Warum ist ganzheitliches Lernen wichtig?

Aus: WWD 2001, Ausgabe 75, S. 12-13 (dieser Artikel wurde im Jahr 2010 aktualisiert)

Charmaine Liebertz

Wie alt ist die Forderung nach ganzheitlichem Lernen?

Auf jeden Fall ist sie nicht neu. Schon recht früh erkannten Pädagogen, Philosophen und Psychologen, dass ganzheitliches Lernen und vielfältige Sinneserfahrungen für die kindliche Entwicklung bedeutsam sind:

  • Als einer der ersten Pädagogen wies Johann Amos Comenius (1592-1670) darauf hin, dass Wissen auf Sinneswahrnehmung basiert.
  • Der Philosoph John Locke (1632-1704) verkündete: "Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war". Er ging jedoch noch von einer Zweiteilung des Menschen in sinnliche und geistige Kräfte aus.
  • In seinem berühmten Erziehungsroman "Emile" widmete der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ein Kapitel der "Übung der Organe und Sinne" (Rousseau 1975).
  • Und den heute viel zitierten Spruch "Lernen mit Kopf, Herz und Hand" verdanken wir dem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827).

Diese frühen Theorieansätze verstanden unter Sinnesschulung ein hartes Training, in dem einzelne Sinnesorgane geschärft werden sollten. Noch fehlte die Erkenntnis, dass der gezielte Einsatz aller Sinne unsere Denk- und Lernleistung zu verbessern vermag. Als erste ging die italienische Ärztin Maria Montessori (1870-1952) davon aus, dass das Kind in seiner Entwicklung einem biologischen Bauplan folgt, den es pädagogisch zu fördern gilt (vgl. Heiland 1996). Gemäß ihres Leitspruchs "Hilf mir, es allein zu tun" entwickelte sie sinnesaktivierende Lernmittel, die heute allen Pädagogen als Montessori-Material bekannt sind.

Dieser kleine historische Exkurs hat uns gezeigt, dass ganzheitliches Lernen keine Erfindung der neuen Pädagogik ist. "Lernen mit allen Sinnen" ist eine wieder entdeckte Forderung. Heute können wir sie allerdings mit Erkenntnissen aus der Hirn-, Intelligenz- und Lernforschung untermauern. Die damalige Vermutung, dass Kopf, Herz und Hand eine Lerneinheit bilden könnten, ist heute eine wissenschaftlich fundierte Gewissheit.

Wie funktioniert unser Gehirn?

Sie, liebe Leser, wissen aus eigener Erfahrung, dass Denken, Erfahren und Empfinden nicht voneinander losgelöst - sozusagen in "Separées" - stattfinden. Vielmehr arbeiten Wissen, Gefühle, Fähigkeiten und Fertigkeiten vernetzt miteinander. Kein künstliches Gehirn vermag dies! Auch als der IBM-Schachcomputer "Deep Blue" am 11. Mai 1997 den Schachweltmeister Garri Kasparow in die Knie zwang, so war dies noch lange kein Sieg über das menschliche Hirn. Denn Großrechner arbeiten engstirnig im Vergleich zu unserem nur 1.500 Gramm schweren Gehirn. Mit seiner Hilfe können wir mehr als nur Schach spielen: Wir analysieren Börsenkurse, empfinden Glücksmomente bei der Betrachtung eines Gemäldes, erwecken Kindheitserinnerungen durch kleine Melodien zum Leben, verstehen komplizierte Satzkonstruktionen, schreiben Gedichte, komponieren Musikstücke, wählen von unzähligen Gerichten einer Menükarte das passende für uns aus, ziehen einen Faden durch ein winziges Nadelöhr und können dabei gleichzeitig von der Zukunft träumen! Und jede Sekunde unseres bewussten Denkens, Fühlens und Handelns steuert diese geniale "Schaltzentrale Hirn".

Aber wie entwickelt sich darin unser Verständnis von der Welt, d.h., wie funktioniert die Aufnahme und Weiterleitung der vielfältigen Informationen? Zunächst benötigen wir "Datenautobahnen", die die Reize unserer Außenwelt aufnehmen. Diese Arbeit übernehmen unsere Sinnesorgane wie Auge, Ohr, Haut, Nase und Zunge. Ein "Telefonnetz" aus Nervenzellen (Neuronen) sorgt nun mit elektrischen Impulsen für die Übertragung ins Gehirn. Hier steht ein gigantisches Netzwerk zur Verfügung:

  • Unser Gehirn verfügt über rund 100 Milliarden Neuronen. Aneinander gekoppelt ergäben sie eine Länge von 500.000 km und reichten 12-mal rund um die Erde!
  • Etwa zehn Millionen Informationen gelangen pro Sekunde in unser Hirn, rund 100 Billionen im Laufe eines durchschnittlich langen Lebens!
  • Aber keine Sorge: Pro Sekunde werden uns nur rund 20 Informationen bewusst. Der Rest prallt entweder ab oder landet im Unterbewusstsein!
  • Jede einzelne Nervenzelle kann über Synapsen mit mindestens 100.000 bis 200.000 benachbarten Nervenzellen in Verbindung treten.
  • Weit über 1 Billion Synapsen stellen die Kommunikation zwischen den einzelnen Nervenzellen her. Sie regeln den Informationsfluss im Hirn.
  • Die Weiterleitung ihrer Impulse geht atemberaubend schnell. Neurophysiologen ermittelten Werte bis zu 135 Meter pro Sekunde, das sind fast 500 Stundenkilometer!

Mit Hilfe von chemischen Botenstoffen - den sogenannten Neurotransmittern - werden die elektrischen Impulse von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen. Jede Nervenzelle verfügt über einen Sender und eine Vielzahl von Empfängern, mit denen sie die Informationen anderer Nervenzellen aufzunehmen vermag.

Übrigens, chemische Stoffe spielen nicht nur bei Weiterleitung von Informationen eine wichtige Rolle. Auch wenn wir erworbenes Wissen ins Langzeitgedächtnis ablegen, hat die Chemie ihre Hand im Spiel. Eiweißstoffe dienen als sogenannte Gedächtnismoleküle, um Informationen langfristig zu speichern. Da im zunehmenden Alter die körpereigene Produktion von Eiweißstoffen abnimmt, ist es auch verständlich, dass es älteren Menschen oft sehr schwer fällt, aktuelle Informationen lange im Gedächtnis zu behalten.

Was lernen wir daraus?

Wer nun immer noch denkt, dass lernen bloß denken lernen bedeutet, hat nichts gelernt! Die neue Hirn- und Intelligenzforschung lehrt uns, dass unser Hirn nicht nur die Zentrale des Denkens, sondern aller Steuerungsprozesse des Menschen ist! Ob wir Liebe empfinden oder ein Auto steuern, jedes Mal findet in unserem Hirn ein Kommunikationsfeuerwerk zwischen Millionen von Neuronen und multiplen Intelligenzen, zwischen Sinnesorganen, Bewegungsapparat und Gefühlen statt. Ein faszinierender Lernprozess, der pränatal beginnt und ein Leben lang andauert! Und je mehr neuronale Schaltungen wir im kindlichen Hirn aktivieren, umso intensiver fördern wir vernetztes Lernen und Denken.

Wir lernen optimal und effektiv, wenn möglichst viele Sinne und beide Hirnhälften eine gelungene Symbiose eingehen! Zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat vernetzen sich die Funktionen der beiden Gehirnhälften. Von nun an speichern wir solche Informationen nachhaltig ab, die mit beiden Hirnhälften erarbeitet wurden. Zum Beispiel wird ein Kleinkind trotz ständiger Ermahnungen immer noch auf die Straße laufen. Nicht wenn es von der Gefahr gehört hat, sondern erst wenn es sie erlebt und gefühlt hat, wird es sie hirngerecht begriffen haben und sein Verhalten ändern. Und dies gilt nicht nur für Kleinkinder!

Das ganzheitlich arbeitende Gehirn verdient ganzheitliches Lernen!

In unserem Gehirn findet ein fantastischer Austausch statt zwischen rechter und linker Hirnhälfte, zwischen Sinneseindrücken und Gefühlen, zwischen elektrischen Impulsen und chemischen Botenstoffen, zwischen gespeicherten und neuen Informationen und zwischen vielen Intelligenzbereichen. Dieses ganzheitlich arbeitende Gehirn verdient ganzheitliches Lernen! Denn ausschließlich linksseitiges, also halbhirniges Lernen ist eine Beleidigung für jedes intelligente Wesen!

Aber nicht nur die neuen Erkenntnisse aus der Hirn- und Lernforschung, sondern auch die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen) erfordern ein Umdenken beim Lernen. Und zwar ein Umdenken, dass das Kind wieder in seiner Ganzheit respektiert. Schließlich kommt es als Kleinkind voller Neugier in den Kindergarten und in die Schule. Es hängt weder seine Gefühle mit dem Anorak an den Garderobenhaken noch wartet es mit leerem Kopf darauf, mit Wissen gefüllt zu werden. Manch einer würde am liebsten nur den Kopf in die Schule schicken, aber bedenken Sie bitte: Immer kommt das ganze Kind!

Unsere Kinder brauchen mehr denn je die Herausforderung an eigenes Denken, Fühlen, Erleben und Handeln. Denn die künstlichen Bilder aus den Medien verdrängen zunehmend die konkrete, "echte" Begegnung von Kind und Welt. Unsere Kinder brauchen vielfältige, persönliche Erfahrungen, denn das Greifen, das allem Begreifen vorausgeht, kann weder durch die Medien noch durch den Computer ersetzt werden.

Unsere Kinder brauchen Lernprozesse, bei denen Erfahren, Entdecken und Erforschen am Anfang stehen. Sie brauchen Lernprozesse, die Bewegung, Sinneswahrnehmung und Erkenntnis effektiv verknüpfen. Unsere Kinder haben nicht nur sprachliche und mathematische Fähigkeiten; sie können mehr als nur sprechen, rechnen und lesen. Und die Forschungsergebnisse machen Mut, neue Wege des Lernens zu gehen: Lernen als einen ganzheitlichen Reifungsprozess von Geist, Körper und Psyche zu verstehen, als ein sich ständig entwickelndes Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen, Denkleistungen, Bewegungsabläufen und Gefühlen.

Pestalozzi sprach ganz zu recht vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Ich ergänze seine Auflistung mit einer weiteren wichtigen Erkenntnis aus der Gelotologie (Lachforschung) und fordere ein Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Humor! Die Lachforschung kann heute belegen: Zum Lernen gehört untrennbar das Lachen. Humor fördert das Gedächtnis und den Einfallsreichtum der Kinder, die das heiter Erlebte mit dem Lernstoff in Verbindung bringen und sich an beides nachhaltig erinnern. An den ohne Spaß gehörten und gesehenen Lernstoff erinnern sich Kinder dagegen viel schwerer. Außerdem stärkt Humor die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Humor ist ein idealer Lernpartner; Lachen und Lernen bilden ein Traumpaar!

Fördern Sie eine ganzheitliche Arbeitsweise zu Hause und in den pädagogischen Einrichtungen. Errichten Sie Leseecken, Mathe-Labors, Schreib- und Druckecken; legen Sie Schulgärten an, in denen besonders Stadtkinder wieder lernen, zu säen, zu pflegen und zu ernten. Setzen Sie sich ein für eine Bindungspädagogik, die das Fundament des Lernens - die Bindung, die Herzensbildung - wertschätzt. Denn die Hirnforschung lehrt uns, dass unser Gehirn vor allem ein Sozialgehirn und weniger eine Kognitionsmaschine ist. Daher sollten wir nicht unterrichten sondern aufrichten!

Stellen Sie sich immer wieder die Frage, ob Sie der geistigen, psychischen und körperlichen Vielfalt Ihrer Kinder in ihren Stärken und Schwächen gerecht werden. Überprüfen Sie, wann und wie Sie die verschiedenen Intelligenzbereiche, vernetztes und ganzheitliches Lernen fördern! Diese zehn Kernaussagen zum ganzheitlichen Lernen werden Ihnen dabei helfen:

  1. Das Kind ist ein geborener Lerner.
  2. Das Kind lernt vernetzt mit Kopf, Herz, Hand und Humor.
  3. Das Kind lernt spielerisch und mit Freude.
  4. Der Mensch lernt ein Leben lang.
  5. Lernen ist mehr als Wissen anhäufen. Denken und Fühlen bilden eine Einheit.
  6. Lernen ist ein individueller, selbstbestimmter und nachhaltiger Prozess.
  7. Lernen und Erziehen sind immer und überall eins.
  8. Lernen gedeiht im respekt- und liebevollen Klima.
  9. Lernen beinhaltet Fehler machen.
  10. Lernen ist institutionsübergreifend und braucht starke Partner.

Literatur

Heiland, H.: Maria Montessori. Hamburg 1996

Rousseau, J.-J.: Emile oder Über die Erziehung. Paderborn 1975

Weiterführende Literatur der Autorin

  • Das Schatzbuch ganzheitlichen Lernens. Grundlagen, Methoden und Spiele für eine zukunftsweisende Erziehung. Hrsg. Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. München: Don Bosco/Spectra Verlag, 8. überarbeit. Aufl. 2009
  • Spiele zum ganzheitlichen Lernen. Hrsg. Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. München: Don Bosco/Spectra Verlag, 4. Aufl. 2008
  • Das Schatzbuch der Herzensbildung. Grundlagen, Methoden und Spiele zur emotionalen Intelligenz. Hrsg. Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. München: Don Bosco Verlag, 5. Aufl. 2010
  • Das Schatzbuch des Lachens. Grundlagen, Methoden und Spiele für eine Erziehung mit Herz und Humor. Hrsg. Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. München: Don Bosco Verlag 2009

Biographie

Dr. Charmaine Liebertz, geb. 1954 in Köln, Lehrerin für die Sek. I; arbeitete 10 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Köln im Bereich Heilpädagogik; sie war drei Jahre redaktionelle Mitarbeiterin bei der Deutschen Welle, Redaktion Bildung und Kultur. Seit 1996 leitet sie die Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. in Köln und hält europaweit Seminare für Erzieher, Lehrer und Eltern. Sie ist Autorin zahlreicher pädagogischer Fachbücher.

Kontakt: Tel.: 0049 - (0)221/9233103, Homepage: www.ganzheitlichlernen.de, Email: c.liebertz@ganzheitlichlernen.de

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