Beobachtung und Dokumentation in der städtischen Tageseinrichtung Ziegelgrund in Recklinghausen

Aus: KiTa aktuell NRW 2005, Heft 7/8, S. 153-156

Rita Greine

Unsere Kita besteht aus drei Gruppen, zwei Kindergartengruppen und einer kleinen altersgemischten Gruppe. "Gesunde Bildung", so lautet unser Konzept, mit dem es uns nach einem langen Orientierungsprozess gelungen ist, die Bereiche Gesundheit und Bildung innerhalb unseres pädagogischen Handelns zu vernetzen (1).

Als erster zertifizierter Kneipp-Kindergarten in NRW (2) ist es uns nicht nur ein Anliegen, unsere Kinder unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status bestmöglichst zu bilden, besonderen Wert legen wir daneben auf eine selbstverantwortliche, gesundheitsförderliche Erziehung.

Schon immer gehörten Beobachtung und Dokumentation zum festen Bestandteil unserer Arbeit, und doch hat sich auf Grund des Beobachtungsmanagements, welches die städt. Kitas in Recklinghausen gemeinsam entwickelt haben (Beobachtungsmanagement Recklinghausen - BMR - siehe Anm. 3), einiges verändert.

Ein kurzer Blick auf das, was bisher in unserer Kita in Bezug auf Beobachtung und Dokumentation geleistet wurde:

  • kontinuierliche beobachtende Wahrnehmung, jedoch ohne diese nach einem System schriftlich festzuhalten,
  • Gelegenheitsbeobachtungen, meist bei den Kindern, die besondere Auffälligkeiten zeigten und wo ein Gespräch mit der Erziehungsberatungsstelle oder den Eltern bevorstand,
  • ständiger verbaler Austausch von Beobachtungen mit Kolleginnen über das Verhalten und die Lernprozesse von Kindern,
  • Dokumentation durch gesammelte Werke/ Bilder der Kinder,
  • Dokumentation der Schulfähigkeit durch den Schulkindpass, den alle Kinder im letzten Kitajahr erhalten (seit vier Jahren).

Schwachstellen in unserer Art der Beobachtung und Dokumentation waren rückblickend folgende:

  • Unsere Beobachtungen waren eher beliebig.
  • Beobachtungen konzentrierten sich vor allem auf die Kinder, die Defizite bzw. Auffälligkeiten zeigten.
  • Nicht alle Kinder konnten wir mit dieser Methode im Blick haben.
  • Bildungsangebote wurden weniger auf Grund von Beobachtungen entwickelt.

Nach und nach hat nun mit der Entwicklung des BMR eine veränderte Beobachtungs- und Dokumentationskultur in unserer Kita Einzug gehalten.

Nachfolgend möchte ich die von uns in der Praxis angewandten Methoden der Beobachtung und Dokumentation aufzeigen, gleichzeitig aber auch unsere Grenzen bezüglich der Anwendbarkeit herausstellen.

Strukturierte Formen der Beobachtungen und Aufzeichnungen

In einem Dokumentationsbogen (siehe BMR) wird der Entwicklungsstand des Kindes festgehalten. Hierzu nutzen wir die von uns aufgezeichneten Gelegenheitsbeobachtungen. Den in Gelsenkirchen entwickelten "Entwicklungsbegleiter" (4) ziehen wir als Beobachtungsbogen hinzu, da er durch detaillierte Aussagen zu den verschiedenen Entwicklungsbereichen ausreichend Auskunft und Orientierung bietet. Wir verwende diesen Bogen ausschließlich zur Unterstützung unserer Aussagen bezüglich des oben erwähnten Entwicklungsstandes, d.h. wir kreuzen nicht an, sondern nutzen ihn als Leitfaden, während wir dokumentieren! Das im BMR verankerte "Ampelsystem Rot-Gelb-Grün" erweist sich als ausgezeichnete Unterstützung, Risikokinder kontinuierlich im Blick zu haben und gleichzeitig für gezielte Maßnahmen zu sorgen. Gerade auch Kinder mit einem höheren Anspruch an Förderung sind für uns präsent und erhalten entsprechende besonders herausfordernde Angebote.

SISMiK (5) wird als Beobachtungsbogen für Migrantenkinder eingesetzt. Er wird von uns nicht nach dem vorgegeben Punktesystem ausgewertet. Wir nutzen ihn als Sprachstandsmessung und entwickeln ein eigenes Förderprogramm (anstelle von festgelegten Sprachförderzeiten), welches sich gut in den Tagesablauf integrieren lässt.

BISC (6) wird als Testform für das Erkennen einer eventuellen Lese-Rechtschreibschwäche angewandt.

Der Beobachtungsbogen für Erzieherinnen im Zusammenhang mit der U8 und U 9 (7), auszufüllen vor den jeweiligen Vorsorgeuntersuchungen der Kinder beim Kinderarzt, wird gleichzeitig genutzt, um mit Eltern gemeinsam über Stärken und Schwächen des Kindes zu reden.

Der Schulkindpass (8) (jedes Kind erhält ihn im letzten Kitajahr) ist strukturierte Beobachtung und Dokumentation zugleich. Er formuliert konkrete Aufgaben zu allen Bildungsbereichen und wird von den Kindern leidenschaftlich "mit dokumentiert". Gerade hier werden wir dem Anspruch der NRW Bildungsvereinbarung in höchstem Maße gerecht, fordert diese doch in Absatz 6: "Für die Gestaltung des Überganges in die Grundschule sind Beobachtung und Dokumentation von zentraler Bedeutung".

Beobachtende Wahrnehmung unterstützt durch das "Mein-Ich-als-Kind-Buch"

Die beobachtende Wahrnehmung nimmt in unserer Arbeit einen großen Stellenwert ein. Im Erzieher-Kind-Dialog halten wir gemeinsam mit dem Kind seine Entwicklungs- und Bildungsschritte im "Mein-Ich-als-Kind-Buch" (9) fest, welches in unserer Kita entwickelt wurde. Die Idee dieses Buches entstammt dem Buch "Weltwissen der Siebenjährigen" von Donata Elschenbroich, die in diesem Buch für jedes Kind ein solches Buch einfordert.

Alle Kinder erhalten das "Mein-Ich-als-Kind-Buch" bei Eintritt in die Kita. Die Eltern übernehmen die Kosten von 4,20 EUR, bisher ohne Ausnahme bzw. Einwände!

Kinder und Erzieher/innen orientieren sich an einzelnen Symbolen wie z.B. "Kindermund", "Das erste Mal", "Meine Ängste", "Meine Träume" usw. und halten gemeinsam kleine, scheinbar unwesentliche Begebenheiten durch Bild und Schrift fest.

Beispiel: Nina traut sich in der Bewegungsstunde, mit verbundenen Augen von einem Tisch zu springen, sie wiederholt dies mit voller Begeisterung. Die Erzieherin lobt Nina und bietet ihr an, dies morgen in "ihr Buch" einzutragen, wobei Nina selbst jedoch daran denke solle. Am nächsten Morgen kommt Nina gleich morgens und erinnert die Erzieherin an ihr gemeinsames Vorhaben. Während Nina die dicke Turnmatte aus blauem Tonkarton ausschneidet, ermuntert die Erzieherin sie, doch noch einmal vom gestrigen Ereignis zu erzählen. Stolz berichtet Nina, dass sie sich getraut hat und dass sie das nächste Mal von "noch höher" springen wird. Nina malt und gestaltet das Bild von ihrem Wagnis in ihr Buch, anschließend schreibt die Erzieherin Ninas Worte hinzu: "Ich hab' mich getraut, darunter zu springen - mit einem Tuch um meine Augen". Nina ergänzt die Eintragung mit ihrem Namen, denn den kann sie schon selbst schreiben.

Dies ist eine von vielen kleinen fest gehaltenen Ereignissen, die aufzeigen, dass das Kind selbst zum Autor seines Buches wird. Das Kind dokumentiert mit Unterstützung der Erzieherin Erinnerungen an seine Kindheit. Die Erzieherin ermutigt das Kind, achtet und wertschätzt das, was vom Kind selbst initiiert wird. Es sind Alltagsgeschichten, die in kurzen, klaren Aussagesätzen das Wesentliche zum Ausdruck bringen. Es mischen sich Wort und Bild:

  • "Ich weiß jetzt, wie man Brötchen macht, ich war beim Bäcker" - ein Foto ist eingeklebt ("Das 1. Mal").
  • "Bei mir ist sowieso alles klar, ich werde Psychologe" ("Kindermund").
  • "Ich bin traurig, weil Felix gestern gestorben ist. Wir haben ihn im Wald begraben und dann haben wir Blumen darauf gelegt" - Felix, die Katze wurde gemalt ("Ich bin traurig, weil...").
  • usw.

Statt manchmal oberflächlicher Begegnungen ist durch den Einsatz dieses Buches der intensive Kontakt und damit gleichzeitig eine Einzelförderung mit jedem Kind abgesichert. Die Individualität des Kindes steht im Vordergrund.

Die Umschlagseite des Buches zeigt auf, was durch den Einsatz dieses Buches gewährleistet ist:

  • Das Kind nimmt seine Entwicklung bewusster wahr,
  • erfährt Beständigkeit und Veränderbarkeit von Situationen,
  • spürt die Bedeutsamkeit von Wünschen, Träumen und Erlebnissen,
  • macht erste Erfahrungen mit der Schriftkultur und wird ermuntert, sich in Wort und Bild auszudrücken,
  • erweitert durch den kontinuierlichen Dialog mit dem Erwachsenen seine Sprach- und Kommunikationskompetenz,
  • erfährt eine außergewöhnliche Wertschätzung des Lebensabschnittes Kindheit.

Ausblick

Die von uns durchgeführten Beobachtungen bzw. Dokumentationsformen erfordern von allen Erzieherinnen ein hohes Maß an Zeitmanagementkompetenzen. Für jede Gruppe gibt es festgelegte Zeiten für die schriftlichen Aufzeichnungen. Diese reichen jedoch nicht aus, um dem Anspruch des BMR gerecht zu werden. Es ist selbstverständlich geworden, unerwartete und nicht vorhersehbare Zeitressourcen (wenig Kinder, Unterstützung durch Praktikanten im Nachmittagsbereich etc.) für schriftliche Eintragungen und deren Auswertungen zu nutzen. Nicht nur aus Zeitgründen haben wir uns, gerade beim Ausfüllen des Dokumentationsbogens, darauf geeinigt, kurze und prägnante Aussagen zu formulieren.

Eine besondere Bedeutung erhält die Selbstreflexion. Diese wird innerhalb des Teams durch gezielte Übungen geschult. Es gelingt uns mittlerweile, untereinander und miteinander unsere Stärken und Schwächen zu erkennen, sie zu akzeptieren und einen achtsamen Umgang einzuüben. Wir setzen uns mit eigenen Haltungen und Einstellungen auseinander, um uns im Beobachtungsgeschehen auch selbst in den Blick zu nehmen. Die Gefahr der Interpretation von Beobachtungen wird reduziert.

Es hat eine Zeit lang gedauert, bis die Form der strukturierten Beobachtung und Dokumentation ihren Platz und ihre Akzeptanz in unserer pädagogischen Arbeit gefunden hat. Heute bestärkt und unterstreicht sie unsere Professionalität. Gleichzeitig bleibt aber auch der alltägliche, mündliche, unstrukturierte und ungeplante Austausch von Beobachtungen über Kinder in unserer Tageseinrichtung ein professionelles Instrument für pädagogisch wirksames Handeln.

Der Einsatz des "Mein-Ich-als-Kind-Buches" erweist sich als eine Unterstützung von Beobachtung und Dokumentation, die ohne viel Aufwand in den Alltag der Kita integrierbar ist. Es ist für jede Erzieherin leistbar, das Buch gemeinsam mit dem Kind im Laufe seiner gesamten Kitazeit zu füllen - ohne Zeitdruck zu empfinden. Statt einer Bildermappe wird dem Kind ein Teil seiner eigenen Biographie überreicht.

Erinnern will ich mich, an all das, was gewesen,
ich möchte jederzeit in diesem Buch nachlesen,
was ich gefragt, gemacht, getan,
wohin mit Oma ich gefahr'n.
Was ich geträumt, was ich gestaltet,
wer mein Leben mitverwaltet.
Selbst meine Ängste, meine Sorgen,
will ich kennen auch noch morgen.
Und wird' ich einmal größer sein,
schau ich in dieses Büchlein rein.
Dort wird ich lesen über mich
und eins sein mit dem kleinen ICH. (11)

Anmerkungen

(1) Vgl. Bildung in den städtischen Tageseinrichtungen für Kinder in Recklinghausen. Vor allem "Gesundheitsförderung und Wohlbefinden", S. 34 f. In: www.u-braun.de/wettbewerb.pdf

(2) Vgl. www.kneippbund.de => Kneipp-Bund e.V. => Kinder

(3) Vgl. KiTa aktuell NRW 06/2005

(4) Entwicklungsbegleiter. Zusammengestellt von der Arbeitsgruppe "Früherkennung" der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG) für die Stadt Gelsenkirchen

(5) Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen (SISMiK). Michaela Ulich und Toni Mayr. Herder: Freiburg 2003

(6) Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (BISC)

(7) Beobachtungsbogen für Erzieherinnen und Erzieher zur Vorlage bei den Vorsorgeuntersuchungen U8 und U9

(8) Bestelladresse und Infos: www.kindergartenpaedagogik.de/972.html

(9) ALS-Verlag: BLANKI-Mein-Ich-als-Kind-Buch (www.als-verlag.de/shop); vgl. auch www.kinder-frueher-foerdern.de => Veranstaltungen => Fachkongress 2004 => Lernkarussells => Kita Ziegelgrund, Recklinghausen

(10) Elschenbroich, Donata: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München: Kunstmann 2002

(11) Gedicht aus dem Mein-Ich-als-Kind-Buch; vgl. Anm. 9

Autorin

Rita Greine, Leiterin der städtischen Kindertageseinrichtung "Ziegelgrund" in Recklinghausen. Die Kita Ziegelgrund wurde im Januar 2005 als dritter Preisträger bei dem BKK-Wettbewerb "Fit von klein auf" mit einem Geldpreis ausgezeichnet. Mit diesem im Ruhrgebiet ausgeschriebenen Gesundheitswettbewerb wurden herausragende Konzepte zur Gesundheitsförderung prämiert. Nähere Informationen: www.bkk-nrw.de/projekte/fit_von_klein_auf

Email: Rita.Greine@recklinghausen.de

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