Martin R. Textor
Im ersten Teil des Vortrags wird kurz die Entwicklungen im Kindertagesstättenbereich während der vergangenen 25 Jahre gestreift. Im zweiten Teil werden dann einige sozialpolitische Herausforderungen skizziert, mit denen wir derzeit und in den kommenden 25 Jahren konfrontiert werden. Daraus werden im dritten Teil der Rede Konsequenzen für den Kindergarten sowie im vierten Teil Folgen für die Ausbildung und berufliche Tätigkeit von Kinderpflegerinnen abgeleitet.
Die vergangenen 25 Jahre
Der Gründung der Berufsfachschule für Hauswirtschaft und Kinderpflege Neusäß ging eine Zeit voraus, in der die westliche Welt aufgrund des "Sputnik-Schocks" befürchtete, wissenschaftlich und technologisch gegenüber dem kommunistischen Block ins Hintertreffen zu geraten. Dies führte zu einem unglaublich starken Reformwillen und einer Aufbruchsstimmung, die alle Bereiche der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur durchdrangen. Eine besondere Bedeutung wurde der Bildungspolitik beigemessen, da von Schulen und Universitäten erwartet wurde, das gegenüber der Sowjetunion verlorene Terrain wieder aufzuholen. Ab Anfang der siebziger Jahre wurden auch immer mehr wissenschaftliche Forschungsergebnisse publik, die von großen Fortschritten im frühkindlichen Lernen bei entsprechenden Förderprogrammen berichteten und die den in der frühen Kindheit erzielten Lernfortschritten eine zentrale Bedeutung für den weiteren Bildungsgang beimaßen. Man glaubte, durch so genannte kompensatorische Förderprogramme insbesondere in den unteren Gesellschaftsschichten viele ungenutzte Begabungsreserven mobilisieren zu können.
In diese Zeit des Aufbruchs und Enthusiasmus fiel die Gründung der Berufsfachschule für Kinderpflege Neusäß. Ihre Lehrkräfte und Schülerinnen erlebten mit, wie der Kindergarten zu einem besonders wichtigen Teil des Bildungssystems erklärt wurde, zum so genannten Elementarbereich. Sie erlebten mit, wie das kognitive Lernen über andere Entwicklungsbereiche gestellt wurde, wie sich die Frühlesebewegung und die Verwendung von Arbeitsblättern in Kindergärten ausbreiteten. Aber sie bemerkten auch die Gegenströmungen, zunächst die Kinderladenbewegung und später die Entwicklung des Situationsansatzes durch das Deutsche Jugendinstitut mit der Schwerpunktsetzung im sozialen Bereich. In den folgenden 10 Jahren nahmen die Lehrkräfte und Schülerinnen an der Berufsfachschule Neusäß ferner die wellenförmig verlaufenden thematischen Entwicklungen in der Frühpädagogik zur Kenntnis, die zumeist von Modellversuchen ausgingen. Dazu gehörten beispielsweise die Thematisierung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule, die interkulturelle Erziehung und zuletzt die Integration behinderter Kinder in Regeleinrichtungen.
Ab Mitte der 1980er-Jahre wurde es dann wieder stiller um den Elementarbereich. Es entstanden weniger neue Kindergärten, und damit verschlechterten sich die Berufsaussichten für Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen. Erst Anfang der 1990er-Jahre erlebten Kindertagesstätten einen neuen Aufschwung, als im Zusammenhang mit der Diskussion um § 218 Strafgesetzbuch der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt wurde. Schon durch die Verknüpfung mit der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch, aber auch durch die stärkere Einbeziehung frauen- und familienpolitischer Zielsetzungen wie der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wird deutlich, dass es zu einer Akzentverlagerung kam: Im Vergleich zu den sechziger und siebziger Jahre steht nun nicht mehr allein der Bildungsauftrag des Kindergartens im Mittelpunkt, sondern das "Dreigestirn" Betreuung, Bildung und Erziehung. So heißt es in der einzigen Rechtsgrundlage für Kindertageseinrichtungen auf Bundesebene, im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), wie folgt: "Die Aufgabe [von Kindergärten] umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes. Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren" (§ 22 Abs. 2 SGB VIII). Im folgenden Absatz des Gesetzestextes werden dann auch viel stärker als bisher die Elternrechte betont. Er lautet: "Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sollen die in den Einrichtungen tätigen Fachkräfte und anderen Mitarbeiter mit den Erziehungsberechtigten zum Wohl der Kinder zusammenarbeiten. Die Erziehungsberechtigten sind an den Entscheidungen in wesentlichen Angelegenheiten der Tageseinrichtung zu beteiligen" (§ 22 Abs. 3 SGB VIII). Zwei Anmerkungen am Rande: (1) Da Kinderpflegerinnen zu den hier genannten Mitarbeitern gehören, müssen sie für die Zusammenarbeit mit Eltern qualifiziert werden und diese als Teil ihrer Aufgaben begreifen. In den Kindergärten müssen sie sich dieses Tätigkeitsfeld aber oft noch erkämpfen. (2) Das Bayerische Kindergartengesetz gesteht den Eltern allerdings noch nicht die im Kinder- und Jugendhilfegesetz genannten Rechte zu. Jedoch fordern u.a. die Wohlfahrtsverbände und der Bayerische Senat ein neues Kindertagesstättengesetz, das sicherlich in den kommenden zwei bis fünf Jahren verabschiedet werden wird und dann den Vorgaben des Bundesgesetzes entsprechen dürfte.
In Zusammenhang mit der Diskussion um den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz kam es in den letzten Jahren auch in Bayern - dem einzigen Bundesland, wo diese Vorgabe aufgrund des Landesrechtsvorbehalts nicht gilt, aber politischer Wille ist - zu einem rasanten Ausbau des Kindergartenbereichs. Allein in den Jahren 1992 bis 1996 wurden 66.700 neue Ganztagsplätze geschaffen. Im vergangenen Jahr gab der Freistaat Bayern rund 100 Mio. an Baukostenzuschüssen und 703 Mio. DM an Personalkostenzuschüssen aus; die Kommunen beteiligten sich zusätzlich mit rund 1 Mrd. DM an den Ausgaben.
Obwohl die Zahl der Kindergärten und -gruppen und damit auch der Personalbedarf in den letzten Jahren stark anstieg, verschlechterten sich die Berufsaussichten für Erzieherinnen und insbesondere für Kinderpflegerinnen. Das liegt zum einen an den sehr hohen Absolventinnenzahlen, zum anderen aber auch daran, dass die Verweildauer von Fachkräften im Beruf viel länger als früher ist und immer mehr Erzieherinnen bzw. Kinderpflegerinnen nach dem Erziehungsurlaub an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Da aufgrund der finanziellen Engpässe bei Staat und Kommunen verstärkt auf eine effektive und effiziente Mittelverwendung geachtet wird und da familienpolitische Zielsetzungen vermehrt berücksichtigt werden, veränderten sich auch die Arbeitsbedingungen: Beispielsweise werden die Öffnungszeiten den Arbeitszeiten der Fachkräfte angepasst, ist bei überlangen Öffnungszeiten nur noch eine Fachkraft frühmorgens und spätnachmittags in der Gruppe, müssen vermehrt Dienstbesprechungen und Elterngespräche während der Betreuungszeit durchgeführt werden, muss vielerorts die Zahl der Schließtage auf maximal 35 Arbeitstage bei eingruppigen und 30 Tage bei mehrgruppigen Kindergärten reduziert werden. Für Kinderpflegerinnen bedeutet dies, dass sie immer häufiger alleine in der Kindergruppe sein werden und somit in der Berufsfachschule für die pädagogische Arbeit mit bis zu 25 Kindern qualifiziert werden müssen.
Sozialpolitik und Bevölkerungsentwicklung
Wie wird es nun in den nächsten fünf, 10 oder 20 Jahren weitergehen? In diesem Kontext ist zunächst die derzeitige Situation der Sozialpolitik zu behandeln, die ja u.a. die finanziellen Mittel für Kindertageseinrichtungen zur Verfügung stellt. So ist in den letzten Monaten deutlich geworden, dass die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik mit dem Ausbau des Sozialstaates nicht Schritt gehalten hat. Das Ergebnis sind öffentliche Schulden von über zwei Billionen DM - das sind circa 26.000 DM pro Person, egal ob Säugling oder Senior. Die Zinslast schränkt immer mehr die finanziellen Spielräume des Bundes, der Länder und Kommunen ein; das zurückgehende Steueraufkommen erschwert die Rückzahlung von Schulden; eine Neuverschuldung ist immer schwerer zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und wahrscheinlich auch die Pflegeversicherung mit hohen Defiziten konfrontiert sind. Zudem ist das Sozialsystem durch die deutsche Einheit überbelastet worden: So traten Millionen Menschen den Sozialversicherungen bei, ohne dass sie einen entsprechenden Beitrag leisteten, wurde die Arbeitsmarktpolitik im Osten mit Beiträgen aus dem Westen finanziert.
Nun ist deutlich geworden, dass der Sozialstaat nur unter den Bedingungen Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Bevölkerungszunahme überleben kann - Voraussetzungen, die nicht mehr gegeben sind. So richten weltweite Lohnkonkurrenz und Massenarbeitslosigkeit Verwüstungen in den Systemen der sozialen Sicherung an. Noch nie seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1934 hat es in Deutschland so viele Arbeitslose gegeben wie jetzt. Auf diese Weise wird der Sozialstaat doppelt belastet - zum einen durch die Kosten der Arbeitslosigkeit und zum anderen dadurch, dass Arbeitslose als Beitragszahler zu den Sozialversicherungen und als Steuerzahler ausfallen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen diese Ausfälle kompensieren; ihre Beitragslast steigt. So wird Arbeit in Deutschland immer teurer, wird sie - weltweit gesehen - immer weniger konkurrenzfähig. Laut DER SPIEGEL (1996) betragen heute die gewerblichen Arbeitskosten 34 DM pro Stunde - die Amerikaner tun es für 28 DM, die Briten für die Hälfte, die Südostasiaten für noch weniger. Die deutsche Wirtschaft reagiert auf diese Situation entweder mit Rationalisierungsmaßnahmen und einer Reduzierung der Arbeitsplätze oder mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in das Ausland. Gleichzeitig nimmt aufgrund der Arbeitskosten die Schwarzarbeit zu, bei der weder Sozialversicherungsbeiträge noch Steuern gezahlt werden. Ein Teufelskreis entsteht...
Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen bei den Sozialversicherungen scheinen nunmehr unumgänglich zu sein. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, vorzeitiger Ruhestand, Erhöhung des Kindergeldes und andere Sozialleistungen werden in Frage gestellt. Das Rentenalter soll heraufgesetzt werden, insbesondere bei Frauen. Die Dauer von Kuren und das Krankengeld sollen gekürzt werden. Alle diese Pläne sind jedoch erst der Anfang des Umbaus des Sozialstaates. Ein weiterer Abbau der Sozialleistungen wird in den kommenden Jahrzehnten unvermeidbar sein. Dies wird aus der folgenden Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ersichtlich (vgl. Textor 1992, 1994).
Seit den siebziger Jahren lässt sich aus der Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR ablesen, dass nach dem Jahr 2000 die Bevölkerung stark schrumpfen und gleichzeitig schnell altern wird. Diese Entwicklung fand bisher in Gesellschaft und Politik nicht die ihr zukommende Aufmerksamkeit, insbesondere weil die hohe Zuwanderung von Aussiedlern, ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien sowie von Asylanten in den letzten 20 Jahren die kurzfristigen Folgen überdeckte und verschleierte. Hans-Ulrich Klose (1993) meint aber zu Recht: "Die mittelfristigen und erst recht die langfristigen Effekte des demographischen Wandels werden dieses Land und die Menschen nachhaltiger und einschneidender verändern als viele andere Prozesse, einschneidender selbst als die deutsche Einheit. In den nächsten 10 Jahren stehen wir, was die Altersschichtung angeht, vor einer täuschend spannungsfreien Periode. 'Die demographisch goldenen 90er' (Edzard Reuter) könnten leicht dazu führen, dass politisch unangenehmen Entscheidungen aus dem Wege gegangen wird" (S. 9).
Die Zahl der Lebendgeborenen in Gesamtdeutschland reicht bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung auf Dauer konstant zu halten. Hierzu wäre eine Nettoreproduktionsrate von 1 nötig; 1994 betrug sie aber nur 0,59. In diesem Jahr starben 115 058 Menschen mehr, als geboren wurden. So ist im kommenden Jahrhundert mit einem starken Bevölkerungsrückgang zu rechnen. Es wird sich hier um einen kontinuierlichen Prozess handeln, da einerseits zahlenmäßig immer kleinere Jahrgänge in das zeugungsfähige Alter kommen und andererseits Personen aus sehr kleinen Herkunftsfamilien (Einzelkinder) dazu tendieren, selbst wieder Kleinstfamilien zu gründen. Außerdem werden immer mehr Mitglieder geburtenstarker Jahrgänge sterben, sodass die Differenz zwischen der Zahl der Lebendgeborenen und der Gestorbenen automatisch größer werden wird.
Nach Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes werden im Jahr 2030 noch zwischen 73,6 und 81,0 Mio. Menschen und im Jahr 2040 zwischen 67,6 und 77,1 Mio. Menschen in Deutschland leben, je nach Ausmaß der Zuwanderungen. Bedeutsamer als der Rückgang der Bevölkerung ist aber ihre Alterung. Während 1972 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter 35 Personen im Alter von 60 Jahren und darüber kamen, werden es im Jahr 2030 zwischen 71,1 und 65,0 Senioren sein. Bereits im Jahr 2020 wird eine ältere Person auf zwei Personen im Erwerbsalter kommen. Selbst wenn alle Menschen erst mit 65 Jahren Rentner würden, käme im Jahr 2040 noch immer eine Person im Rentenalter auf zwei Personen der mittleren Generation. Diese Alterung der Bevölkerung ist ein nicht umkehrbarer Prozess. Er kann selbst durch eine verstärkte Zuwanderung nicht nennenswert aufgehalten werden.
Die skizzierte Bevölkerungsentwicklung ist für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt, für den Wohnungsmarkt und das Bildungswesen, für die Infrastruktur sowie die Zusammensetzung der Wählerschaft und damit für die Politik von großer Bedeutung. An dieser Stelle sollen aber nur einige Konsequenzen für die Sozialpolitik aufgezeigt werden: So wird die Alterung der Gesellschaft z.B. zu einem rasch wachsenden Bedarf an sozialen Einrichtungen und Diensten für ältere und hochbetagte Menschen führen. Dazu gehören Begegnungs-, Freizeit-, Kultur-, Service- und Beratungsstellen. Vor allem kranke und pflegebedürftige Senioren werden zunehmend auf öffentliche Unterstützung angewiesen sein, da immer häufiger Partner oder erwachsene Kinder fehlen werden, die bisher überwiegend diese Aufgabe übernahmen. So werden mehr geriatrische und gerontopsychiatrische Abteilungen und Pflegebetten in Krankenhäusern, mehr Alten- und Pflegeheime, mehr Tages- und Kurzzeitpflegeplätze sowie mehr Sozialstationen, pflegerische, hauswirtschaftliche und Mahlzeitendienste benötigt werden. Ambulante Dienste werden sich zugleich umorientieren müssen, da sie als familienergänzend konzipiert wurden, in Zukunft aber vermehrt familienersetzend wirken müssen (wenn Partner und Kinder fehlen oder Letztere weit entfernt wohnen und erwerbstätig sind).
Die Ausgaben für soziale und medizinische Einrichtungen und Dienstleistungen für Senioren werden also noch erheblich zunehmen. Da die Kosten für die Versorgung (chronisch) kranker, behinderter und pflegebedürftiger Senioren überwiegend von der Kranken- und der Pflegeversicherung übernommen werden, ist hier mit stark ansteigenden Kosten und damit auch höheren Beiträgen zu rechnen. Die Basler Prognos AG (1995) berechnete zwei Szenarien, nach denen der Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung bis 2040 auf 2,3 bzw. 2,6 Prozentpunkte und in der gesetzlichen Krankenversicherung auf 16,0 bzw. 16,1 Prozentpunkte zunehmen wird.
Noch problematischer ist die Entwicklung bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Prognos AG (1995) berechnete für 2030 Beitragssätze von 26,3 bzw. 28,5 % und für 2040 von 26,3 bzw. 28,7 % (je nach Szenario). Ob sich so hohe Beitragssätze politisch durchsetzen lassen, erscheint fraglich - zumal sie sich zusammen mit den Beiträgen für Kranken- und Pflegeversicherung und dem voraussichtlich auf 4 bzw. 5,3 Prozentpunkte sinkenden Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf 48,6 oder 52,7 Prozentpunkte (je nach Szenario) summieren würden - wozu dann noch die Steuern kämen. Auch um Deutschland auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu halten, wird diese Beitragsentwicklung gebremst werden. Das bedeutet neben Leistungskürzungen auch, dass Steuermittel für viele Aufgaben eingesetzt werden müssen, die bisher von den Sozialversicherungen finanziert wurden. Der finanzielle Spielraum für die Sozialpolitik wird somit in den nächsten Jahren immer kleiner werden.
Konsequenzen für den Kindergarten
Die skizzierte Entwicklung bedeutet, dass in den nächsten Jahren Kindertageseinrichtungen zum einen mit zurückgehenden Kinderzahlen konfrontiert sein werden: Gab es 1993 in Deutschland z.B. noch 938.000 Dreijährige, so werden es in 10 Jahren wahrscheinlich nur noch 685.000 (2007) Dreijährige sein (Statistisches Bundesamt 1994). Offensichtlich ist, dass damit der Bedarf an Kindergartenplätzen rasant zurückgehen wird. Zum anderen werden Kindertageseinrichtungen von den immer knapper werdenden Mitteln für sozialpolitische Aufgaben betroffen sein. Dies bedeutet meines Erachtens, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass z.B. dem zurückgehenden Bedarf an Kindergartenplätzen mit einer größeren Ausweitung des Angebots an Krippen- und Hortplätzen begegnet werden wird. Damit dürfte es unvermeidbar sein, dass in den kommenden Jahren der Bedarf an Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen immer geringer werden wird. Berufsanfängerinnen finden schon jetzt kaum noch Stellen - in Zukunft werden sie noch schlechtere Chancen haben. Aber auch immer mehr berufstätige Fachkräfte werden demnächst mit der Schließung ihrer Gruppe bzw. Einrichtung und damit mit Arbeitslosigkeit konfrontiert werden.
Die skizzierte Situation dürfte vor allem in größeren Orten zur Konkurrenz zwischen den von Schließung oder Verkleinerung bedrohten Kindergärten führen. Eine solche Wettbewerbssituation wäre für Kindergärten neuartig, obwohl sie für unsere Leistungsgesellschaft charakteristisch ist. Zum einen werden Erzieherinnen untereinander um die verbleibenden Stellen konkurrieren, zum anderen werden Einrichtungen miteinander um die Kinder wetteifern. Ein solcher Wettbewerb wird führen zu:
- einer Profilierung der einzelnen Einrichtungen - nur wer ein einmaliges, unverkennbares Profil hat, wird sich aus der Menge der "Mitbewerber" hervorheben.
- mehr "Kundenorientierung" bzw. Elternorientierung - nur wer den Wünschen und Erwartungen von Eltern hinsichtlich der Öffnungszeiten, des Tagesprogramms, der Erziehungsschwerpunkte usw. entgegenkommt, wird den Wettbewerb für sich entscheiden.
- mehr Werbung und Öffentlichkeitsarbeit - nur wer vor Ort bekannt ist und seine Vorzüge anpreist, wird mehr Anmeldungen auf sich vereinen.
- mehr Leistung seitens der Mitarbeiterinnen - nur wenn jedes Teammitglied seinen Beitrag zur Profilierung, zu einer qualitativ hochwertigen, den Bedürfnissen entsprechende Kindergartenarbeit und zur Öffentlichkeitsarbeit leistet, kann die Einrichtung überleben.
Kunden- bzw. Elternorientierung und Werbung verdeutlichen schon als Begriffe, dass Kindergärten wohl Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen bleiben, aber zusätzlich Charakteristika von "sozialen Dienstleistungsunternehmen" (Jansen 1995) entwickeln müssen. Als solche werden sie genau die Lebenslagen und die Bedürfnisse von Eltern und Kinder vor Ort analysieren und dann ihre Konzeption an den jeweiligen Bedarf anpassen müssen. Dabei wird es nicht ausreichen, nur dem Betreuungsbedarf von Kindern zu entsprechen, sondern auch die Wünsche der Eltern nach sozialen Kontakten, nach Gesprächsaustausch über Kindererziehung und Familienfragen, nach Freizeitangeboten und Beratung müssen dann Berücksichtigung finden. Nur wenn Eltern und Kinder zufrieden sind, wird sich ein Kindergarten auf dem "Markt" der Betreuungsangebote behaupten können.
Elternorientierung und Profilierung bedeuten zugleich, dass es zu einer Pluralisierung der Betreuungsangebote kommen wird. Sofern die bisherigen Gestaltungsfreiheiten vom Staat unangetastet bleiben, werden sich die Einrichtungen unterscheiden hinsichtlich:
- ihrer Öffnungszeiten: Neben Halbtags- und "überzogenen" Gruppen dürfte es vermehrt Gruppen geben, die durch Öffnungszeiten von über neun Stunden den Bedürfnissen vollerwerbstätiger Mütter entsprechen wollen. Durch eine Verschiebung des Beginns bzw. des Endes der Betreuung wird in industriell geprägten Regionen auch den Wünschen von Schichtarbeiterinnen entgegengekommen werden. Bleibt es im Einzelhandel bei den verlängerten Öffnungszeiten, wird es ferner vielleicht einige Kindergartengruppen geben, die noch am Abend oder am Samstag eine Betreuung anbieten.
- Raumkonzepte: Neben traditionell arbeitenden Kindergärten wird es vermehrt solche geben, die z.B. Flure, Dach- und Kellerräume für besondere Angebote wie Malateliers oder Bewegungsbaustellen nutzen, die ihre Gruppen öffnen oder gruppenübergreifende Angebote machen.
- Zusammensetzung der Kindergruppe: Schon jetzt gibt es z.B. griechische Kindergärten - vielleicht werden wir bald auch türkische oder spanische haben. Diese Entwicklung könnte dadurch gefördert werden, dass sich in größeren Gemeinden die ausländischen Kindern in einzelnen, zumeist kommunalen Kindergärten ballen. In den letzten Jahren wurde ferner die Genehmigung von Kindergärten speziell für hochbegabte oder sportlich begabte Kinder beantragt.
- Altersmischung: Neben der "klassischen" Altersmischung von Drei- bis Sechsjährigen dürfte es vermehrt Gruppen geben, in denen auch jüngere oder ältere Kinder mitbetreut werden - insbesondere wenn Kindergartengruppen nicht voll besetzt werden können. Seit 1996 gibt es in Bayern z.B. schon die Möglichkeit, Schulkinder im Kindergarten mitzubetreuen, wenn Plätze frei sind und die für eine Förderung nach dem BayKig notwendige Zahl von Kindergartenkindern erreicht wurde. Vielleicht wird es mancherorts zusätzlich altershomogene Gruppen geben, die in anderen europäischen Ländern die Regel sind.
- pädagogische Ansätze: Neben Montessori- und Waldorfkindergärten wird es in Zukunft sicherlich solche geben, die sich auf Fröbel, Piaget, Wygotski, Laevers u.a. berufen und so ein besonderes Profil entwickeln.
- Schwerpunktsetzung: Einige Kindergärten werden sich z.B. auf den musisch-kreativen Bereich konzentrieren, andere auf die kognitive Förderung, die Sozialerziehung oder die kompensatorische Förderung entwicklungsverzögerter Kinder.
- besondere Angebote: Vermutlich werden beispielsweise vermehrt Sprachkurse, die Integration Behinderter, spielzeugfreie Phasen, das Erlernen des Umgangs mit Computern u. Ä.. angeboten werden.
- Umfang der Elternmitarbeit und -mitbestimmung: Manche Kindergärten werden eher denjenigen Eltern entgegenkommen, die ihre Kinder nur gut betreut wissen wollen, andere werden sich hingegen auf solche konzentrieren, die wie im "Netz für Kinder", in manchen Elterninitiativen oder in Mütterzentren mitarbeiten und mitbestimmen wollen.
Und wenn wir einen Blick in die neuen Bundesländer werfen, die viel früher als wir von dem starken Rückgang der Kinderzahlen betroffen waren, werden wir dort ganz neue Wege entdecken, durch die Arbeitsplätze gesichert wurden. Dazu gehören z.B. der Mittagstisch für die Nachbarschaft, offene Angebote für Schulkinder, Babysitter-Dienste, die Gestaltung von Kindergeburtstagen am Wochenende oder der Altenclub im Kindergarten.
Folgen für Ausbildung und Berufsausübung von Kinderpflegerinnen
Sieht man einmal davon ab, dass die Zahl der Stellen für Kinderpflegerinnen aufgrund der Bevölkerungsentwicklung generell abnehmen wird, werden in der nahen Zukunft Kinderpflegerinnen auch vermehrt mit arbeitslosen Erzieherinnen um die verbleibenden Stellen konkurrieren müssen. Letztlich werden sie diesen Wettbewerb nur bestehen, wenn sie nachweisen können, dass sie die Position der pädagogischen Zweitkraft genauso gut wie eine Erzieherin ausfüllen können.
Die Fachschulen für Kinderpflege sind schon jetzt gefordert, Schülerinnen möglichst vor Beginn der Ausbildung auf ihre schlechten Zukunftsperspektiven hinzuweisen. Noch wichtiger ist es, Kinderpflegerinnen auf den Wettbewerb mit Erzieherinnen um Stellen sowie auf die Konkurrenz zwischen Kindergärten vorzubereiten. Das bedeutet, dass Fachschulen z.B. folgende Qualifikationen vermitteln müssen:
- Wie bereits erwähnt, werden Kinderpflegerinnen immer längere Zeit alleine in der Gruppe sein. Sie müssen somit fähig sein, eine große Zahl von Kindern alleine zu betreuen und vor allem sinnvoll zu beschäftigen.
- Ebenfalls erwähnt habe ich schon, dass Kinderpflegerinnen laut § 22 Abs. 3 SGB VIII für die Zusammenarbeit mit Eltern qualifiziert sein müssen. Elternarbeit, Gesprächsführung mit Eltern, Einbindung von Eltern in die Kindergartenarbeit u. Ä.. müssen von ihnen mitgestaltet werden können.
- Die Berufsaussichten für Kinderpflegerinnen dürften auch besser sein, wenn sie nachweisen können, dass sie wie Erzieherinnen Kinder bilden, also Bildungsangebote machen können.
- Einen Beitrag im Konkurrenzkampf mit anderen Einrichtungen können Kinderpflegerinnen nur leisten, wenn sie unterschiedliche frühpädagogische Ansätze kennen, auch mit behinderten, ausländischen und älteren (Schul-)Kindern arbeiten können, Formen der Öffnung von Gruppen beherrschen oder zur Schwerpunktsetzungen im kognitiven, musischen, motorischen oder ästhetischen Bereich durch besondere Fertigkeiten beitragen können.
All dies bedeutet letztlich eine stärkere Annäherung von Ausbildung und beruflicher Qualifikation an diejenige von Erzieherinnen.
Dennoch wird nicht zu vermeiden sein, dass in den nächsten Jahren Kinderpflegerinnen vermehrt arbeitslos sein werden. Hier rächt sich, dass sie nur für ein sehr begrenztes Arbeitsfeld qualifiziert werden - anders als z.B. Sozialpädagogen oder Diplompädagogen, die das ganze Spektrum von Kleinkind bis zum pflegebedürftigen Senior abdecken können, anderes aber auch als Erzieherinnen, die beispielsweise im Heim auch mit Jugendlichen und Heranwachsenden arbeiten.
Den einzigen Ausweg, den ich sehe, ist das Wiederentdecken eines "alten" Tätigkeitsfeldes, des Familienhaushaltes. In der Öffentlichkeit ist viel zu wenig bekannt, dass mit dem Jahressteuergesetz 1997, das am 1. Januar in Kraft trat, die Beschäftigung sozialversicherungspflichtiger Arbeitnehmer in Privathaushalten weiter verbessert wurde (Sozialpolitische Informationen vom 6. Februar 1997). So wurde der Sonderausgaben-Höchstbetrag für den Abzug von Personalkosten bei der Einkommensteuer auf 18.000 DM im Jahr erhöht, wobei diese Steuererleichterungen nun von allen Privathaushalten in Anspruch genommen werden können. Auch wurden das Verfahren für die An- und Abmeldung bei der Sozialversicherung sowie die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Einführung von so genannten "Haushaltsschecks" entscheidend vereinfacht. Diese Formulare sind bei Krankenkassen, Arbeitsämtern, Banken und Sparkassen erhältlich.
Meines Erachtens sollten Berufsfachschulen für Hauswirtschaft und Kinderpflege in die Offensive gehen und die Bevölkerung vor Ort im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit über die Möglichkeit der Beschäftigung von Kinderpflegerinnen und anderen Personen in Privathaushalten sowie über die genannten Steuererleichterungen informieren. Allerdings muss die Ausbildung auch auf solche Tätigkeitsfelder vorbereiten. So müssen Kinderpflegerinnen z.B. den hohen Bildungsansprüchen wohlhabender Eltern genügen oder behinderte Kinder fachgerecht fördern können.
Ihnen allen wünsche ich, dass die Berufsfachschulen in den nächsten Jahren die skizzierten Herausforderungen meistern werden sowie Kinderpflegerinnen ihre Position im Kindergartenbereich halten und im Familienbereich ausbauen können. Dann wird vielleicht im Jahr 2022 ein anderer Mitarbeiter des dann hoffentlich noch bestehenden Staatsinstituts für Frühpädagogik hier stehen, zum 50-jährigen Jubiläum der Berufsfachschule für Hauswirtschaft und Kinderpflege Neusäß sprechen und in seinem historischen Rückblick Ihre Anpassungsleistungen würdigen. Ich wünsche Ihnen für die bevorstehenden schwierigen Zeiten alles erdenklich Gute.
Anmerkung
Text der Festrede am 12.03.1997 auf der Jubiläumsveranstaltung "25 Jahre Berufsfachschule für Hauswirtschaft und Kinderpflege Neusäß".
Literatur
DER SPIEGEL: Pleite im Paradies. 1996, Heft 20, S. 26-37
Jansen, F.: Eltern als Kunden? Erziehung als gemeinsame Aufgabe von Familien und Einrichtungen. Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 1995, 103, S. 313-317
Klose, H.-U.: Die Zukunft hat schon begonnen. Überlegungen zur Bewältigung des demographischen Wandels. In: Klose, H.-U. (Hg.): Altern der Gesellschaft. Antworten auf den demographischen Wandel. Köln 1993, S. 7-26
Prognos AG: Prognos-Gutachten 1995. Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen. Herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (DRV Schriften, Band 4). Frankfurt/Main 1995
Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland von 1993 bis 2040, 8. koord. Bevölkerungsvorausberechnung, V2-D. Tabelle des Referats VIII B vom 19.04. 1994
Textor, M.R.: Bevölkerungsrückgang und Generationenkonflikt. Caritas 1992, 93, S. 350-356
Textor, M.R.: Zusammenbruch des Sozialstaates? Generationenkrieg? Die Bevölkerungsentwicklung und ihre Konsequenzen. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1994, 74, S. 58-63