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Zitiervorschlag

Beschäftigung - Bildungsbeitrag der Kita? Vom Sinn und Unsinn eines traditionellen Begriffs

Gerlinde Lill


Beschäftigungen, Beschäftigungsangebote, Geld für Spiel- und Beschäftigungsmaterial, Beschäftigungszeiten, Beschäftigungsideen, Bastelbeschäftigungen oder gar Beschäftigungsprojekte und neuerdings Bildungsbeschäftigungen..., der Begriff Beschäftigung geistert scheinbar unausrottbar durch die Köpfe und den Sprachgebrauch von Pädagoginnen. Selbst - oder gerade - wenn es sich um reine Gewohnheit handelt, möchte ich diese Gewohnheit kritisch hinterfragen.

"Welche Beschäftigungen führst Du heute durch?" Allein die Formulierung treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Was bedeutet das: Beschäftigungen durchführen?

Da Sprache immer das Bewußtseins spiegelt, frage ich mich, welches berufliche Selbstverständnis sich hinter Beschäftigung als zentraler Kategorie pädagogischer Arbeit verbirgt. Welches Bildungsverständnis, welches Verständnis von kindlichen Lern- und Entwicklungsprozessen, welches Rollenverständnis der Pädagoginnen drückt sich darin aus?

  • Müssen wir Kinder beschäftigen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen? (So sahen es unsere Altvordern)
  • Wollen wir Kinder beschäftigen, damit sie sich nicht langweilen? (Bietet die Kita sonst nicht viel Interessantes?)
  • Handelt es sich um Beschäftigungstherapie? (Wer hat die nötig? "Beschäftigungsprojekte" sind üblicherweise Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ohne tieferen Sinn für soziale Randgruppen)
  • Wollen wir uns erkennbar mit den Kindern beschäftigen, damit es nicht so aussieht, als würden wir den ganzen Tag nur herum sitzen und Kaffee trinken? (Vermutung von Eltern und Image in der Öffentlichkeit)
  • Brauchen wir Bastelbeschäftigungen, um am Ende des Tages "Produkte" vorweisen zu können? (Standardfrage: "Was habt Ihr denn heute gemacht"?)
  • Bringen wir die Kinder auf diesem Wege dazu, sich mit Dingen zu beschäftigen, die für ihre Entwicklung wichtig sind? (Befürchtung: wenn wir nicht mit ihnen "Schere halten" trainieren, dann lernen sie es nie...)
  • Muss Beschäftigungsmaterial angeschafft werden, weil das Leben und der Alltag nicht genug her geben, womit sich Kinder sinnvoll befassen könnten? Welches Material ist genau gemeint? (Schule hat auch Lernmittel, welche braucht die Kita?)
  • Sind die Zeiten der angeleiteten Beschäftigungen die eigentlich wichtigen pädagogischen Zeiten, in denen Kinder - im Gegensatz zu Freispielzeiten - für die Schule und das Leben lernen? (Wenn Kinder nicht pünktlich gebracht werden oder sich beim Basteln immer entziehen, haben sie dann ein Basteldefizit?)
  • Denken sich Erzieherinnen immer "irgend etwas" aus, womit sie die Kinder beschäftigen können? Woher nehmen sie ihre Ideen? (Aus Bastelbüchern, aus dem Internet?)
  • Spielen die konkreten Kinder, ihr jeweiliger Entwicklungsstand, ihre Fragen und Interessen irgend eine Rolle bei der Entscheidung, was ihnen geboten wird? Wird ihnen überhaupt etwas geboten oder wird nicht vielmehr die Beschäftigung verlangt? (Verkleidung der Forderung als gemeinsamer Wunsch: "Heute wollen wir...")
  • Sind Beschäftigungen ein Nachweis der beruflichen Existenzberechtigung von Erzieherinnen als Pädagoginnen? (Jenseits der reinen Betreuung und Verhinderung von Beulen...?)

Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Begriff zum sprachlichen Einsatz kommt, wirft jedenfalls ein Licht darauf, wie Erzieherinnen ihre pädagogische Arbeit bislang häufig verstanden haben. Angesichts der aktuellen Bildungsdebatte und der Forderung nach einer Realisierung des Bildungsauftrags der Kita ist es an der Zeit, mehr zu tun, als einfach statt von Beschäftigung nun von Bildungsbeschäftigung zu sprechen.

Bildung kann nicht früh genug beginnen - darin sind sich nach PISA alle einig. Uneinigkeit besteht jedoch darüber, was Bildung meint und vor allem, was damit im Vorfeld der klassischen Bildungsinstitution Schule bezeichnet werden soll. So streiten sich die Gelehrten ebenso wie die pädagogischen Praktiker; die Politiker verfolgen vor allem Wahlkampfinteressen, Eltern sind verunsichert und fordern auf jeden Fall eine verbesserte Vorbereitung auf die Schule. Denn offensichtlich ist, dass die Startpositionen in unserem auf Auswahl und Ausgrenzung ausgerichteten Bildungssystem entscheidend sind für den Schulerfolg und dieser wiederum wesentlich für Berufs- und Lebenschancen. Soziale Ungleichheit wird nicht ausgeglichen, sondern verstärkt. So wäre als erstes zu fragen, welche grundlegenden Veränderungen in Schule notwendig sind (zumal ja 15jährige Schülerinnen und Schüler getestet wurden, die also - nach Adam Riese - bereits seit 8-9 Jahren "beschult" wurden).

Da jedoch in Bezug auf Schule zunächst keine grundlegenden Änderungen eingeläutet werden, richten sich aller Augen auf die Frühförderung. Hier scheint es einfacher zu sein, Schuldzuweisungen zu treffen und Forderungen zu stellen. Die Beschäftigungspädagogik liefert hierfür eine gute Angriffsfläche.

Einigkeit besteht auf allen Seiten in Bezug auf die Notwendigkeit besserer Förderung mit dem Ziel, allen Kindern eine Chance zur Aneignung der für ihr weiteres Leben wesentlichen Kompetenzen zu ermöglichen. Im Moment stehen v.a. die als defizitär erkannten Sprachkompetenzen im Mittelpunkt der Diskussion, denn sie sind der Schlüssel zu vielen anderen Bereichen der Bildung. Dabei sind nicht allein Kinder nicht deutscher Herkunftssprachen die Stiefkinder unseres Bildungssystems, sondern auch Kinder aus sozial benachteiligten deutschen Familien.

Lernerfolge wollen alle. Wie dieses Ziel allerdings zu erreichen ist, darüber gibt es entschieden unterschiedliche Vorstellungen. Die Frontlinie verläuft vor allem zwischen zwei Positionen:

Position 1: Lernleistungen müssen gefordert werden, sonst wird weder gelernt noch etwas geleistet. Leistung braucht folglich mehr Leistungsanforderungen im Sinne klarer, vorgegebener Lernziele sowie regelmäßige Lernzielkontrollen. Diese Position wendet sich gegen die sogenannte Kuschelpädagogik, die Bedürfnisse von Kindern in den Mittelpunkt stellt, ihnen (zu viele) Freiräume verschafft und sie selbst entscheiden lässt. Gefordert werden eine frühere Einschulung oder Vorschulpflicht bis hin zu Unterricht in der Kita. Inhaltlich geht es zentral um Sprachförderung - insbesondere der Kinder mit Migrationshintergrund -, gepaart mit Sekundärtugenden wie Disziplin, Ordnung, Respekt vor Autoritäten usw. Trainingsprogramme für die Vorschule werden entwickelt; Defizite sollen durch Tests rechtzeitig aufgedeckt und durch Nachhilfe gezielt beseitigt werden. Einschulung ohne ausreichende Deutschkenntnisse soll es zukünftig nicht mehr geben.

Position 2: Kinder sind auf Lernen programmiert; sie suchen Herausforderungen, wollen von sich aus etwas leisten und erfolgreich sein. Leistung und Lust sind Zwillinge; Lernen, Spiel und Eigeninteresse Drillinge. Dies zu nutzen, indem sie Kindern "Hirnfutter" geben, ist die wichtigste Aufgabe von Pädagogen. Kompetenzen entfalten sich in ihrer Erprobung. Entscheidend ist, an den Fragen der Kinder, an ihren Eigeninteressen und Fähigkeiten anzuknüpfen, sie in ihren Stärken zu stärken. Ziele sind Erhalt von Neugier, Forscherdrang und Lernfreude der Kinder durch Anregungen, Eröffnung neuer Horizonte sowie Ergänzung und Ausgleich häuslicher Bedingungen. Diese Position wendet sich gegen Zwang, Leistungsdruck und Aussonderung. Gefordert wird eine differenzierte Arbeit im Sinne individueller Förderung. Zurückstellungen aller Art werden abgelehnt, weil sie die entscheidende Voraussetzung für Entwicklungsprozesse zerstören: Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit.

Welcher Grundeinschätzung man auch zuneigt - beide sind von Beschäftigungspädagogik weit entfernt. Bei klassischen Beschäftigung werden zwar in der Regel Anpassung und Disziplin verlangt, inhaltlich anspruchsvolle Leistungen im Sinne der ersten Position dagegen eher selten. Was erfahren und gelernt werden kann, bewegt sich immer in den gleichen Bahnen. Gezielte Beobachtungen der kindlichen Fähigkeiten und Entwicklungen, die ja eine Voraussetzung wären für entsprechend gezielte pädagogische Interventionen, sind die Ausnahme. Falls es sich jedoch um ein ausdrückliches Lernprogramm handelt - z.B. Englischunterricht - ist der Begriff "Beschäftigung" vollkommen fehl am Platze.

Umgekehrt: Wenn Kinder - wie laut Position zwei - Bedingungen vorfinden und Unterstützung erhalten sollen, um selbst tätig werden und ihren Forschungsinteressen folgen zu können, dann kann eine vorgegebene Beschäftigung sie eigentlich nur von wichtigeren Dingen abhalten. Handelt es sich jedoch um ein interessantes Unternehmen, dass sich an kindlichen Fragen orientiert, Interessen aufgreift und Erkenntnisprozesse fördert, dann wird der Begriff "Beschäftigung" dem sicher nicht gerecht.

Wie immer man es dreht und wendet, Beschäftigungen sind als pädagogisches Tun und als pädagogischer Begriff nicht auf der Höhe der Zeit. Kinder haben ein Recht darauf, nicht nur beschäftigt zu werden. Im Übrigen sollten wir nicht vergessen, dass Begriffe nicht nur Bewusstsein ausdrücken, sondern auch Bewusstsein prägen. So lange von Beschäftigung in Kitas die Rede ist, so lange wird die Basteltante das Bild der Erzieherin in der Öffentlichkeit prägen. Verabschieden wir uns also davon und beginnen wir endlich mit einer anspruchsvollen Diskussion über das, was Bildung im vorschulischen Bereich bedeuten kann und soll. Dann finden wir sicher auch die passenden Worte...