Aus:
WWD 2002, Ausgabe 76, S. 20-22
Ursula Salbert
Bevor ich Ihnen einige Möglichkeiten des Meditierens mit Kindern beschreibe, möchte ich auf den Sinn und Zweck der Meditation eingehen. In den letzten Jahrzehnten ist die Meditation als Methode aus der Ecke der Esoterik (Geheimlehre) heraus ins Licht der modernen Medizin und Physiotherapie gerückt, und auch in pädagogisch-sozialen Bereichen wird sie angewandt. Zum Beispiel wird sie in der therapeutischen Betreuung von Scheidungskindern eingesetzt, um Ängste abzubauen, an Eheberatungsstellen, um eine Basis für die Gesprächsbereitschaft zu schaffen, an Suchtberatungsstellen, um das Selbstbewusstsein zu stärken, und in Workshops für Führungskräfte, um dem krankmachenden Stressverhalten entgegenzuwirken.
Einer Definition der Brockhaus-Enzyklopädie (1971) zufolge ist Meditation eine "durch entsprechende Übung bewirkte oder angestrebte geistig-geistliche Sammlung", um "von körperlicher Entspannung und Haltung unterstützt den Menschen zu seinem eigenen innersten Grund" zu führen. Das Wort "Meditation" bezeichnet einmal den Zustand des geistigen "Bei-sich-Seins" als auch den dazu führenden Übungsweg.
Wenn Erwachsene meditieren, sieht man sie meistens in einer entspannten aufrechten Sitzhaltung, die einem wachen Bewusstseinszustand entspricht (z.B. Lotossitz, Schneidersitz oder auf dem Stuhl sitzend). Die Hände liegen zur Schale zusammengelegt im Schoß oder mit den Handflächen nach oben auf den Knien. Dann werden die Augen geschlossen und die Sinne richten sich nach innen. Die Atmung wird wahrgenommen, und die Gedanken kommen zur Ruhe. Während der Meditation wird wertungsfrei wahrgenommen, das heißt, unser Ego sagt uns nicht: Das mach ich gut oder schlecht. Im regungslosen wachen Zustand wird der Übende zum "Seher" eines Objektes oder Zustandes und mit zunehmendem Üben entsteht die Schau des Unbegrenzten, das "Eins-Sein".
Es gibt viele Übungswege, wie die Yoga-Meditation oder Zen-Meditation. Innerhalb dieser Wege gibt es wiederum vielerlei Formen, wie die gegenständliche Meditation (Klang-, Licht-, Bild-, Chakra-Meditation) oder gegenstandslose Meditation, in der das zeitlose Sein, das bewusste Sein und die Freude im Eins-Sein erlebt werden.
Wer regelmäßig meditiert, spürt eine Verbesserung seines Wohlbefindens, eine Steigerung seiner Konzentrationsfähigkeit, seiner Einschätzungsfähigkeit und der Fähigkeit, sich tief zu entspannen, um neue Kräfte zu schöpfen. Obendrein erfährt man in der Stille Antworten auf Fragen wie: Wer bin ich, und was ist der Sinn meines Lebens?
Oft beobachte ich in meinen Entspannungskursen, dass sehr viele Erwachsene die Fähigkeit verloren haben, in ihren Körper hineinzuspüren, um Stille zu erleben. Sie haben eher das ungute Gefühl, Stille aushalten zu müssen und dabei wertvolle Zeit zu vergeuden, und sie denken an die vielen Dinge, die sie noch zu erledigen haben. Erst wenn der Organismus durch Überforderung krank geworden ist, besinnen sie sich auf die Notwendigkeit, dem Körper und dem Geist Ruhepausen einzuräumen. Dann ist langwieriges geduldiges Üben angesagt.
Kinder haben noch eine natürliche Sehnsucht nach Stille, denn Stille hat auch etwas mit Frieden und Konfliktlösung zu tun. Um diese Fähigkeit zu fördern und zu erhalten, sollten wir Pädagog/innen schon im Vorschulalter mit entsprechenden Übungen beginnen.
Beispiele für meditative Übungen
Da Kinder einen hohen Bewegungsdrang haben, sollten wir sie nicht zum langen stillen Sitzen drängen. Unser Ziel ist, die Kinder über die Erfahrung von Bewegung zur meditativen Ruheerfahrung und Konzentration zu führen. Deshalb werden diese Übungen auch meditative Übungen genannt.
Meditative Übungen mit dem Ton
1. Beispiel: Dazu brauchen wir einen größeren Raum, z.B. Turnraum, in dessen Mitte ein Kreis aufgemalt ist. Die Kinder gehen durch den Raum. Wird eine große Triangel angeschlagen, setzen sich alle Kinder im Schneidersitz oder Fersensitz mit erhobenen Armen auf den Kreisrand, schließen wenn möglich die Augen, lauschen still dem Klang, wobei sie langsam die Arme senken. Wenn sie den Klang nicht mehr hören, liegen die Hände wie offene Schalen im Schoß, und sie lauschen in die Stille. Danach recken und strecken sie sich und öffnen die Augen.
Diese Übung könnte zum Ritual werden, indem Sie immer auf diese Weise die Turnstunde beenden. Dann können Sie die meditative Übung mit den ruhigen Worten verbinden: Wir sind gesprungen und gerannt, haben Spiele gespielt und unsere Kräfte erkannt. Jetzt sind wir ganz still, weil jeder sich spüren will.
Die Kinder werden durch diese Übung zum bewusstem Erfahren von Bewegung und Ruhe, von Klang und Stille geführt - und zum Erleben des Unterschiedes. Die Konzentrationsfähigkeit ist auf ein Geräusch, den Klang und die abnehmende Intensität des Klanges gerichtet. Somit verringern sich die Außenreize, was ein Zur-Ruhe-Kommen bewirkt. Wird immer auf die gleiche Weise eine Bewegungsbeschäftigung beendet, lernen die Kinder, das Wiederholungen das Erleben vertiefen.
2. Beispiel: Diese Übung sollte im Freien oder im Zimmer bei geöffnetem Fenster durchgeführt werden. Die Kinder sitzen bequem und legen eine Hand auf den Brustkorb und eine Hand leicht auf den Hals. Dann tönen sie gemeinsam nach der Melodie "Hänschen klein" (Einatmen durch die Nase, tönend durch den Mund ausatmen):
Ha-ha-haaa
He-he-heee
Hi-hi-hi-hi-ho-ho-ho
Hu-Hu-huuu
Ha-ha-haaa (nochmals einatmen)
Ha-he-hi-ho-huuuuuuuuuuuuuu
(So lange wie möglich entspannt ausatmen und dann in die Stille lauschen). Durch das Tönen der Vokale entstehen Vibrationen, die die Durchblutung des Körpers anregen und die mit den Händen erspürt werden können. Der Körper wird zum Resonanzkörper. Außerdem wird die Ausatmung verlängert, was eine Muskelentspannung bewirkt. Die Kinder lernen, die Sinne von der Außenwelt abzuziehen und nach innen zu spüren, um körperliche Vorgänge wahrzunehmen.
Meditative Übungen mit rhythmischer und kreativer Bewegung
1. Beispiel: Diese Laufübung ist geeignet für einen längeren Spaziergang auf einem Feldweg, da die Kinder sich hierbei auf die Laufbewegung und das Zählen konzentrieren können und nicht auf entgegenkommende Fahrzeuge achten müssen. Die Kinder laufen nicht angefasst, da jedes Kind ein anderes Schritttempo besitzt. Beim Gehen zählen wir: 1, 2, 3, 4, vor, zurück, zur Seite, ran. Dabei gehen wir vier Schritte vorwärts, dann stehen bleiben und ein Bein vor, zurück, zur Seite und ran. Dann weitergehen und zählen… Dabei achten wir darauf, dass wir die Beine abwechseln.
Anfangs wird laut gezählt, später leise und zum Schluss nur noch in Gedanken. Durch die Konzentration auf die Bewegungen und das begleitende Zählen entsteht ein Rhythmus. Durch längeres Verweilen in diesem Rhythmus entsteht Kontinuität. Man braucht sich nicht mehr so stark konzentrieren; durch die Wiederholungen wird die Übung automatisiert. Am Schluss braucht man gar nicht mehr zählen. Es entsteht ein Gefühl von gelassener Konzentrationsfähigkeit. Die Kinder spüren nur noch sich selbst und nehmen ihre Umgebung kaum wahr. Diese Übung zeigt uns auch, dass wir durch kontinuierliche Wiederholungen, mit zunehmender Leichtigkeit, Dinge erlernen.
2. Beispiel: Dieses Beispiel passt in die Herbstzeit. Die Kinder schauen sich die bunt gefärbten Bäume und Sträucher an und benennen die Farben. Dann gehen sie los, um einen Blätterstrauß zu sammeln. Wenn alle wieder beisammen sind, wird ein Blatt mit geschlossenen Augen betastet. Bei dieser Übung sind die Kinder ganz still und lassen sich nur auf ihr Tastempfinden ein. Dann dürfen sie erzählen, was sie gefühlt haben oder was ihnen aufgefallen ist: vielleicht die Blattadern, Unebenheiten, Löcher oder gezackten Blattränder. Vielleicht fühlt sich das Blatt trocken, feucht, glatt oder samtig an. Manche Kinder können sogar mit geschlossenen Augen die Farbe spüren.
Dann wird ein anderes Blatt von einem anderen Baum auf die gleiche Weise erfühlt. Dabei werden unterschiedliche Empfindungen und dessen Wirkungen auf die Kinder deutlich. Die Blätter können noch auf ihren Geruch hin untersucht werden oder auf welch unterschiedliche Weise sie zu Boden fallen. Kinder lieben es, ihr Lieblingsblatt auf die Stirn oder ein anderes Körperteil zu legen, um mit geschlossenen Augen die Energien zu spüren.
Dann folgt eine kreative Meditationsübung, bei der zuerst alle Kinder in ihr Lieblingsblatt verzaubert werden, das noch ganz klein in einer Knospe wächst (Kinder gehen in die Hocke und bewegen sich dem Text entsprechend kreativ):
Text: Ich bin ein Blatt. Ein wunderschönes Blatt. Noch bin ich in einer Knospe ganz klein. Dort ist es dunkel und warm. Dann spüre ich das Verlangen, die Sonne zu sehen. Ich wachse und wachse, mache mich dick und breit und plötzlich springt meine Knospe auf. Endlich kann ich die Sonne sehen und meinen Mutterbaum, aus dem ich gewachsen bin. Ich schaue mich um und sehe viele tausend Geschwisterblätter. Wie herrlich, wie unendlich schön und gesund sie sind. Ich verneige mich dankend vor meinem Mutterbaum und genieße es, vom Wind gestreichelt zu werden. Im Sommer, wenn es heiß ist, spenden wir uns gegenseitig Schatten. Im Herbst tanzen wir die schönsten Windtänze. Doch nun ist die Zeit gekommen, meinen Mutterbaum loszulassen. Meine Farbe hat sich aus einem kräftigen Grün in ein mattes Gelb verwandelt, und ich falle herunter. Doch auch das hat seinen Sinn, denn wir Blätter fallen jeden Herbst auf den Boden. Aus uns heraus saugen die Bäume und Pflanzen im Frühjahr wieder frische Nahrung. So können wir aufs Neue in den Knospen wachsen. Jedes Jahr kommen wir wieder, wachsen und vergehen, wachsen und vergehen...
Anschließend werden die Kinder zurückverwandelt. Durch Konzentration auf das Objekt (Blatt) werden die Kinder zum Empfinden des Wesens geführt. Dabei lernen sie, sich in etwas hineinzuversetzen.
Während Sie sprechen, sollten auch Pausen gesetzt werden, damit die Kinder ihre Phantasien ausleben können. Ein anschließendes Gespräch über Empfindungen der Kinder, ist sehr wichtig und sollte nach jeder meditativen Übung erfolgen. Sie geben den Kindern Gelegenheit, zwanglos über ihre Gefühle zu reden - ohne zu werten, denn jeder fühlt anders, und das macht uns so einzigartig.
Mit diesen einfachen und sehr unterschiedlichen Beispielen möchte ich aufzeigen, dass meditative Übungen sehr vielschichtig sind und schon mit Kindern im Vorschulalter durchgeführt werden können - als eine Hinführung zur Meditation, wie sie Erwachsene praktizieren. So sorgen wir dafür, dass die Kinder nicht nur der äußeren Aufnahme von Reizen Beachtung schenken, sondern auch dem Erspüren innerer Regungen. Wird dies auch in der Schulzeit geübt, haben sie als Erwachsene keine Schwierigkeiten damit.
Viel Spaß beim Ausprobieren!
Literatur
Gisela Preuschoff: "Kinder zur Stille führen".
Gabriele Faust-Stiehl: "Mit Kindern Stille entdecken".
Monika Schneider/ Ralph Schneider: "Meditieren mit Kindern", mit MC und Dias.