätsdiskussion in der frühkindlichen Bildung zu betonen.

Studien wie das US-amerikanische Perry-Preschool-Projekt belegten, dass qualitative Unterschiede in der Früherziehung nicht zu unterschätzende Langzeitwirkungen hätten. In der Studie wurde über mehr als 30 Jahre hinweg die Entwicklung von Kindern bis hin zum Erwachsenenalter verfolgt. Fazit: Eine gute Früherziehung führt unter anderem zu seltenerem Schulversagen und höheren Bildungsabschlüssen.

5. Schulfähigkeitsförderung

Etwa 3-8 Prozent der Kinder eines Jahrganges, bei denen sonst keine offensichtlichen Beeinträchtigungen wie neurologische Störungen, Hörschäden, mentale Retardierung, oder soziale Deprivation festzustellen sind, haben erhebliche Schwierigkeiten beim Erwerb ihrer Muttersprache (Grimm 1999). Man spricht in diesem Fall von spezifischen Spracherwerbsstörungen. Diese Kinder zeigen unterschiedliche Auffälligkeiten, wie beispielsweise einen verspäteten Sprechbeginn, Wortschatzarmut, Verstehensschwierigkeiten sowie Defizite im Bereich der Phonologie, der Morphologie, und der Syntax.

Kinder haben heute zunehmend Schwierigkeiten, unsere Kulturtechniken zu erwerben. Die fehlenden Lernvoraussetzungen sind häufig Folgeerscheinungen von Erfahrungs- und Entwicklungsrückständen. Die Zahl der Kinder, die als lese-/ rechtschreibschwach gemeldet und diagnostiziert werden, ist in den letzten Jahren so enorm angestiegen, dass in der Folge die Kommunen die Kosten für die Interventionen kaum noch tragen können. Die aktuellen Zahlen schwanken zwischen 25 und bis zu 40 Prozent einer Jahrgangspopulation. Bei vielen dieser Gutachten steht die Lese-/ Rechtschreibproblematik im Vordergrund. Überlegungen zur Prävention bzw. Minderung solcher Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb sind daher nahe liegend und erforderlich.

Die Kultusministerkonferenz hat für das Jahr 2015 vorausberechnet, dass von den 2.831.000 Schülern in der Primarstufe 566.200 Risikoschüler (20%) sein werden.

Zur Schulfähigkeitsförderung gehören gezielte Angebote von Anfang an, die grundlegende Kenntnisse von Buchstaben und Lauten sowie von Mengen und Zahlen fördern. Lesen, Schreiben und Rechnen sind Entwicklungsprozesse, die weit vor der Einschulung beginnen. Bedeutsam für die Schulfähigkeit ist die Förderung der Grundlagen, die zum Erlernen der Kulturtechniken ausgebildet sein und zusammenwirken müssen.

Ein didaktisches Prinzip ist das vorausarbeitende Fördern. Schulanfänger mit guten Vorkenntnissen können dem Unterricht entschieden besser folgen, weil sie keine individuellen Wissenslücken schließen müssen. Die Schulfähigkeitsförderung soll so viel Vorwissen vermitteln, dass der Schulanfänger die neuen Lerninhalte erfolgreich lernen kann. So wird frühzeitig die Basis für eine erfolgreiche Teilnahme am Anfangsunterricht gelegt.

6. Früh investieren statt spät reparieren

Unter diesem Motto engagiert sich McKinsey Deutschland seit Jahren für eine verbesserte frühkindliche Bildung. Bildungsausgaben sind nach Ansicht der Wirtschaftsfachleute keine Kosten, sondern wertvolle und notwendige Investitionen. McKinsey hat für Investitionen in die frühkindliche Bildung eine gesellschaftliche Bildungsrendite von 12 Prozent errechnet. Und die Wirtschaft kann international nur mithalten, wenn genügend hoch qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

Langsam sickert in das öffentliche Bewusstsein, dass Investitionen in Bildung eine hervorragende Geldanlage sind. Alles andere ist nach Meinung der Experten ein gewaltiges Verlustgeschäft.

7. Literatur

Studie: Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt. Herausgegeben von: vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.. Gesamtredaktion: Prof. Dr. Dieter Lenzen, Freie Universität Berlin. Projektdurchführung Prognos AG, Basel

Kongress: McKinsey bildet; Prof. Dr. Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-lnstituts für Hirnforschung, Frankfurt a.M.

Petra Schraml: "Früh übt sich, wer ein Meister werden will". Lernforscher befürworten gezielte Förderung kleiner Kinder. <a target="_blank" href="http://bildungplus.forum-bildung.de/templates/imfokus_inhalt.php?artid=215&start=0&str1=Fr

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