Aus: Kita-aktuell, HRS, Nr. 5/2000 (leicht verändert abgedruckt)
Hans-Joachim Rohnke
An den Anfang meiner Rede habe ich ein Zitat gestellt, von dem ich glaube, dass es dem Geist nahe kommt, der in modernen Aktivkindergärten gelebt wird. Es ist Maria Montessori, der die folgenden Gedanken zugeschrieben werden: "Dieses kleine Leben, das wir zu modellieren bemüht sind, braucht kein Drängen und Quetschen, kein Verbessern und Bemäkeln, um seine Intelligenz und seinen Charakter zu entwickeln. Die Schöpfung achtet auf die Kinder ebenso, wie sie dafür sorgt, dass die Kaulquappe zu einem Frosch wird, wenn die Zeit dazu da ist".
Ich habe es schon angedeutet und es ist nicht schwer zu erraten, es ist selbstverständlich das pädagogische Konzept, das eine moderne Einrichtung als eine reformpädagogische ausweist. Das hier formulierte und gelebte Leitbild zeigt, dass moderne Kindergartenerziehung nicht in den verstaubten Vorstellungen von Aufbewahr-, Sitz-, Bastel- und Schablonenaktivitäten verhaftet bleiben muss, sondern dass es vielfältige Formen und Anregungen gibt, unsere/n Kinder/Nachwuchs zu fördern und für ein herausforderndes, aktives und interessantes Leben vorzubereiten.
Was aber heißt das? Sind denn etwa die bewährten Grundsätze, die überlieferten, uns vertrauten Gewohnheiten nichts mehr wert? Sind etwa all die liebevollen Basteleien, Sing- und Kreisspiele, Ausflüge, festlichen Höhepunkte und Feiertage nicht mehr gefragt? Muss denn z.B. der Umgang mit Schere, Schuhbändeln und Krepppapier nicht auch zukünftig systematisch geübt und trainiert werden, sollen denn nicht auch weiterhin schön verzierte Ostereierkörbchen und Muttertagspräsente unser Leben bereichern?
Wenn wir auf all diese Fragen Antworten finden wollen, kommen wir nicht umhin uns mit weiteren Fragen zu beschäftigen:
Was ist es eigentlich, was Kinder heute lernen und erfahren müssen?
Was brauchen Kinder, um ein Leben in Würde und Respekt vor den vielfältigen Formen des Lebens führen zu können? Zunächst einmal hilft es weiter, sich mit einigen Tendenzen/Daten und Fakten vertraut zu machen, die für das Erfassen heutiger Kindheit dienlich sind. Dabei möchte ich einschränkend vorab schicken, dass uns klar sein muss, dass die im Anschluss dargestellten Phänomene sich vor dem Hintergrund eines insgesamt hohen Wohlstandsniveaus darstellen und die allermeisten Kinder heute einen Lebensstandard vorfinden, wie er noch vor wenigen Jahrzehnten für unmöglich gehalten worden wäre.
Fest steht: Kinder sind heute in der Regel gut behütet und haben aufmerksame, pädagogisch informierte Eltern. Sie verfügen über einen eigenen Platz für sich und ihre Siebensachen und finden ein gut entwickeltes Gesundheitssystem vor. Ähnliches gilt für das allgemeine Bildungssystem und für weitere kulturelle Erfahrungen wie Theater-, Museums- und Kinobesuche, Reisen, Bildungsangebote, Medien, ja selbst für das persönliche Outfit gibt es hinreichend Angebote und Auswahlmöglichkeiten.
Dennoch: Kinder heute wachsen unter anderen Umfeldbedingungen und Anforderungen auf wie noch vorangegangene Generationen, und es ist reizvoll, sich einige davon näher zu betrachten. In Fachkreisen sind dafür in den letzten Jahren verschiedene Begriffe geprägt worden. Ich möchte Ihnen einige Schlaglichter kurz vorstellen.
Stichwort: "Kindheit in Institutionen"
Dieses Bild meint, dass Kinder sich heutzutage schon frühzeitig in Institutionen befinden (Krippen, Kindergärten, Schulen, Horten, Vereinen, Förderkursen u. Ä.), in denen ihnen in der Regel mehr oder weniger starke, d.h. professionell geschulte Erwachsene begegnen, die ihnen mit ihrem pädagogischem Know-how Gutes oder Förderliches zuteil werden lassen wollen. Als natürliche Autoritäten haben sie als Erwachsene meist nicht unerheblichen Einfluss auf die dort zu absolvierenden Programme und Prozesse und sind darum bemüht, durch mehr oder weniger geschickte Anweisungen/Regelsetzung und eindeutige Erwartungshaltungen an die Kinder deren Aktivitäten - mal sanft mal strenger - in die gewünschte Richtung zu motivieren. Nicht wenige Kinder geraten hier häufig bereits unter einen erheblichen stressbildenden und hier und da auch angsterzeugenden Leistungsdruck. Sie müssen dort im Wesentlichen reagieren, d.h. schon frühzeitig vielfältige und anspruchsvolle Anpassungsleistungen erbringen unter den häufig kritischen, d.h. vor allem kontrollierenden und bewertenden Blicken ihrer Beobachter.
Demgegenüber haben viele von uns Älteren große Zeitanteile ihrer Freizeit fernab des kontrollierenden Einflusses von Erwachsenen verbracht, an aufregenden Orten interessante Beobachtungen gemacht, unsere Spiel- und Freundesgruppen frei gewählt und unsere Spiele und Spielgegenstände oft dem jeweiligen unmittelbaren Umfeld angepasst oder sogar entnommen, denn teures Spielzeug war noch rar und bei weitem nicht in den heutigen Mengen vorhanden. Dabei haben wir unsere Spiele erfunden, kreativ unsere eigene Spielregeln ausgehandelt, bestimmt, wer sie überwachen sollte, was geschehen sollte, wenn sie übertreten würden usw. Häufig spielten Jungen und Mädchen gemeinsam und in der Gruppe fanden sich jüngere und ältere Kinder zusammen, nicht immer zur Freude der Größeren, die - häufig die als lästig erlebte - Aufsichtspflicht gegenüber den kleineren wahrzunehmen hatten. Ich kann mich erinnern, dass ich ca. 30 Stunden in der Woche teilweise in regelrechter Wildheit (in Frankfurt gab es noch viele Trümmergrundstücke und Kriegsruinen) verbracht habe und hier ein geradezu unerschöpfliches Terrain an Entdeckungs- und Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung stand. Meinen Cousins und Cousinen im Westerwald ging es in Feld, Wald und Wiesen, an Weihern, Tümpeln, in Scheunen und Ställen übrigens nicht anders.
Stichwort: "Verinselung von Kindheit"
Hiermit ist der zunehmende Verlust des Zugangs zu den frei verfügbaren und öffentlich zugänglichen Räumen, wie Straßen, Plätzen, Gärten, verwilderte Grundstücke, Institutionen usw. gemeint. Nicht nur ist Kindern meistens der Zutritt zu privatem Gelände versperrt, häufig ist durch die starke Zunahme von Automobilen in rollender oder parkender Form der spielende Aufenthalt auch im öffentlichen Raum eingeschränkt, sodass Kinder außerhalb von ausgewiesenen Spielzonen und Spielstraßen erhebliche Schwierigkeiten haben, ohne Gefahren beispielsweise zu Fuß von einem öffentlichen Spielbereich in einen anderen zu wechseln oder etwa eigenständig einen Freund oder Freundin zu besuchen. Häufig müssen dafür Bring- und Abholdienste (Fahrdienste) von Erwachsenen in Anspruch genommen werden.
Stichwort: "Medienkindheit"
Kinder sind heute in erheblichem Umfang vielfältigsten Medieneinflüssen ausgesetzt. So sind neben die sog. Printmedien die elektronischen Medien getreten, die überwiegend auf Einwegkommunikation ausgerichtet sind, also Kommunikationsarmut eher fördern und passive, aber dennoch aufmerksame und ihnen zeitopfernde Zuschauer und Zuhörer benötigen.
Gab es in meiner frühen Kindheit ein Radio, einen Schallplattenspieler und später einen Fernseher mit 2 Kanälen, so hat dieser Fernseher heute weit über 30 Programme und erzeugt nahezu rund um die Uhr Sendungen, deren teilweiser hochproblematischer Inhalt auch für Kinder schrankenlos bereits in den frühen Morgenstunden zur Verfügung steht. Hinzugekommen sind Videotechnik, CD-Player, Kassettenabspielgeräte, elektronische Spielkonsolen, CD-Rom Technologie und das Internet mit seinem gigantischen, den Globus umspannenden Informationsangebot. Darüber hinaus gibt es Gameboys und andere Computerspiele, die mittlerweile mit gestochen scharfen Bildern die Nutzer in künstliche Welten entführen.
Schon von klein auf sehen sich Kinder mit einer Flut von Bildern und Informationen konfrontiert. Sie müssen unter anderem schon frühzeitig lernen, wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden, müssen intensivste Gefühlszustände verarbeiten und sich z.B. beim Fernsehen den raffiniertesten Verführungskünsten hochkarätiger Werbeprofis erwehren.
Stichwort: "Veränderte Familien"
Kinder wachsen heute nicht mehr selbstverständlich in Familien mit Eltern und Geschwistern auf. Neben die sog. Normalfamilie ist eine Fülle von weiteren Familienformen getreten, die von der stark gebeutelten, allein erziehenden Mutter bis zur sog. Patchwork-Familie reicht, also Familienformen, die weit von den für normal gehaltenen Erfahrungsmöglichkeiten in der noch immer allgemein für erstrebenswert gehaltenen klassischen Kleinfamilie entfernt sind. Im Bundesdurchschnitt findet bereits jedes 5. Kind keine männlichen Bezugspersonen mehr in ihrem Umfeld vor, nahezu jedes 2. Kind hat keine Geschwister mehr. Bundesweit gibt es z.B. nur noch 1,4 % Großfamilien. Zunehmend sind beide Eltern berufstätig (übrigens über 40% der Mütter von 0-3 jährigen Kindern), etliche davon im Schichtbetrieb, oft außerhalb des eigenen Wohnsitzes als Pendler, zunehmend an Wochenenden und abends.
Für Kinder bedeutet dies, dass sie den elterlichen Arbeitsrhythmen ausgesetzt sind, das ihre Eltern stärker dem außerhäusigen Arbeitsstress unterliegen und dass sie sich teilweise in mehreren und unterschiedlichen Betreuungssituationen am Tag befinden. Solche und andere Einflüsse wirken sich z.B. auch auf das Kommunikationsverhalten in den Familien aus. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass innerhalb amerikanischer und deutscher Familien durchschnittlich nur noch 7-12 Minuten am Tag miteinander gesprochen wird.
Stichwort: "verändertes Wohnumfeld"
Auch das Wohnfeld hat sich verändert. Die Beeinträchtigungen für Kinder durch den zugenommenen Straßenverkehr habe ich bereits erwähnt. Die Folgen sind übrigens u.a. zunehmender Bewegungsmangel, der sich bereits im nachweisbaren Anstieg der Unfallzahlen beziffern lässt und mancherorts dazu geführt hat, zusätzlichen Bewegungsunterricht beispielsweise in den Grundschulen zu erteilen (Ffm), um Kindern die Chance zu geben, wieder geschickter im Umgang mit ihrem eigenen Körper zu werden und auf diese Weise ihre Unfallgefährdung zu mindern.
Aber auch das kulturelle und infrastrukturelle Umfeld wird ärmer. Wir haben den Trend zu Konzentrationen, der dazu führt, dass vor allem auf dem Land kleine Kaufmannsläden, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe und damit das direkte, wohnortnahe Versorgungsangebot immer mehr ausgedünnt wird. Vielerorts gibt es keine eigene Poststellen mehr, ja selbst öffentliche Telefonzellen stehen nicht mehr überall zur Verfügung. Manch ein Ort hat sich vollkommen zur Schlaf- und Übernachtungsgemeinde entwickelt. Die Folgen für Kinder sind natürlich zunehmende Ödnis, mangelnde Gelegenheiten im Sinne selbst aufzusuchender Ereignis- und Erlebnismöglichkeiten. Mögliche Folgen sind auch hier u.a. das Ausweichen auf die Medien und das Erleben von Leben aus 2. Hand. Big brother und Lindenstraße, Talkshows und Daily-Soaps bieten sich als erlebbare vor allem aber verfügbare Ersatzrealitäten an, denen man bequem auf der Couch mit Fernbedienung, Chips, Cola und Hausschlappen folgen kann.
Veränderungen um das Thema: "Arbeit /Arbeitswelt"
Wir erleben seit Jahren einen einschneidenden Wandel in der Arbeitswelt. Gemeint ist die Veränderung von der Industrieproduktion hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Ganz vereinfacht gesprochen, gehen wir weg von der Handarbeit, hin zur Kopfarbeit. Für Kinder stellen sich die Veränderungen vor allem in der Abnahme von sinnlich anschaulicher Teilhabe und Beobachtungsmöglichkeiten von vor allem handwerklicher, d.h. sinnlich wahrnehmbarer Arbeit dar. Zugenommen hat demgegenüber vor allem die nicht sichtbare, computergestützte EDV-Arbeit. Jeder 2. Arbeitsplatz hat heute direkt oder indirekt bereits etwas mit Computern zu tun. Es ist für heutige Kinder sehr viel schwieriger geworden, einen Schuster oder Schmied bei der Arbeit zu erleben, selbst im häuslichen Umfeld unterstützen vielfach elektrische Maschinen und Geräte das Tun, und der zunehmende Einsatz von industriell erzeugten Fertigprodukten zeigt, dass auch hier mehr und mehr ehemals wichtige Kulturtechniken wie etwa Erzeugung/Zubereitung und Konservierung von Lebensmitteln, genauso wie häusliche Reparaturen an Kleidungen und Gebrauchsgegenständen - also die ehemals auf handwerklichem Geschick basierenden häuslichen Verrichtungen - am Schwinden sind. Wir leben in einer Wegwerf- und Konsumkultur, die in immer kürzer werdenden Zyklen und Intervallen neue, das heißt vor allem modische Neuheiten auf den Markt wirft. Kinder erleben perfekte Endprodukte, kaum noch den komplexen, prozesshaften Weg ihrer Entstehung. Anstrengung, Schweiß und Tränen sind nicht sichtbar.
Aber es gibt noch andere, tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt. Geändert haben sich nämlich auch die Anforderungen an die Beschäftigten. Es sind nicht mehr in erster Linie die alten Arbeitstugenden und Einstellungen wie Disziplin, Ordnung, hierarchisches Denken und bereichsbezogene Aufgabenorientierung, die heute vom modernen Mitarbeiter erwartet werden. Nein, der zeitgemäße Mitarbeiter verfügt über kommunikative Kompetenzen: So ist er zu vernetzendem Denken in der Lage, denkt wirtschaftlich und kann sein Arbeitsgebiet und seine Aufgaben weitgehend eigenverantwortlich steuern. Im ständigem Austausch mit seinen Kollegen ist er zur qualifizierten Teamarbeit genauso fähig wie zur offenen Selbstkritik. Er bemüht sich um ständige Fort- und Weiterbildung, ist weltoffen, tolerant und interessiert und hat wenig Angst vor dem ständig stattfindenden Wandel. Seinen Betrieb erlebt er als lernende Organisation, die sich fortwährend auf die Anforderungen von morgen vorbereitet. Dabei ist er nicht betriebsblind, in seiner Freizeit engagiert er sich sozial, ehrenamtlich in Vereinen und Verbänden und trägt auf diese Weise zur Verminderung sozialer Schieflagen in der Gesellschaft bei und erfreut sich so hohen auch sozialen Ansehens.
Was hat das alles mit Kindergarten zu tun, mögen Sie sich jetzt vielleicht fragen.
Mir ist wichtig zu zeigen, dass die moderne Kindertagesstätte kein sozialromantisches Idyll mehr ist, in denen etwas weltabgewandte Kindertanten in Piep-piep-piep-wir-ham-uns-alle-lieb-Manier in Sitz- und Bastelkreisen jahrhundertealte Abzählreime und Fingerfertigkeiten mit der Strickliesel einstudieren.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es mit den wichtigsten und lernintensivsten Jahren der Kindheit zu tun haben und das wir gut beraten sind, diese wertvollen Jahre aufmerksam zu betrachten, um unsere gut bedachten Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn wir Kindern gerecht werden wollen, müssen wir uns die Kräfte und Situationen vergegenwärtigen, die heute auf Kinder und ihre Familien wirken und unsere pädagogischen Konsequenzen darauf abstimmen.
Und ich nehme diese Anmerkung zum Anlass, unsere Ausgangsfragen in Erinnerung zu rufen: Es ging darum, Antworten auf die Frage zu ermöglichen, was Kinder heute brauchen, um insbesondere den Anforderungen zukünftiger Lebenssituationen gewachsen zu sein: Als erstes kommt mir in den Sinn, dass sie über eine gehörige Portion Selbstbewusstsein verfügen müssen, gepaart mit einem gut entwickelten Selbstvertrauen. Nur wer über seine Stärken und Schwächen Bescheid weiß, ist in der Lage sich immer wieder neu zu verorten und die nötige körperliche, geistige und seelische Balance auf der eigenen Lebensbahn zu finden. Kinder müssen stark sein, nötigenfalls werden, um zukünftig den nötigen Mut aber auch die Zuversicht zu haben, sich den genannten Herausforderungen in Gesellschaft, Familie und Beruf zu stellen.
Gesundes Selbstvertrauen aber ist eine wichtige Voraussetzung dafür, den wachsenden psychischen Belastungen gerecht zu werden, damit nicht jede sich abzeichnende Veränderung als existenzielle Bedrohung oder gar Lebenskrise erlebt wird. Ich muss das Spektrum meiner Möglichkeiten, meiner Anlagen, Fähigkeiten und Talente kennen gelernt und möglichst vielseitig erprobt und entwickelt haben, um dieses Reservoir einerseits immer wieder neu anreichern und pflegen zu können, aber auch um daraus neue Kraft, Anregung und ggf. auch Entspannung und Ruhe für mein eigenes Gefühlsleben beziehen zu können.
Zwei weitere wichtige Elemente scheinen mir gut entwickelte Wahrnehmungsfähigkeiten und hinreichende soziale Kompetenzen zu sein. Wer in der Lage ist, ein Gespür dafür zu haben, dass Leben etwas außerordentlich wechselvolles und häufig unkalkulierbares ist, wird leicht verstehen, was mit dem Begriff der sog. "emotionalen Intelligenz" gemeint ist. Die aktuelle psychologische Forschung zeigt, dass das richtige Einfühlungsvermögen im Umgang mit Menschen ein anspruchsvolles Unterfangen ist, dass aber z.B. gelingendes Kontakt- und Kommunikationsverhalten eine zunehmend wichtige Schlüsselqualifikation für positive Lebenserfahrung und erfolgreiche Lebensgestaltung ist.
Nicht zu vergessen ist natürlich ein gut entwickeltes Körpergefühl: Kinder sind und brauchen Bewegung. Wer immer Kinder beobachtet, stellt rasch fest, dass sie immer in Bewegung sind. Sie haben eine förmlich unbändige Energie und eine scheinbar unbegrenzte Freude an Körpererlebnissen. Sie hüpfen, schaukeln, rennen, springen, kriechen, klettern, hangeln, ducken und balancieren was das Zeug hält. Ihr natürliches Neugierverhalten führt sie dazu, sich tätig und aktiv mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Kinder lernen mit allen Sinnen, sie wollen die Dinge begreifen, fühlen, spüren, ausprobieren, verändern und testen. Das sinnliche Begreifen und das "learning by doing" ist die Lernform des kleinen Kindes. Es ist Voraussetzung für alles, was danach kommt, insbesondere für das spätere, kognitive Begreifen.
Kinder brauchen Kinder und verantwortliche Ansprechpartner, die sie ernst nehmen, die ihnen zuhören und die mit ihnen, ohne belehrenden Zeigefinger, über die großen und kleinen Dinge ihres Alltagerlebens sprechen können. Sie brauchen Partner, die ihnen vorbehaltlos Vertrauen schenken, damit sich Zutrauen entwickeln kann und die sie um Rat und Unterstützung fragen können, wenn sie, die Kinder, diese Hilfe brauchen. Sie benötigen Entwicklungsbegleiter und Berater, die sich nicht zu schade sind, in kindliche Phantasiewelten mit einzutauchen und die sich auf die versponnenen Tagträumereien einlassen. Sie brauchen Menschen, die nicht so schnell nach gut und böse, richtig oder falsch, wertvoll oder minderwertig schauen, sondern die sich darum bemühen, zu verstehen und die in der vorschnellen Beurteilung Zurückhaltung üben.
Kinder brauchen vor allem Freiräume, in denen sie sich, die Welt und ihre Möglichkeiten entdecken können und sich ausprobieren dürfen. Sie brauchen Zeit und Raum für ihren persönlichen Lernrhythmus, um das Leben Stück für Stück verstehen- und kennen lernen zu können. Sie brauchen die Freiheit, Fehler machen zu dürfen, und die Gewissheit, dafür keine Angst- und Schuldgefühle entwickeln zu müssen. Kinder brauchen Lob und Anerkennung und glaubwürdige Erwachsene, die ihnen Vorbild, Modell und Beispiel zugleich sind. Sie brauchen keine Belehrungen und Zurechtweisungen, sondern aufrichtiges Interesse, gelebte und nachvollziehbare Beispiele gelungener Lebensführung, inklusive abschaubarer Streit- und Konfliktkultur.
Ich unterstütze seit vielen Jahren den pädagogischen Ansatz, der allgemein unter dem Begriff "offene Arbeit"/Aktivkindergarten firmiert. Mir scheint, dass die Kindertagesstätten, die sich mit dieser Form der Pädagogik auseinandergesetzt haben, auf einem besonders geeigneten Weg sind, ihren Kindern wichtiges Rüstzeug für ihren weiteren Lebensweg zur Verfügung stellen. Denn in einem Aktivkindergarten dürfen Kinder ihren Lerneifer, ihre Wissbegier und ihre Bewegungsfreude ausleben, und vor allem werden sie ernst genommen. Hier finden sie ansprechbare und freundliche Erzieherinnen vor, die sie bei der Umsetzung ihrer vielen Vorhaben nach Kräften unterstützen, die ihnen Halt und Sicherheit geben, die aber auch Trost und Verständnis für die großen und kleinen Niederlagen haben. Erzieher, die Respekt haben vor der Würde und der Persönlichkeit der ihnen anvertrauten kleinen Menschen; PädagogInnen, die mit Freude und Humor bei der Sache sind und die sich immer wieder aufs Neue von Kindern faszinieren, begeistern und bezaubern lassen.
Zum Schluss noch ein Wort zu den ErzieherInnen: Ihnen gebührt unser aller Respekt für die Mühe, die sie tagtäglich aufwenden, um das anspruchsvolle Konzept der offenen Arbeit zu ermöglichen. Sie haben sich hohe Ziele gesetzt und ich weiß, dass es nicht immer leicht ist, in den gegenwärtigen Zeiten anspruchsvolle und hochwertige Pädagogik sicherzustellen. Das sie es trotzdem tun, dafür gehört ihnen unser herzlicher Dank, genauso wie dem Träger und den Eltern, die ihre zukunftsweisende Arbeit schätzen und unterstützen. Sie haben die zweifellos schwierige Aufgabe, auch in Zukunft Sorge dafür zu tragen, dass motivierte Erzieherinnen ihre Motivation erhalten können indem sie gute Arbeitsbedingungen vorfinden.
Ich möchte meinen Vortrag schließen mit einem weiteren Zitat von Maria Montessori: "Das Kleinkind weiß, was das beste für es ist. Laßt uns selbstverständlich darüber wachen, daß es keinen Schaden erleidet. Aber statt es unsere Wege zu lehren, laßt uns ihm Freiheit geben, sein eigenes kleines Leben nach seiner eigenen Weise zu leben. Dann werden wir, wenn wir gut beobachten, vielleicht etwas über die Wege der Kindheit lernen".
Autor
Hans-Joachim Rohnke
Dipl.-Päd. & Dipl.-Sup., DGSv
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