Barbara Bagic-Moser
Die Elementarpädagogik in den Krippen und Kindergärten in Reggio Emilia gibt uns Orientierungshilfe und zeigt uns einen neuen Weg in Bezug auf einen evidenten Erziehungs- und Bildungsauftrag.
Dokumentation ist ein zentrales Element und ein wesentliches Merkmal der Reggiopädagogik. Dokumentiert wird die Beziehung, der Dialog, der "Flirt" mit der das Kind umgebenden materiellen oder personellen Umwelt. Dieser Flirt, dieser Dialog ist ein in Kontakt treten mit etwas auf achtsame, neugierige, aktive Weise.
Beobachtung löst Bewegungen aus - im Denken und Handeln
Mit der Beobachtung eines kindlichen Phänomens beginnt ein Prozess; es wird eine tiefere Bewegung in Gang gesetzt. Etwas bringt uns zum Nachdenken, Überlegen, bewussten Wahrnehmen und Erkennen.
Nicht nur oberflächlich, sondern mit einem "dritten" Auge und einen "dritten" Ohr hinzusehen und hinzuhören, weisen uns die Pädagog/innen aus Reggio Emilia. Die Pädagogin ist zuhörende und zusehende Zeugin der kindlichen Entwicklung und der individuellen sowie gemeinschaftlichen Bildungsprozesse.
Die Reggiopädagogik ermutigt uns, genau hinzuschauen und hinzuhören, ohne vorschnell zu bewerten. Das Verhalten, die Aktivität, das Spiel eines Kindes wird nicht unüberlegt mit anderen verglichen, sondern das Kind wird als ein eigenständiges Subjekt in einem persönlichen-subjektiven Entwicklungs- und Lernprozess betrachtet.
Mit Aufmerksamkeit versuchen die Pädagog/innen in Reggio Emilia, jedes Kind wahrzunehmen und seine individuelle Identität in Wechselwirkung zur gemeinschaftlichen Identität aufzuspüren.
Nur wenn wir mit Achtsamkeit erkennen, was Kinder neugierig macht, was sie bewegt, was sie beschäftigt, sie interessiert, ... können wir ihnen geeignete Ressourcen und notwendige Bedingungen zur Verfügung stellen, damit sie in ihrer Persönlichkeits- und Lernentwicklung weiter schreiten, ohne dass wir ihnen vorgefertigtes Wissen überstülpen.
Beobachtung beinhaltet jedoch immer auch die eigene subjektive Wahrnehmung. Wir projizieren auf unser Gegenüber (im Kindergartenalltag sind dies eben die Kinder) eigene Gefühle, Empfindungen, selbst erlebte Erfahrungsmuster - Projektion der Dinge also, die wir in unserer inneren Welt internalisiert und abgespeichert haben.
Von der Beobachtung zur Dokumentation
In der Reggiopädagogik werden Beobachtung und Dokumentation effektiv miteinander verknüpft. Fragen, Erlebnisse, Interessen der Kinder werden sorgfältig beobachtet und dokumentiert. Sie entwickeln sich zu Themen pädagogischer Arbeit und münden häufig in einzigartigen Projekten.
Kein Projekt ist frei erfunden oder "vom Himmel gefallen", sondern entsteht aus der unmittelbaren Erlebnis- und Erfahrungswelt des Kindes/der Kinder. Lebensnähe ergibt sich aus der intensiven, achtsamen Beobachtung, die mit anderen im Team ausgetauscht wird, um die subjektive Wahrnehmung objektiv überprüfen zu können.
Beobachtung und in Folge Dokumentation haben in der Reggiopädagogik auch etwas mit dem sichtbar werden von Gedanken und geistigen Reflexionen zu tun: Dokumentation ist eine sichtbar gewordene Erfahrung. Sie zeigt die Beziehung, die Verbindung zwischen Mensch und Wissen. In den reggioanischen Einrichtungen wird Wissen gesammelt und konstituiert, das durch eigenes Erleben entsteht - ein Wissen, das zu nachhaltigen Gedächtnisspuren und Prägungen beim Kind führt.
Eine kindgerechte Dokumentationskultur ist wichtig
Wichtig erscheint mir, eine Dokumentationskultur anzustreben, die das Kind nicht opfert für eine öffentliche Beschauung als einem Zur-Schau-Stellen der intimen, persönlichen Gedanken eines Kindes. Eine Balance zwischen Intimität und Öffentlichkeit muss gewahrt werden. Hier ist es bedeutend, den Blick darauf zu lenken, was die Kinder wollen, wie sie selbst mit dem fotografiert werden umgehen.
Ich vergleiche hier mit den kindlichen Positionen im Puppenspiel: Das Kind darf Zuseher oder selbst Akteur, also "Puppenspieler", sein. Im Prozess der Dokumentation kann ein Kind dementsprechend Fotograf oder das "fotografierte" Kind sein. Dokumentation aus diesem Blickwinkel bedeutet auch, dem Kind eine neue Perspektive und Sichtweise zu eröffnen; somit kann sich sein "sehender", "wahrnehmender" Horizont erweitern: Wie sieht das Kind die Welt? Was ist ihm selbst wichtig im Prozess des Lernens, Forschens und Entdeckens?
Wie die Reggiopädagogik eine Kindheitskultur verfolgt und akzentuiert, setze ich mich für eine kindgerechte Dokumentationskultur ein. Die Erfahrung und das persönliche Wachstum des lernenden, sich ständig entwickelnden Individuums können durch die Dokumentation nur in einem unbestimmten Ausmaß "eingefangen" werden. Wir können nicht hineinblicken in die Seele, den Geist und die Psyche des Kindes. Ich kann nur aufmerksam betrachten, achtsam "hin-sehen", was ich erkenne. Was betrachte ich als notwendigen dokumentierbaren Prozess, Moment, Augenblick? Es heißt also noch lange nicht, dass meine Wahrnehmung von Dokumentation des Lernprozesses mit einer anderen übereinstimmt. Aber sie regt an.
Dokumentation führt zum Dialog
Dokumentation führt zur weiteren Auseinandersetzung, zu vertiefenden Gesprächen, zu Diskussionen, zum Dialog mit anderen Menschen, mit Kindern und Erwachsenen. Dieser Austausch ist fruchtbar und unwiederbringlich ohne diese sichtbar gewordenen Erfahrungen.
Prozesse können durch unterschiedliche Dokumentationsformen sichtbar gemacht werden:
- Die Wanddokumentation wird von den Reggioanern als "sprechende Wände" bezeichnet. Sie entsteht zu Beginn eines Projekts und entwickelt sich im Laufe des Prozesses weiter, wird ergänzt, erweitert, verändert und wächst parallel zur realen Erfahrung im Lernprozess der Kinder mit.
- Die Heftdokumentation dient der Präsentation von Themen, Erfahrungen, Prozessen z.B. in Buchform.
- Weiters gibt es die Form des Portfolios, wo Kinder in die Gestaltung ihrer Mappe miteinbezogen werden und Entwicklungsschritte für das Kind selbst sowie für andere sichtbar werden.
- Die zweidimensionale Dokumentation soll durch dreidimensionale Werke und Gestaltungen ergänzt werden, damit sie nicht einseitig ist.
Bei der Visualisierung und Umsetzung der Dokumentationsarbeit sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
Die Bedürfnisse der Kinder stehen im Vordergrund
Die Reggioaner richten ihre Erziehungs- und Bildungsarbeit an den beobachtbaren Phänomenen und der Bildungs- und Entwicklungsdokumentation aus. So wird entlang der individuellen Bedürfnisse des Kindes und nicht an ihnen "vorbei" gearbeitet.
Eine Analyse der Interessen, Vorlieben der Kinder und Kinderfragen durch sensible Beobachtung und Dokumentation ist wichtig, um kindzentrierte Themen für die Projektarbeit zu finden. Die Anknüpfung an die Erfahrungs- und Lebenswelt des Kindes ist von wesentlicher Bedeutung. Beobachtung und Dokumentation helfen uns dabei, diese Anknüpfung bestmöglich zu gestalten und weitere Schritte sinnvoll zu strukturieren. Aus den Anknüpfungspunkten ergeben sich Bildungsziele, die auch notwendig sind, um den "roten Faden" im Lernprozess nicht zu verlieren.
Kinder sind Konstrukteure ihrer Wirklichkeit, Regisseure und Gestalter ihrer Entwicklung und ihres Wissens. Sie sind die Hauptakteure ihrer Lern- und Gestaltungsprozesse und bilden ihre Ideen, Theorien und Hypothesen selbst und gemeinsam mit anderen ab.
Nicht nur malerisch, zeichnerisch, plastisch, sondern auch durch den kreativen Weg der Fotografie hat die Reggiopädagogik einen Weg gefunden, Prozesse nochmals auf einer neuen Verarbeitungsebene transparent zu machen. Fotografie gehört ebenfalls zu den hundert Sprachen der Kinder. Die Vernetzung aller "Sprachen" soll in der Dokumentation erkennbar werden.
Dokumentation als Grundlage zur Reflexion und Forschung
Die Dokumentation ist Zeugin der kindlichen Persönlichkeits- und Lernentwicklung, der Suche nach Lösungen, der Umsetzung von Hypothesen, der selbstständigen Aktivität und des kindlichen Denkens und Weltbildes.
Die Widerspiegelung und Konstruktion eines authentischen Prozesses anhand von Bildern, Fotos, Aussagen dokumentiert die Suche nach Wahrheit und die Erkenntnis der Dinge. Die Dokumentation ist Grundlage zur Reflexion und weitergehenden Forschung.
Lernschritte, Lernwege, Handlungsprozesse erkennbar und Lernerfolge sichtbar machen ist das Grundziel der Dokumentation in der Reggiopädagogik. Es geht nicht nur darum, was das Kind gelernt hat, sondern vor allem auch wie das Kind gelernt hat.
Ein zyklisches (Wieder)Erinnern an Momente des kreativen Prozesses
Im Sinne des Lebenszyklus von Erik H. Erikson ist die reggioanische Dokumentation ein Bewusstmachen und zyklisches (Wieder)Erinnern an Momente der Anstrengung, der Verzweiflung, der Frustration, der Ausdauer, des Durchhaltevermögens, der inneren Kraft - die vorantreibt, um ein Ziel zu erreichen, Antworten und eine Lösung zu finden - und letztlich der Momente des Glücks, der Erleichterung, der Freude, des Stolzes. Dieser zyklische Ablauf des kreativen Prozesses ist geprägt durch unterschiedliche Emotionalität und Gefühle. Er beinhaltet Höhen und Tiefen, wie das Leben selbst diese in sich vereint. Eine bessere Vorbereitung auf zukünftige Transitionen, Übergänge und Veränderungen kann es nicht geben. So werden Kinder zu reflektierten, selbstbewussten, (selbst)kritischen Persönlichkeiten.
Dem Eindruck einen Ausdruck verleihen
Die Auseinandersetzung mit der Welt mit Hilfe der hundert Sprachen wird komprimiert in der Dokumentation und verdichtet sich in Kunstwerken und kreativen Gestaltungen der Kinder. Jedes Werk, jedes Gestaltung vereint die Eindrücke des Kindes von seiner Welt und hat eine Erinnerungsfunktion. Dadurch spiegelt die kreative Ausdrucksarbeit die innere (Gefühle, Gedanken) und äußere Welt (Umgebung, Umwelt) jeden einzelnen Kindes und einer bestimmten kulturellen, gemeinschaftlichen Gruppe wider. Daher kann die Dokumentation nur einzigartig und einmalig sein und zeugt von dieser spezifischen Konstellation der individuellen, psychischen Identität und gemeinsamen, kulturellen Identität bzw. Gruppe.
Gemeinsam leben lernen
Neben der individuellen kommt es zu einer gemeinsamen Lerngeschichte. Die Dokumentation zeugt auch von diesem gemeinsamen Leben lernen. Die individuelle und die gemeinschaftliche Erkenntnissuche werden transparent und kommunizierbar.
Die Beobachtung und Dokumentation ist eine relativ zuverlässige Methode, um einen systematischen Einblick in die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu bekommen. Unterschiedliche Entwicklungsrhythmen, Fähigkeiten, Kompetenzen haben Platz und werden dokumentiert. Dies regt zum Nachdenken an über die Verschiedenartigkeit von Fähigkeiten und Kompetenzen, über das Ineinandergreifen von Stärken und Schwächen in einem sozialen Gefüge: Als wie wertvoll werden verschiedene Fähigkeiten im Kindergarten gesehen? Welche Wertschätzung haben eine Vielfalt und Verschiedenartigkeit im sozialen Kontext? Wie weit können wir es zulassen, dass Kinder eben nicht alle das Gleiche gleich gut können?
Dokumentation ermöglicht einen förderlichen Vergleich und Austausch mit anderen und führt auch zur Erkenntnis, dass jeder spezifisch ausgeprägte Fähigkeiten hat und jeder in der Gemeinschaft seinen individuellen Beitrag leistet. Das eigene Wachsen und Lernen werden angeregt. Letztlich muss die Kontinuität der Dokumentation gewährleistet sein, um Vertiefung und Anregung zu ermöglichen.
Für die Pädagog/innen bedeutet Dokumentation, Verantwortung zu übernehmen für einen Prozess, indem sie die Kinder achtsam begleiten, aufmerksam beobachten und dabei den Wegen der Kinder folgen mit dem Ziel, was Kinder lernen wollen. Das Wertvolle dabei ist die Grundhaltung: "Kinder sind wichtig" - "Jeder ist wichtig". Vielleicht verändert dies das erwachsene Bild der kindlichen Welt.