Faszination Morgenkreis

Mariele Diekhof

Unter "Morgenkreis" wird in den Kitas im Allgemeinen das gleiche verstanden und er läuft fast überall ähnlich ab: Kinder und Erzieher sitzen im Kreis zusammen, es wird gesungen, gespielt, erzählt...

Bei einigen Pädagogen ist der Morgenkreis sehr umstritten, er passt nicht mehr in die "moderne Pädagogik", wird als altmodisch, konventionell und sogar spießig bezeichnet. Gleichzeitig gibt es eine Gegenströmung. Viele Erzieherinnen haben das Bedürfnis, sich mit dem Sinn und Zweck, den Inhalten und Formen des Morgenkreises neu auseinander zu setzen. Dabei stellt sich die Frage: Was will ich mit dem morgendlichen Treffen erreichen und was haben die Kinder davon, was lernen sie?

Gerlinde Lill schreibt in ihrem Lexikon zum Stichwort "Morgenkreis", dass es sich um ein Treffen aller anwesenden Kinder handelt. Das würde in der Praxis bedeuten, dass auch die Kinder daran teilnehmen müssen, die gar nicht wollen. Damit hätte der Morgenkreis den Charakter einer Zwangsveranstaltung. Wie kann er so zum Vergnügen aller Kinder werden? Unter diesen Voraussetzungen ist das natürlich aussichtslos. Kinder, die zur Teilnahme gezwungen werden, sind wenig entspannt und verständlicherweise eher teilnahmslos, lustlos und vielleicht sogar sauer auf die Erzieherin. Und erst recht, wenn es langweilig und öde im Morgenkreis zugeht.

Ich bin überzeugt, dass der Morgenkreis dadurch bei vielen Pädagogen in Verruf geraten ist, weil er oftmals an den Bedürfnissen der Kinder vorbei organisiert und durchgeführt wird. Ich möchte bei allen Erziehern Lust wecken, sich mit dem Thema "Morgenkreis" neu auseinander zu setzen, und vielleicht einmal ganz neue Ideen auszuprobieren.

Wenn ich das Wort "Morgenkreis" benutze, so schließt das natürlich auch Zusammenkünfte mit ein, die mittags, nachmittags oder am Abend stattfinden.

Prinzipielles

Folgende Dinge erscheinen mir sehr wichtig:

  • Die Teilnahme am Morgenkreis/ Abendkreis ist für alle Kinder freiwillig! Als Alternative wird währenddessen eine Betreuung im Bewegungsraum bzw. in einem anderen Bereich organisiert.
  • Der Morgenkreis soll die Kinder verzaubern, sie in eine Welt der Faszination entführen, in der sie im Wechsel Spannung und Entspannung erleben.
  • Die Zusammenkunft sollte nicht unbedingt in einem hell erleuchteten Raum stattfinden. Unterschiedliche Lichtquellen bringen unterschiedliche Stimmungen.
  • Der Morgenkreis soll den Kindern Spaß und Vergnügen bereiten; er ist nur dann richtig gelungen, wenn er sich auch nachhaltig positiv auf die Stimmung der Kinder auswirkt.
  • Die Kinder wählen die Thematik des Morgenkreises. Sie sind gleichsam mit der Erzieherin die Akteure, gemeinsames Erleben steht im Vordergrund.
  • Alle Materialien, die im Morgenkreis eingesetzt werden, müssen greifbar sein und sollten übersichtlich im Regal oder Schrank stehen.

Eine neue Idee entwickelt sich

In unserer Kita findet jeden Morgen ein ca. halbstündiger Morgenkreis statt. Alle Kinder, die Lust darauf haben, werden dazu eingeladen. In der Regel nehmen 10 - 15 Kinder im Alter von ca. 3 bis 6 Jahre daran teil.

Rückblickend kann ich sagen, dass all die morgendlichen Zusammenkünfte, an denen ich in den letzten Jahren in unterschiedlichen Kindergärten teilnahm, ähnlich verliefen. Die Kinder wurden zusammengerufen, es wurde gesungen, Geschichten gelauscht, Sing- und Kreisspiele durchgeführt, etc. Das alles fast immer in einem hell erleuchteten Raum ohne besondere Atmosphäre, die speziell für den Morgenkreis hergerichtet wurde. Ich möchte dies gar nicht abwerten, auch für mich war das lange Zeit in Ordnung so - eben ein ganz normaler Morgenkreis.

Doch dann entwickelte sich vor einigen Jahren aus einer Situation heraus eine fantastische Idee. Zusammenhängend damit bekam der Morgenkreis für die Kinder und auch für mich einen völlig neuen Stellenwert - und das ist noch heute so.

Eines morgens brachte eines des Kinder einen Schuhkarton voller Tannenzapfen mit in den Morgenkreis und erzählte vom Waldspaziergang mit seiner Mutter. Die Zapfen sollten für den Kindergarten sein. Irgendwie kamen wir dann auf die Idee, alle Zapfen auf ein braunes Tuch auszubreiten und uns alle darum herum zu setzen. "Sieht ja aus wie ein Wald", bemerkte eines der Kinder. Ein anderes Kind rannte hinaus und besorgte aus dem Bauraum Steine, Äste und Moos. Alles wurde aufs Tuch gelegt, und so saßen wir dann alle um unseren gestalteten Wald herum. Mir fiel ein, dass irgendwo im Schrank noch eine grüne Lichterkette zu finden sein müsste, und die wurde dann ebenfalls auf das Tuch drapiert, und der "Wald" bekam so eine ganz besondere Atmosphäre. Der Raum wurde verdunkelt, und unser gemeinsam gestalteter Wald regte natürlich zum Geschichtenerzählen an. Klar, dass es sich dabei um eine Geschichte handelte, die im Wald passierte. Aus meinem dicken Sammelordner voller Lieder, Geschichten und Kreisspielideen suchte ich noch nebenher - passend zur Waldthematik - ein Lied und ein kleines Fingerspiel heraus. Die Kinder waren begeistert bei der Sache, und besonders der Junge, der die Zapfen mit in die Kita gebracht hatte, war sichtlich zufrieden. Beim Aufräumen packten wir alle "Waldmaterialien" inkl. Lichterkette in den Karton und stellten ihn ins Regal.

Bei der nächsten Zusammenkunft im Morgenkreis begrüßte ich die Kinder gut gelaunt mit meiner "Lieder-Spiele-Sammelmappe" im Arm. Doch bevor ich noch irgend etwas sagen konnte, rief eines der Kinder "Holen wir wieder den Wald aus dem Karton"? Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und gemeinsam bauten wir wieder die Waldlandschaft inmitten des Zimmers auf und löschten das Licht. In meinem Kassettenfundus fand ich noch eine Vogelzwitscherkassette, und die Stimmung war perfekt. Die Kinder wollten die gleiche Geschichte vom Vortag noch einmal hören, diesmal folgte im Anschluss daran noch ein pantomimischer Waldspaziergang.

"Holen wir wieder den Wald aus dem Karton"? Dieser Satz bewirkte so einiges bei mir. Wäre doch toll, dachte ich, wenn sich in dem Waldkarton nicht nur die Materialien zum Gestalten der Landschaft befänden, sondern außerdem reichlich Texte mit Waldgeschichten, Fingerspielen, Liedern, Spielideen, Kassetten, braunen und grünen Tüchern, etc. Also alles was zur Waldthematik passt und natürlich nach und nach ergänzt werden kann. So könnten wir dann jederzeit einen Waldmorgenkreis initiieren - hätten alles griffbereit ohne lange zu suchen.

Themenkartons zusammenstellen

Natürlich lag der Gedanke nah, weitere Themenkartons zusammenzustellen. In der folgenden Zeit beobachtete ich die Kinder intensiv, um mir ein Bild über ihre individuellen Themen und Interessensgebiete zu machen. Nach einigen Wochen waren folgende Themen-Kartons, mehr oder weniger gut bestückt, im Regal des Morgenkreisraumes zu finden:

  • Im Wald und auf der Wiese
  • Wir feiern heut Geburtstag
  • Himmelskiste - Sonne, Mond, Sterne und Regenbogen
  • Rund ums Wasser
  • Lava und Feuer
  • Raumfahrer sind wir
  • Im Märchenland
  • Überraschungskiste
  • In der Stadt
  • Länder diese Erde
  • Lernolympiade
  • Im Reich der wilden Tiere

Doch bevor es soweit war, gab es für alle eine Menge zu tun. Es entwickelte sich sozusagen ein "Morgenkreisvorbereitungsprojekt", bei dem wir auch die Eltern mit einbezogen. Gemeinsam überlegten wir, welche Kisten wir zunächst fertig stellen wollten und was für Dinge hineingepackt werden sollten. Mir war es wichtig, dass die Kinder intensiv beteiligt waren und ihre Wünsche und Vorstellungen umgesetzt wurden. Die Eltern wurden durch einen Aushang informiert und gebeten, uns beim Sammeln von großen Schuhkartons und leeren Marmeladengläsern (für die Glaslichter) zu unterstützen.

Nebenher gab es für mich noch reichlich zu tun. Während die Kinder für das Bemalen und Gestalten der Kartons zuständig waren, kümmerte ich mich darum, die Texte themenbezogener Geschichten, Lieder, Spiele, etc. zusammenzustellen und zu kopieren. Entsprechende Lieder mussten überspielt werden, und ich erinnere mich daran, wie ich an manchen Abenden in alten Fachzeitschriften blätterte, um geeignete Texte zu finden, während ich nebenher die Musik überspielte.

Doch die Begeisterung der Kinder bei der Vorstellung, täglich einen Karton in die Mitte zu stellen und den Morgenkreis aus dem Karton zu zaubern, beflügelte mich.

Das Gestalten der Kartons passierte mit viel Liebe und Phantasie. Doch auch am Füllen der Kisten zeigten sich die Kinder interessiert. Eines der Kinder brachte z.B. einen kleinen goldenen Stern mit, für die "Himmelskiste".

Immer mehr Kinder nahmen am Morgenkreis teil, der Einsatz von Licht und Schatten, je nach Thematik, faszinierte die Kinder sehr. Unsere Ideen wurden immer ausgefallener, die Kartonmenge immer umfangreicher.

Gemeinsam bauten wir z.B. im Atelier aus einer großen Pappscheibe, einer kleinen Lichterkette, rotem und gelbem Transparentpapier und kleinen Holzstöckchen ein Lagerfeuer für unsere Feuerkiste. Aus Lamettaresten und chinesischen Essstäbchen fertigten wir verschiedene Tanzstäbe an.

Kein Morgenkreis fand mehr ohne entsprechende Atmosphäre und faszinierender Utensilien statt. Und das wiederum bewirkt bei uns allen ein Gefühl von warmer Geborgenheit und Gruppenzusammengehörigkeit.

Regeln

Gemeinsam stellten wir noch einige Morgenkreisregeln auf, an die wir uns halten wollten, z.B.:

  • Jedes Kind ist im Morgenkreis willkommen und wird freundlich aufgenommen, auch wenn es später hinzu kommt.
  • Sollten sich Kinder darum streiten, welcher Karton aufgemacht wird, dann entscheidet die Zauberflasche (mit bunten Schleifenbändern und Glitzer beklebte leere Weinflasche). Die Flasche wird gedreht und zeigt auf ein Kind. Dieses Kind darf dann entscheiden.
  • Jeden Morgen wird nur ein Karton aufgemacht.
  • Die Kisten werden nur dann aufgemacht, wenn eine Erzieherin dabei ist.

Vorbereitungen

Natürlich sind viele zeitaufwendige Vorbereitungen nötig, um diese Art von Morgenkreis durchführen zu können. Doch es lohnt sich, das kann ich garantieren, und all der Aufwand wird belohnt, wenn die Begeisterung der Kinder zu spüren ist. Diese Begeisterung ist so ansteckend, dass selbst ich mich täglich auf den Morgenkreis freue. Es ist übrigens zum Ritual geworden, dass ich alle Kinder - die das möchten - nach Beendigung des Morgenkreises in den Arm nehme und jedem einzelnen Kinder noch einen guten Kindergartentag wünsche. Selbst unsere großen "coolen" Jungs genießen diesen Ausklang. Nebenher möchte ich noch erwähnen, dass sie sich früher gerne vor dem morgendlichen Treffen drückten. Mit dem Kommentar " Das ist doch alles Babykram für uns" verschwanden sie ziemlich schnell, wenn sie mich mit der Liedermappe sahen. Das ist mittlerweile Vergangenheit. Sie reißen sich darum, jeden Morgen die unterschiedlichsten Lichtquellen anzuschließen, die Vorhänge zu schließen und zu bestimmen, welcher Karton aufgemacht wird.

Die umfangreichen Vorarbeiten lohnen sich noch in zweiter Hinsicht. Seitdem wir die Themenkisten im Regal stehen haben, gelingt es selbst unseren Praktikantinnen schon in den ersten Tagen, einen guten Morgenkreis durchzuführen. Dadurch, dass die Materialien in den Kartons ständig ergänzt werden (neue Liedtexte, Geschichten, etc.) kommt es nicht zur Eintönigkeit oder Langeweile.

Organisatorisches

Einige organisatorische Aspekte erleichtern wesentlichden Ablauf des Morgenkreises. Der Raum, in dem das morgendliche Treffen stattfindet, sollte möglichst viel Platz bieten und gut gelüftet sein. In unserer Einrichtung findet er im Klangraum statt. Wir haben diesen Raum bewusst sehr spärlich eingerichtet. Auf dem Fußboden liegen Teppiche aus verschiedenen Ländern, und in den Schränken und Regalen befinden sich sämtliche Instrumente unseres Hauses. Wenn eine Turnhalle oder ein Bewegungsraum vorhanden ist, eignen sich diese Räume natürlich ebenso.

Wichtige Materialien, die dort - neben den Themenkartons - dauerhaft ihren Platz finden sollten:

  • Verschiedene Instrumente
  • Kassettenrecorder
  • sortierte Kassetten bzw. CDs
  • Korb mit unzähligen Tüchern und großen Stoffen
  • Verlängerungsschnur
  • reichlich Taschenlampen
  • bunte Filzer, damit malen wir nach dem Morgenkreis jedem Kind ein Symbol auf die Handfläche (z.B. einen kleinen Stern, einen Wassertropfen, einen Baum...). Ich habe festgestellt, dass die Kinder dadurch angeregt werden, auch anderen, z.B. ihren Eltern, von dem Morgenkreis zu erzählen, besonders wenn sie auf ihr Symbol angesprochen werden.
  • buntes Klebeband, zum Grenzen markieren auf dem Fußboden

Noch etwas: Ich habe mit dem Wechsel von Spannung und Entspannung im Morgenkreis sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Kinder lieben es, sich beispielsweise nach einer spannenden Safari durchs Land der wilden Tiere oder einer spannenden Reise mit einer Rakete unter ein großes Tuch (Höhle) zu verkriechen und sanfte Musik zu hören. Sie liegen ganz entspannt und spüren ihren Herzschlag. Sie mögen es, wenn ich ihnen mit einem großen Fächer (oder einem Tuch) Wind zuwedele, und genießen diese Geborgenheit sehr. Manche möchten dazu dann noch gestreichelt werden.

Was ein Morgenkreis bewirkt

Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, welch schöner Start in den Tag so ein Erlebnis für die Kinder bedeutet. Sie gehen ausgeglichen und zufrieden aus dem Morgenkreis und fühlen sich stark für den Kindergartenalltag. Sie fühlen sich ernst genommen durch ihr Mitbestimmungsrecht, sie spüren Solidarität und Sozialverhalten untereinander. Dadurch, dass nicht mehr in erster Linie der Erwachsene die Inhalte und Gestaltung der Morgenkreise bestimmt, spüren die Kinder ihre eigene Wichtigkeit. Die Phantasien werden gefördert, da sie angenommen und umgesetzt werden.

Durch die vielfältigen Inhalte und Gestaltungen der Zusammenkünfte ergeben sich für die Kinder umfangreiche Quellen des Lernens. So erfolgt im Morgenkreis

  • Schulung der Sinneswahrnehmungen
  • kognitive Förderung
  • Anregung der Phantasien, der Kreativität
  • Förderung des sprachlichen Ausdrucks
  • Kennen lernen unterschiedlicher Instrumente
  • Förderung der Musikalität
  • Entwicklung des Sozialverhaltens, der Solidarität, der Toleranz
  • Stärkung des Selbstbewusstseins
  • Förderung der Grob- und Feinmotorik
  • Sach- und Fachkenntniserweiterung
  • Förderung der Genussfähigkeit
  • Kennen lernen verschiedener Kulturen und Bräuche

Ich möchte allen Erziehern empfehlen, sich mit der Thematik des Morgenkreises neu auseinander zu setzen. Es ist eine kostbare Zeit, die allmorgendlich in gemeinsamer Runde verbracht wird - viel zu kostbar und wertvoll, um sich nicht neue Gedanken zu diesem Thema zu machen.

Noch ein Tipp: Wer die wochenlange "Kleinarbeit" scheut, um mit den Kindern die Kartons zu gestalten und zu bestücken, dem empfehle ich einen Eltern-Kind-Bastelnachmittag. Jede Familie könnte einen der Themenkartons bemalen; anschließend bleibt vielleicht noch Zeit für die Herstellung einiger Lamettastäbe und Glaslichter. Mit dieser Grundausstattung ist eine Basis geschaffen, und die Kartons brauchen dann nur noch nach und nach gefüllt zu werden. Sicher gibt es auch da viel Unterstützung von den Kindern und den Eltern.

Empfehlung

Zu diesem und zu anderen Themen aus dem Bereich der Kindergartenarbeit gebe ich seit einigen Jahren Seminare (im Raum Berlin/ Brandenburg; gelegentlich auch Ost-Westfalen), die stets allen Erzieher/innen einen Motivationsschub geben. Das höre ich aus den vielen positiven Rückmeldungen. Interesse? Näheres hierzu finden Sie auf der Internetseite: http://www.kitabuch.de

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