Johannes Merkel
Die Auseinandersetzung, ob Kinder in den Einrichtungen des Elementarbereichs nur versorgt und betreut oder auch gebildet werden sollen, ist so alt wie der Kindergarten: Während die (vor allem kirchlichen) "Kleinkindschulen" des 19. Jahrhunderts Arbeiterkindern Versorgung und Betreuung sicherten, gründete Fröbel den Kindergarten, weil er der Ansicht war, die (bürgerlichen) Familien seien nicht mehr in der Lage, die Kinder so zu fördern, wie es die neue Industriegesellschaft verlangte. In Deutschland wurde nach dem ersten Weltkrieg der Elementarbereich den Jugendämtern zugeordnet, während er in vielen anderen Ländern (z.B. Frankreich, oder auch in der DDR) den Bildungsministerien unterstellt wurde. Die Diskussion um frühkindliche Förderung der 1970er Jahre blieb in Deutschland ohne grundsätzliche Folgen (während Länder wie Schweden ihre Einrichtungen neu ausrichteten), und erst seit der Jahrtausendwende wird nun auch in Deutschland von den Einrichtungen des Elementarbereichs gefordert, Kinder gezielt zu "bilden".
Will man diesem Anspruch gerecht werden, muss angegeben werden, was unter Bildung in diesem Lebensalter zu verstehen ist und welche Fähigkeiten und Kenntnisse die Kinder dabei erwerben sollen. Diese Fragen versuchen die in allen Bundesländern erarbeiteten Pläne für die frühkindliche Bildung zu beantworten.
Das festzulegen ist aber nicht einfach, und diese Schwierigkeit spiegelt sich auch in den Bildungsplänen wider. Das Problem: Kinder eignen sich ihre Umwelt in diesem Alter "ganzheitlich" an, das heißt: Was sie aufnehmen, hängt gleichermaßen ab
- von den Personen, mit denen sie zu tun haben,
- von den Lebenssituationen, in denen sie aufwachsen,
- von den Wahrnehmungen, die ihnen die Umgebung bietet,
- vom Interesse an den Aktivitäten, zu denen sie angeregt werden,
- von Antworten und Hilfestellungen, mit denen Erwachsene sie unterstützen.
Themen und Gegenstände frühkindlicher Bildung können deshalb nicht in abgetrennten, aufeinander aufbauenden Kursen unterrichtet werden.
Was Bildung erreichen sollte, kann prinzipiell von zwei Seiten her beschrieben werden:
- Erstens von den Erfahrungen, die Kinder machen sollten, und den Themen, die ihnen angeboten werden sollten.
- Zweitens von den Fähigkeiten her, die sie dabei entwickeln und beherrschen sollten.
Die Bildungspläne der Bundesländer sprechen beide Seiten an, jedoch in unterschiedlicher Gewichtung. Während die Pläne von Baden-Württemberg und Bayern von den "Kompetenzen" ausgehen, die in der Bildungsarbeit zu erreichen sind, beschreiben die Pläne der meisten übrigen Länder recht ausführlich Erfahrungsbereiche, Gegenstände und Themen, die den Kindern nahe zu bringen sind.
Was sind Bildungsbereiche? Was nutzen sie für die Bildungsarbeit?
Themengebiete der Bildung
Wie Gegenstände und Themen benannt und angeordnet werden, unterscheidet sich wiederum von Land zu Land. Was in Niedersachsen beispielsweise als "Emotionale Entwicklung und soziales Lernen" erscheint, wird in Rheinland-Pfalz unter "Gestaltung von Gemeinschaft und Beziehungen" aufgeführt. Allerdings folgen die Pläne der gleichen sachlichen Logik, die sich aus der kindlichen Entwicklung ergibt. Im Wesentlichen werden unter unterschiedlichen Bezeichnungen und veränderter Reihenfolge folgende Gebiete angesprochen:
- Körper, Bewegung, Gesundheit
- Rhythmik, Musik
- Spiel
- Sozialverhalten, Normen und Werte
- Kommunikation und Sprache
- Bauen, künstlerisches Gestalten
- Natur und Naturerleben, Ökologie
- Naturwissen, Mathematik, Technik
Wie immer sie in den Plänen bezeichnet und angeordnet werden, wichtig ist, dass sie in der Bildungsarbeit der Einrichtungen möglichst ausgeglichen berücksichtigt werden und den Kindern damit ein vielfältiges Angebot gemacht wird, das ihre unterschiedlichen Anlagen, Fähigkeiten und Erfahrungen anspricht, erweitert und voranbringt.
Wichtig ist weiter, dass sie keine Fächer darstellen, die nach einem Stundenplan zu festgelegten Zeiten durchgenommen werden. Auch bieten sie kein Programm, das man nur nachzuarbeiten hätte, um eine solide frühkindliche Bildung sicherzustellen.
Schließlich lassen sich in der praktischen Arbeit keine so klaren Grenzen zwischen den Bereichen ziehen, wie es die Pläne vorgeben (Das ist auch der Grund, warum sich die Formulierungen in den Plänen unterscheiden). Es gibt ständig Überschneidungen und wechselseitige Bezüge.
Der Nutzwert der Bildungsbereiche für die praktische Arbeit
Der Umgang mit Themen und Gegenständen der Bildung muss den Formen entsprechen, in denen Kinder in diesem Alter ihre Welt wahrnehmen, sich aneignen und verarbeiten. Kinder betrachten die angebotenen Aktivitäten und Gegenstände aber oft mit einem Blick, der in eine andere Richtung geht als die Erzieherin es vorplante, der andere Punkte von Interesse und Neugierde weckt als vorgesehen. Es ist die Aufgabe der Fachkräfte, ihnen jeweils im geeigneten Augenblick und der dafür günstigen Situation vielfältige Anstöße und Anregungen zu geben und darauf zu achten, dass sie dabei ihre körperlichen, emotionalen, kreativen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten möglichst ausgeglichen ausbilden und erweitern können.
Diese verantwortungsvolle und umsichtige Arbeit soll die Einteilung in unterschiedliche Bildungsbereiche unterstützen. Die Abgrenzung der Bildungsbereiche voneinander hat vor allem den Sinn, die Gebiete abzustecken, die im Elementarbereich von Bedeutung sind, und auf ihren Stellenwert in der Entwicklung der Kinder aufmerksam zu machen. Sie können den Fachkräften helfen, bei der Planung und Realisierung von Aktivitäten und Projekten Handlungs- und Bildungsangebote so einzurichten, dass den Kindern umfassende und ganzheitliche Lernangebote gemacht werden.
Dabei werden nicht alle Kinder alle Angebote nützen und alle angesprochenen Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten ausbilden. Aber sie sollten so umfassend angelegt sein, dass jedes Kind die Chance bekommt, sich weiterzubilden, neue Wahrnehmungen zu machen, seinen Gesichtskreis und seine Fähigkeiten zu erweitern.
Tatsächlich werden in der praktischen Arbeit bei jedem Vorhaben verschiedene Bildungsbereiche betroffen sein und berücksichtigt werden müssen:
- Will man eine Bewegungslandschaft aufbauen, wird man sie mit den Kindern besprechen und planen, und sich dabei im Bereich sprachlicher Kommunikation bewegen. Beim Bau muss darauf geachtet werden, dass sie auch hält, man wird also physikalische Gesetze berücksichtigen müssen, und damit frühe naturwissenschaftliche Grundkenntnisse ansprechen. Beim Spielen auf der Bahn müssen Kinder gegenseitige Rücksicht üben, und das berührt ihr soziales Verhalten.
- Plant man eine Vorführung vor anderen Kindern oder Eltern, muss dazu zunächst eine Geschichte als Vorlage genutzt oder selbst ausgedacht werden, also ein Thema der Spracherziehung. Mit dem Einrichten und Proben wird darstellendes Spielen geübt. Zugleich wird für die Proben wie für weitere Vorbereitungen eine gute Kooperation der Beteiligten benötigt, und damit ist ihr soziales Verhalten gefordert. Schließlich müssen für die Aufführungen Kostüme und Requisiten hergestellt werden, damit sind Gestaltung und Kreativität gefragt.
Was sind Kompetenzen? Wie können sie erfasst werden?
Bei allen Aktivitäten und Projekten, die von den Fachkräften mit der Absicht vorgeschlagen und durchgeführt werden, die frühkindliche Bildung anzuregen und zu erweitern, wird sich immer die Frage stellen: Haben wir die gesetzten Ziele wirklich erreicht? Aber wie lässt sich das einschätzen und beurteilen?
Gut zu beobachten sind die Lernschritte, die einzelne Kinder machen:
- Kann ein Kind auf einer Linie rückwärts gehen?
- Zieht es sich selbst die Regenjacke an und bindet sich die Schuhe?
- Kann es sich ein Wort merken, das es zum ersten Mal hört?
- Wie viele Zahlen der Zahlenreihe beherrscht es schon?
Schwieriger zu beobachten sind die sogenannten "Kompetenzen", die in den Bildungsplänen dargestellt werden und die über die Bildungsarbeit zu entwickeln sind. Was ist darunter zu verstehen?
Kompetenzen bezeichnen Fähigkeiten, die bei einzelnen Tätigkeiten erworben wurden, dann aber auf andere Aufgaben und Probleme übertragen werden können. Was in einer bestimmten Situation begriffen wurde, kann dann als Modell für die Lösung von Problemen in anderen Situationen genutzt werden.
Ein Beispiel: Wenn ein Kind bemerkt hat, dass man Kugeln über ein schräg gestelltes Brett rollen lassen kann, hat es ein neues Spiel gelernt. Wenn es danach aber auch auf die Idee kommt, dass man das Gleiche mit sich selber machen kann und sich einen Abhang hinunter rollen lässt, hat es ein Prinzip gelernt, das es auf wieder andere Situationen wird übertragen können. Danach wird es beispielsweise einen Leiterwagen über einen abschüssigen Weg rollen lassen oder auf einer Plastiktüten eine steile Wiese hinunterrutschen. Damit hat es zugleich das Prinzip der Schwerkraft entdeckt; es hat also eine Kompetenz im Bereich der Naturwissenschaft ausgebildet.
Schlüsselkompetenzen
Kompetenzen, die sich auf verwandte Fähigkeiten beziehen, werden wiederum in Oberbegriffen zusammengefasst, d.h. eine Reihe verwandter Fähigkeiten werden in einer Kategorie vereint. Es wird dann von Schlüssel-, Kern- oder Basiskompetenzen gesprochen.
- Eine zentrale Rolle nehmen dabei die sogenannten "Selbstkompetenzen" (oder auch "personale" oder "Ich-Kompetenzen") ein. Sie fassen die Fähigkeiten zusammen, die zu einem sicheren Selbstbild und damit zu einer stabilen Persönlichkeit führen: Körperbewusstsein, Autonomie, Frustrationstoleranz oder auch Widerstandsfähigkeit gegenüber schwierigen Lebenslagen ("Resilienz").
- Wahrnehmung, Denkfähigkeit und Gedächtnis werden auch zu dieser Gruppe gezählt, aber auch als "kognitive Kompetenzen" gesondert aufgeführt.
- In ähnlicher Weise hängen "interaktive Kompetenzen" und "soziale Kompetenzen" eng zusammen. Sie beziehen sich auf den Umgang mit anderen Menschen: Kommunikationsbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme, und als Voraussetzung dafür eine gute Sprachbeherrschung.
- In einer weiteren Abteilung werden die "Lernkompetenzen" geführt: Neugierde, Fähigkeit, Wissen zu beschaffen, sich anzueignen und einzusetzen, um auftretende Probleme zu lösen.
Vorläuferkompetenzen
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Fähigkeiten von Kindern im Elementarbereich noch sehr situationsbezogen bleiben. So mag z.B. ein Kind abschüssiges Gelände für Spiele nutzen, Dinge einen Abhang hinunterschicken und die Erfahrung machen, dass Spucke gerade nach unten fällt, wenn man vom Balkon spuckt. Es wird aber diese Tatsachen nicht ohne weiteres zusammenbringen können. Es dauert also oft lange, bis übergreifende Kompetenzen ausgebildet werden.
Um die Vorstufen zu benennen, auf denen die Entwicklung allgemeiner Kompetenzen aufbaut, spricht man auch von "Vorläuferkompetenzen":
- Kinder lernen früh, ihren Vornamen zu erkennen und selbst zu "malen". Sie erkennen ihn bald auch dann, wenn er in einer Schrift erscheint, z.B. als Vorname eines Inhabers auf einem Firmenschild. Sie haben damit einen für sie wichtigen Lernschritt gemacht: Ihren eigenen Namen zu erkennen und aufzuzeichnen. In einem weiteren Schritt entdecken sie, dass die Buchstaben ihres Namens auch in anderen Wörtern vorkommen. Damit haben sie das Grundprinzip der Buchstabenschrift erfasst und werden sich bald auch für Buchstaben interessieren, die in ihrem Namen nicht vorkommen. Schließlich erkennen sie vielleicht sogar, dass Teile von Wörtern gleich geschrieben werden (Lotte, Motte) oder dass man mit den gleichen Buchstaben sogar einen neuen Namen kombinieren kann (Nele, Lene). Damit haben sie eine übergeordnete Fähigkeit erworben. Da diese Fähigkeit, Buchstaben zu isolieren, die Voraussetzung darstellt, um später Wörter lesen und schreiben zu können, spricht man von einer "Vorläuferkompetenz".
- In ähnlicher Weise kann etwa Rhythmusgefühl und körperliche Beweglichkeit als Vorstufe für die Unterscheidung und exakte Artikulation sprachlicher Laute bezeichnet werden.
- Oder die Fähigkeit, längeren sprachlichen Ausführungen zu folgen, wie das beim Erzählen verlangt wird, kann als Vorläuferkompetenz für das Textverstehen und Texte-Produzieren bezeichnet werden.
Kompetenzen werden in allen Bildungsbereichen erworben
Bildungsbereiche bieten eine sachbezogene Einteilung der Fertigkeiten und Kenntnisse, die für die Bildungsarbeit im Elementarbereich für wichtig erachtet werden und die für Kinder dieses Alters von Bedeutung sind. Sie wollen den Fachkräften Orientierungen geben, um Bildungsarbeit umfassend und anregend zu planen und den Kindern damit Lernen in diesen Bereichen zu ermöglichen. Die Kompetenzen, die Kinder dabei erwerben, liegen demgegenüber prinzipiell quer zu den Bildungsbereichen, d.h. sie werden bei unterschiedliche Tätigkeiten in unterschiedlichen Bildungsbereichen angeregt, gefördert und erweitert.
- Kommunikative Kompetenz wird z.B. beim Schlichten von Konflikten sowohl gefordert als auch gefördert und bezieht sich dann auf den Bereich sozialen Verhaltens. Sie wird aber ebenso gebraucht, um gemeinsam eine Hütte zu bauen, was nur über gegenseitige Absprache und Koordination zu schaffen ist, aber den Bereich handwerklichen Gestaltens betrifft. Selbstverständlich braucht man diese Kompetenz auch, um im Gruppengespräch Erlebnisse auszutauschen, und hat dann unmittelbar mit dem Bereich Kommunikation und Sprache zu tun. Aber auch ein auf Naturerfahrung ausgerichtetes Experiment, das in den Bereich früher naturwissenschaftlicher Bildung fällt, setzt voraus, dass die Kinder verstehen, wovon die Rede ist, und sich gegenseitig unterstützen.
- Oder die grundlegende Fähigkeit, Probleme zu lösen, wird ebenso beim Aufstellen eines Pfostens gefordert, der das Hüttendach stützen soll, wie beim Sortieren der Worte und grammatischen Regeln, die für das Beschreiben des Ausflugs gebraucht werden, der gestern mit Oma und Opa in den Zoo führte.
Bildungsarbeit im Kindergarten kann deshalb nicht heißen, dass Kompetenzkataloge abgearbeitet werden. Sie liefern lediglich Gesichtspunkte, die den Fachkräften helfen, Fortschritte der Kinder zu beobachten und zu registrieren. Wenn ein Kind gelernt hat, die eigenen Schnürsenkel zu binden, hat es seine feinmotorische Kompetenz erweitert, und es steigt die Chance, dass es auch mit dem Messer beim Schnippeln von Möhren und mit der Schere beim Ausschneiden besser umgehen lernt. Aber erst wenn es bei verschiedensten Anforderungen und Aufgaben seine Finger geschickt und gezielt benutzen kann, hat es eine verlässliche feinmotorische Kompetenz erworben, die es nach Bedarf in allen möglichen Lebenssituationen wird einsetzen können.