Kindern im Portfolio das Wort geben

Tassilo Knauf

Das Portfolio und die Bildungs- und Lerngeschichten

Die Idee des Portfolios hat in den letzten zehn Jahren dem Kita-Alltag einen neuen Akzent verliehen. Experimentieren mit diesem neuen Instrument hat dabei ebenso eine große Rolle gespielt wie die Orientierung an Anleitungen und Kopiervorlagen (vgl. Bostelmann 2007).

Eine große Bedeutung hat auch die Verknüpfung der Portfolio-Idee mit den "Bildungs- und Lerngeschichten" erlangt, wie sie im Anschluss an Margret Carr vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) als Modell elementarpädagogischer Bildungsdokumentation entwickelt wurden (vgl. Leu u.a. 2010). Diese Verknüpfung macht auf ein Problem aufmerksam, das die Praxis der Portfoliogestaltung durchzieht, nämlich auf das Problem: Wie reden wir zu Kindern, über Kinder, wie lassen wir sie zu Wort kommen?

Die Bildungs- und Lerngeschichten bilden ein Beobachtungskonzept, bei dem die ganzheitliche, wertschätzende Beobachtung des einzelnen Kindes im Zentrum steht. Die Beobachtungen werden protokolliert, im Team kommuniziert und interpretiert (vgl. ebd., S. 91 u. 164 f.). Nun hat sich seit einigen Jahren eingebürgert, dass Kolleg/innen, die mit den Bildungs- und Lerngeschichten und zugleich mit Portfolios arbeiten, "Lerngeschichten" in Briefform ins Portfolio stellen. Diese Praxis wird auch von den Autoren und Vertretern der Bildungs- und Lerngeschichten beim DJI propagiert (vgl. ebd., S. 145). Sie bringen Beispiele, in denen das Kind persönlich angesprochen wird und sich die Erzieherin, die Beobachterin, Protokollantin, Interpretin und später Briefautorin zugleich ist, sich mit einem freundlichem Schlusssatz verabschiedet: "Liebe Andrea,... Ich freue mich darauf, in Zukunft mit dir und den anderen Kindern in der Gruppe gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen und mehr über Insekten und ihre Lebenswelt zu erfahren und zu erforschen. Deine Carola" (vgl. ebd., S. 86).

Es handelt sich um ein Verfahren, das Beobachtungsprotokoll in einen Text umzuwandeln, der das Kind persönlich anspricht und vom Kind verstanden wird. Die Beschreibung von Kinderverhalten wird also in eine andere Textsorte transformiert. Aus einem Protokoll, dessen Qualität in der sprachlichen Differenziertheit und Präzision liegt, wird eine Botschaft, die beim Kind positive Emotionen erzeugen soll: Beachtung, Anerkennung, Ermutigung, Sympathie... Aus einem neutralen Text über ein Kind wird ein emotional aufgeladener Text für ein Kind.

Kinder als Autoren im Portfolio

Eine solche Texttransformation ist pädagogisch sinnvoll, geht aber an einem Kerngedanken des Portfolios vorbei: Im Portfolio drückt sich das Kind vor allem selbst aus. Mit seinem Zuwachs an Kompetenzen wird das Kind zunehmend auch selber Autor des Portfolios, zumindest Verfasser der im Portfolio gesammelten oder wiedergegebenen Werke wie Bilder, Fotos seiner Produkte, aufgeschriebene Kinderaussagen. Das Portfolio ist ein vorzeigbares Dokument der "Selbstwirksamkeit" des Kindes (vgl. Bandura 1997) und macht seine "Überzeugung, aus eigener Kompetenz Herausforderungen bewältigen zu können" sichtbar (Müller 2005, S. 13). Die Bedeutung selber produzierter Werke für die Ausbildung von Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl hat der Entwicklungspsychologe Erik Erikson mit dem Begriff "Werksinn" deutlich gemacht: "Obwohl alle Kinder Stunden und Tage in einer spielerischen Als-ob-Welt verbringen (...), werden sie früher oder später unbefriedigt oder mürrisch, wenn sie nicht das Gefühl haben auch nützlich zu sein, etwas machen zu können und es gut und vollkommen zu machen; dies nenne ich Werksinn (...). Das Kind lernt, sich Anerkennung zu verschaffen, indem es Dinge produziert" (Erikson 1997, S. 105).

Der Autorenstolz von Kindern kann umso mehr gefördert werden, je mehr wir sie im Portfolio authentisch zu Wort kommen lassen. Und dies lässt sich nicht nur auf Bilder und andere visuell fassbare Werke der Kinder beziehen, sondern auch auf das, was sie verbal ausdrücken. Kinderaussagen spiegeln die Entwicklung des Denkens, Wollens, Empfindens und auch ihres Handelns oft prägnanter wider als ihre Bilder. Die Reggio-Pädagogik spricht ganz bewusst von den "100 Sprachen des Kindes" und meint damit die Vielzahl der sinnlichen und nicht-sinnlichen Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Mitteilungsformen des Kindes (vgl. u.a. Knauf 2009, S. 28). Die menschliche Sprache ist dabei eine bevorzugte Variante des Ausdrucks und der Mitteilung. Deswegen hat die Reggio-Pädagogik schriftliche Erklärungen und Deutungen als ein zentrales Element in die Text- und Heftdokumentationen von Projekten und Kinderaktivitäten eingeführt (vgl. Knauf 2011, S. 31 f.).

Die "100 Sprachen der Kinder"

Dementsprechend können wir Aussagen der Kinder einen besonderen Stellenwert im Portfolio geben. Dies kann in verschiedenen Varianten geschehen:

  • Kinder kommentieren ihre Bilder, indem sie nicht nur ihren Namen in oder neben das Bild schreiben, sondern auch einen Bildtitel erfinden oder eine kurze sprachliche Erklärung dem Bild/ der Zeichnung hinzufügen. Viele Erzieher/innen haben allerdings eine Scheu, dies zu tun; sie wollen nicht die Aura des "Kunstwerks" der Kinder stören oder beschädigen oder sie wollen das Bild der vergleichenden Kontrolle der Eltern entziehen. Die Reggio-Pädagogik setzt dagegen das Bedürfnis des Kindes nach Anerkennung, nach sozialer Wahrnehmung, nach Konstruktion von Sinn und nach Transparenz.
  • Kinder erläutern Fotos; dabei geht es nicht so sehr um genaues Rekonstruieren eines Sachverhaltes als um die Herstellung eines Sinnzusammenhangs. So können dann auch an einem (wöchentlichen) Portfolio-Tag oder in einer (vierteljährlichen) Portfolio-Woche Kinder einem Bild nachträglich persönliche Bedeutung verleihen. Dabei geht es um die Förderung der Fähigkeit, mediale Informationen aus der Fülle von Eindrücken herauszustellen und sie in das Netz individueller Sinnzusammenhänge zu integrieren.
  • Kinder werden in Gespräche einbezogen, die protokolliert werden. Das können kleine Dialoge oder Interviews sein, die sich an die verschiedenartigsten Anlässe anknüpfen lassen. Das können aber auch die verschriftlichten Antworten von Kindern zu Fragen in kleinen Fragebögen sein, wie sie z.B. im letzten Kindergartenjahr den Kindern vorgelesen werden.

Insgesamt ist die Einbeziehung verschiedener Zugangsweisen zur gegenständlichen, sozialen und auch individuellen Welt der Kinder für die Qualität des Portfolios von großer Bedeutung. So können dann auch verschiedene Sorten von Dokumenten ins Portfolio integriert werden:

  • Bilder und Zeichnungen der Kinder
  • Fotos von Aktionen und Produkten der Kinder
  • ihre eigenen Worte, Kommentare
  • Briefe Erwachsener
  • gedruckte Zeitungsausschnitte,
  • Einladungen etc.

Diese so unterschiedlichen Dokumente stellen verschiedene Spiegelungen und Brechungen sowohl von Welterfahrungen als von inneren Bildern der Kinder (und Erwachsener) dar. Sie helfen der Ausdifferenzierung der Sinnstrukturen der Kinder.

Portfolioarbeit ist Bildungsarbeit und Erinnerungsarbeit

Die meisten Kinder lieben es, in ihren Portfolios zu blättern. Kinder machen Vergangenes wieder lebendig und tauchen ein in frühere Etappen der eigenen Lebensgeschichte. Erinnerungsarbeit ist immer auch eine Reise durch die kognitiven Landkarten der eigenen Vorstellungen von Welt. Um dies zu fördern, ist es wichtig, das Portfolio aus der Funktion der Sammelmappe herauszuholen. Die im Portfolio aufbewahrten Dokumente sind immer ausgewählt, nicht die Summe von allem, was gesammelt wurde. Daher wird die Portfolioarbeit nicht nebenbei gemacht, sondern an regelmäßig sich wiederholenden Tagen, einmal in der Woche oder in einer turnusmäßigen Portfolio-Woche. Damit wird allen direkt und indirekt Beteiligten, also auch den Eltern, deutlich: Portfolioarbeit ist Bildungsarbeit. In ihr setzen sich Kinder gedanklich, emotional und praktisch auseinander mit

  • mit ihrer eigenen Person, ihrer Unverwechselbarkeit, Identität
  • mit ihren Interessen
  • mit ihrem Können
  • mit dem von ihnen selber Geschaffenen
  • mit dem Erlebten
  • mit Schönem und Besonderen.

Inhaltliche und formale Strukturierung des Portfolios

Die unterschiedlichen Bezüge der im Portfolio zusammengestellten Dokumente zur Identität, zu den Kompetenzen, Interessen und Aktionen des Kindes können sich in der Gliederung des Portfolios widerspiegeln. Diese stellt Ordnung her und erleichtert es den Kindern, den ausgewählten Materialien Bedeutungen zuzuweisen, die mit der eigenen Person und ihren Sinnstrukturen in einer untrennbaren Beziehung stehen. Die Struktur kann folgenden Gesichtspunkten folgen:

  • "Das bin ich"
  • "Das kann ich"
  • "Dafür interessiere ich mich"
  • "Damit haben wir uns beschäftigt"
  • "Meine schönsten Bilder"
  • "Meine Lieblingslieder und -reime"
  • Schöne Ereignisse
  • Beobachtungen der Erzieher/innen.

Um eine Reduktion der Kategorien zu erreichen, ließen sich die drei letzten Kategorien vor den Erzieherinnenbeobachtungen auch in der Kategorie "Schönes und Besonderes" zusammenfassen.

Die Kategorien, gewissermaßen die Kapitel des Portfolios, können durch Kunststoff- oder farbigen Papptrennblättern separiert werden. Zusätzlich könnte ein farbiges Inhaltsverzeichnis zur Orientierung auf die Innenseite des vorderen Aktendeckels geklebt werden. Kinder fragen nach den Bedeutungen der Kategorien und prägen sich diese in der Regel schnell ein, so dass 4- bis 6-Jährige relativ selbstständig mit dem Portfolio umgehen können. Vor der Auswahl der gesammelten Produkte an den festgelegten Tagen der Portfolio-Bearbeitung können diese in den Eigentumsfächern der Kinder oder in Hängeregistraturen "zwischengelagert" werden. Auch dies ist ein Stück Bildungsarbeit: Sammeln als Handeln, das dem selber Hergestelltem oder Erlebtem Aufmerksamkeit und Bedeutung gibt, und dann Auswählen, das Rangfolgen des persönlich Betreffendem erzeugt.

Das Portfolio als Kommunikationsmedium

Das Portfolio ist darauf angelegt, Beziehungen zu knüpfen: Beziehungen zwischen dem Kind und seiner eigenen Lebensgeschichte, aber auch zwischen dem Kind und den Personen, die ihm etwas bedeuten: die Eltern, andere Kinder, die Erzieher/innen. Die Beziehungen können unterschiedlich sein: Die Erzieherin liest z.B. aus dem Portfolio vor, stellt Fragen zu dem, was im Portfolio festgehalten ist, oder antwortet auf Fragen des Kindes rundum das Portfolio. Kinder vergleichen ihre Portfolios. Eltern wollen das, was im Portfolio zusammengetragen wurde, genauer erklärt bekommen. Es entstehen vielgestaltige Portfolio-Gespräche.

Das klassische Entwicklungsgespräch zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern wird durch die Einbeziehung des Portfolios nicht nur bereichert, sondern auch konkreter. Die Fachkraft kann das Entwicklungsgespräch vorbereiten, indem sie das Kind im Vorfeld beteiligt: "Ich treffe mich morgen mit deinen Eltern. Kann ich ihnen dein Portfolio zeigen? Du kannst aus deinem Portfolio auch Seiten heraussuchen, die ich ihnen zeigen soll."

Noch einen Schritt weiter geht der Versuch, das Portfolio als zentrales Medium von Entwicklungsgesprächen in eine Dreieckskommunikation mit Kind, Eltern und Erzieherin zu integrieren: Dann werden Situationen geschaffen, in denen das Kind zu Wort kommt und nicht "hinter seinem Rücken" über das Kind gesprochen wird. Das Portfolio bleibt ein Instrument der Entwicklungsdokumentation, aber gerade deshalb wird es auch zum Kommunikationsanlass und Kommunikationsinhalt.

In den kommenden Jahren dürften sich Erfahrungen mit der Integration des Portfolios in partizipative Kommunikationsformen vermehren und differenzieren. Dann könnte es auch dazu kommen, dass sich bei der Schulanmeldung die Eltern mit ihrem Kind bei der Schulleitung (oder der beauftragten Lehrkraft) vorstellen und das Portfolio mitbringen. Das Kind ist dann in einer kritischen Lebenssituation ausgestattet mit Ausweisen seiner Kompetenz und seiner unverwechselbaren Persönlichkeit und kann diese Ausweise für seine Selbstpräsentation nutzen. Es ist dann nicht mehr stummes Objekt kritischer Prüfung von Schulfähigkeit, sondern aktiver Teilnehmer einer für die eigene Bildungsbiografie wichtigen Situation.

In den regionalen Beratungsteams des niedersächsischen "Brückenjahr-Projekts" sind solche Überlegungen schon angestellt worden. Ähnliches kann für einige der lokalen Netzwerke im brandenburgischen Modellversuch "Gemeinsamer Orientierungsrahmen Bildung in Kindertagesbetreuung und Grundschule (GOrBiKs)" ausgesagt werden. Dort experimentiert und arbeitet man, z.B. in den Regionen Prignitz, Cottbus und Frankfurt/Oder, inzwischen mit sogenannten "Übergangsportfolios", die eine Auswahl der Portfolio-Dokumente aus dem letzten Kindergartenjahr enthalten.

Literatur

Bandura, Albert: Self-efficacy: The exercise of controle. New York 1997

Bostelmann, Antje: Das Portfoliokonzept für Kita und Kindergarten. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2007

Erikson, Erik: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997

Knauf, Tassilo: Ästhetische Bildung von Kindern unter drei Jahren. Impulse aus Reggio-Emilia. TPS 2009, Heft 1, S. 28-29

Knauf, Tassilo: Dokumentation. In: Lingenauber, Sabine (Hrsg.): Handlexikon der Reggio-Pädagogik. Bochum: Projekt Verlag 2010, S. 27-35

Leu, Hans Rudolf u.a.: Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. Weimar: verlag das netz, 3. Aufl. 2010

Müller, Andreas: Erlebnisse durch Ergebnisse. Das Lernportfolio als multifunktionales Werkzeug im Unterricht. In: Grundschule 2005, Heft 6, S. 9-18

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