Welche Rolle spielen Internate an Fachschulen für Sozialpädagogik?Überlegungen aus bildungsethischer Sicht

Quelle: Erstveröffentlichung in "engagement". Die Zeitschrift für Theorie und Praxis der Schulen und Internate in katholischer Trägerschaft, Ausgabe 37/2019[1]

 

Axel Bernd Kunze

 

Internate oder Wohnheime im beruflichen Schulwesen stehen im Schatten der Internatspädagogik. Der folgende Beitrag will aus bildungsethischer Perspektive deren Bedeutung für einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss und einen guten Berufseinstieg beleuchten. Internate werden dabei als pädagogische Einrichtungen gesehen, deren Spezifikum das „Wohnen aus Anlass von Bildung“ ist.

 

Junges Wohnen bietet viele Vorteile – so wirbt das Wohnheim der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt.[1] Dieses verbindet Lernen und Leben miteinander und bietet wichtige Unterstützung bei den ersten Schritten ins Berufsleben.

Christopher Haep nennt in seinem Werk Grundfragen der Internatspädagogik das gemeinsame Wohnen „aus Anlass von Bildung“ (Haep 2015, S. 128) als entscheidendes Merkmal, das Internate von anderen pädagogischen Institutionen unterscheidet. Internate stehen gegenwärtig nicht im Mittelpunkt des Interesses, weder in der Erziehungswissenschaft noch in der Bildungspolitik. Dies gilt erst recht für Internate oder Wohnheime an beruflichen Schulen. Doch stellen sie für viele junge Menschen eine wichtige Hilfe auf dem Weg zu einem Ausbildungsabschluss und erfolgreichen Berufseinstieg dar. Dies gilt auch für die Kinderpflege- und Erzieherausbildung an Fachschulen für Sozialpädagogik. Gefragt werden soll aus bildungsethischer Sicht, welche Bedeutung Internate als begleitendes Angebot in der Erzieherausbildung besitzen.

Welchen ethischen Ansprüchen sollte das Bildungssystem genügen?

Jeder hat das Recht auf Bildung, heißt es in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Jeder und jede hat grundsätzlich dasselbe Recht sich zu bilden und eigene Fähigkeiten zu entfalten. Alle Lernenden sind diskriminierungsfrei zu behandeln. Ferner sollte für alle Bereiche des Schulwesens ein gleicher Qualitätsanspruch bei der pädagogischen Gestaltung, den Lernmaterialien und der Ausstattung gelten.

Allerdings muss pädagogisches Handeln bestehende Unterschiede berücksichtigen. Optimale Förderung für alle wird angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen, Interessen und Bedürfnisse der Lernenden nicht zu erreichen sein, indem allen dasselbe pädagogische Angebot gemacht wird. Die Lernenden müssen sich in einer bestimmten Lerngemeinschaft bewähren. In dieser gilt es, jeden Schüler oder jede Schülerin nach den je eigenen Leistungen und Bedürfnissen zu fördern, aber auch zu fordern.

Auf der einen Seite steht die politische Verpflichtung, für gleiche „Chancen zur Bildung“ zu sorgen. Auf der anderen Seite muss es um die Freiheit willen möglich sein, dass diese Chancen individuell unterschiedlich genutzt werden. Das Bildungssystem soll die jungen Menschen nicht „gleich machen“, sondern zu selbstständigen Individuen erziehen: Alle sollen gleichermaßen in der Lage sein, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die ein eigenverantwortliches Leben ermöglichen, etwa durch eine Ausbildung. Und sie sollen die Möglichkeit haben, ihren Lebensweg nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Ohne Bildung wird der Einzelne sich nicht aktiv am sozialen, beruflichen, politischen oder kulturellen Leben beteiligen können. Einerseits sollte der Einzelne die Möglichkeit haben, aktiv etwas zum gemeinsamen Zusammenleben beitragen zu können. Dann wird er sich auch anerkannt und wertgeschätzt erfahren. Andererseits ist das Bildungswesen so zu gestalten, dass sie dem Einzelnen auch tatsächlich die Möglichkeit bieten, am sozialen Leben teilzunehmen, etwa durch soziale Unterstützung oder besondere Fördermaßnahmen.

Drei Aspekte bleiben wichtig:

(1.) Das Recht auf Bildung garantiert zunächst die Beteiligung am Unterricht oder anderen pädagogischen Angeboten, die den Erwerb von Bildung ermöglichen.

(2.) Bildung stellt einen wichtigen Schlüssel für Beteiligung dar. Diese zu ermöglichen, braucht es mehr als ein an technischen Kennzahlen orientiertes Qualitätsmanagement. Es geht um umfassende Persönlichkeitsbildung, die es ermöglicht, sich selbst als ein soziales Wesen mit Rechten und Pflichten wahrzunehmen, das eigene Leben aktiv in die Hand zu nehmen und eine eigenständige Meinung auszubilden.

(3.) Ein Weiteres kommt hinzu: Bildung ist ein soziales Geschehen. Daher sollten wirksame Beteiligungsmöglichkeiten für Lernende wie Lehrende gesichert sein.

Welche Rolle spielen Internate aus bildungsethischer Sicht?

Ein beteiligungsgerechtes Bildungssystem, das unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Interessen gerecht werden will, wird verschiedene Wege offenhalten, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wie im Anschluss an das Vorstehende gezeigt werden soll, ermöglichen Internate an Fachschulen Beteiligung an, durch und in der Bildung.

Beteiligung an Bildung

Schule ist so vielfältig wie die Gesellschaft. Die Lernenden bringen ganz unterschiedliche natürliche, psychische, soziale, sprachliche oder kulturelle Voraussetzungen mit. Hierauf ist pädagogisch angemessen zu reagieren. Bildungsangebote müssen anpassungsfähig und so gestaltet sein, dass sie von den Lernenden angenommen werden können. Diesen Ansprüchen wird ein Bildungssystem dann gerecht, wenn es ein differenziertes Angebot vorhält, das unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird und Wahlfreiheit ermöglicht.

In beruflichen Schulen steht die Ausbildung im Vordergrund. Zum umfassenden Bildungsauftrag von Fachschulen gehört es weitergehend, die Lernenden dazu zu befähigen, eine eigenständige Erzieherpersönlichkeit zu entwickeln. Dieser Bildungsprozess wird entscheidend unterstützt durch eine gute Verknüpfung der beiden Lernorte Schule und Praxis, aber auch durch berufliche Vorbilder oder den Umgang mit Gleichaltrigen, die sich in einer ähnlichen Ausbildungssituation befinden. Im angeschlossenen Internat spielt Letzteres eine entscheidende Rolle, nicht zuletzt bei der Prüfungsvorbereitung oder der gegenseitigen Unterstützung in belastenden Ausbildungssituationen.

Ein Internat kann helfen, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lern- und Ausbildungsbiografie zu sichern: etwa durch Sicherstellung einer zumutbaren Entfernung zum Ausbildungsort; durch einen geordneten und verlässlichen Alltag; durch gesunde Ernährung und andere Hilfen bei der Alltagsbewältigung; durch eine Gemeinschaft, die Unterstützung bietet und sinnvolle Freizeitgestaltung ermöglicht; durch eine Umgebung, die Interesse an den notwendigen Ausbildungsanforderungen zeigt und Störungen möglichst minimiert; durch Unterstützung bei den schulischen Anforderungen und Beratung in lebensweltlichen Fragen; durch Vorbilder und neue Lernorte, die helfen können, eigene problematische Lernroutinen zu durchbrechen; durch verlässliche Kontakte und das Einbezogensein in eine aufgabenbestimmte, wertegebundene Gemeinschaft.

Die Ausbildung stellt eine Übergangssituation dar, in der Selbstverständlichkeiten ins Rutschen kommen, Fragen der Selbstfindung oder Neufindung aufbrechen oder Zukunftsängste aufsteigen können. Das ausbildungsbegleitende Internat bietet keine sozialpädagogische Rundumbetreuung, schafft aber in bestimmten Fällen erst eine Umgebung, welche das Lernen wieder ermöglicht. Die Bandbreite reicht vom begleiteten, langsamen Ablöseprozess aus der Familie in die berufliche Selbstständigkeit bis hin zum vollständigen Ortswechsel aufgrund krisenhafter, zerrütteter Familienverhältnisse. Anders als in der Schule kommt dabei die personale Gesamtsituation in den Blick und kann entsprechend gestützt werden. Auf diese Weise leistet das Internat einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, die vor- und außerschulischen Voraussetzungen für einen Ausbildungserfolg zu sichern.

Beteiligung durch Bildung

Ein gutes Erziehungssystem braucht nicht uniformierte Bewerber, sondern Persönlichkeiten, die Originalität und Kreativität, Verantwortung und Entscheidungsfreude, Mitgefühl und Menschenkenntnis in den Beruf mitbringen.

Internate sind Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, welche die umfassende Persönlichkeitsbildung unterstützen (vgl. Kunze 2013). Eine sittliche Haltung entwickelt sich nicht durch Gruppenzwang, sondern eine Gemeinschaft, die durch Achtung vor der persönlichen Freiheit und gegenseitigen Respekt geprägt ist. So können sich Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Verantwortungsfähigkeit entwickeln. Moralische Fragen können sich aus der gemeinsamen Ausbildungssituation, dem Zusammenleben im Internat, aus der biografischen Übergangssituation oder der sozialpädagogischen Begleitung ergeben. Persönlichkeitsbildende Kraft besitzen Rituale und Feiern im Internatsalltag. Diese können bei Belastungen auch stabilisierend wirken und helfen, den notwendigen Alltagsaufgaben weiter gerecht zu werden.

Beteiligung in der Bildung

Das Leben in Gemeinschaft gelingt nur, wenn eine bestimmte soziale Ordnung gesichert ist. Diese aufrecht zu erhalten, verlangt, eigene Bedürfnisse möglicherweise aufzuschieben. Doch bleibt es wichtig, dass die Einzelnen ihre Ansprüche einbringen können. Instrumente der Mitbestimmung gehören sowohl in die pädagogische Konzeption als auch in die juristische Hausordnung. Ein Ort gelebter Mitbestimmung ist die Internatskonferenz. Mitbestimmung im Internat erfüllt eine Vorbildfunktion und bietet die Chance, in einem geschützten Rahmen sich selbst zu erproben und jene Fähigkeiten einzuüben, die auch für politische und berufliche Mitbestimmung wichtig sind.

Beispielhafte Einblicke in das

Das eingangs erwähnte Junge Wohnen an der Weinstädter Fachschule stand ursprünglich ausschließlich den eigenen Schülerinnen offen. Seit 2013 ist die Fachschule erheblich gewachsen. Neue Ausbildungsformen wie die praxisintegrierte Erzieherausbildung, eine Berufsfachschule für Kinderpflege oder ein integriertes Studienmodell kamen hinzu. Gleichzeitig zeigte sich eine schwindende Nachfrage nach Internatsplätzen. Die Betriebserlaubnis wurde von Internat auf Wohnheim umgestellt, der Name in Junges Wohnen geändert. Seitdem steht das Wohnheim jungen Frauen in Ausbildung und Studium bis 27 zur Verfügung. Der Namenswechsel bewirkte einen Imagewandel, sodass die Zahl der schulinternen Bewohnerinnen wieder anstieg.

Die Fachschule geht auf Wilhelmine Canz zurück, die 1856 begann, Lernschwestern in einer Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen auszubilden (Großheppacher Schwesternschaft 2015; 2016). Das Lebensmodell der Diakonissen, das jungen Frauen früher Ausbildung und Auskommen ermöglichte, hat sich historisch erfüllt. Neue Formen von Gemeinschaft und spirituellem Leben sollen den bisherigen Geist der Schwesternschaft weitertragen. Die konzeptionelle Umgestaltung des früheren Internats ist eingebunden in die weitere Entwicklung alternativer Wohnformen, die nach und nach auf dem Gelände des Mutterhauses entstehen.

Auch wenn die neue Betriebserlaubnis eine pädagogische Begleitung nicht mehr verlangt, hielt der Träger daran fest. Die Bewohnerinnen entscheiden selbst, mit wie viel Nähe oder Distanz sie am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Beide Merkmale spielen eine wichtige Rolle für die Zertifizierung nach dem Qualitätssiegel Auswärts zuhause des Forums Jugendwohnen.[2]

Angelegenheiten, die alle angehen, werden in Wohnheimkonferenzen gemeinsam besprochen. Gemeinsame Freizeitaktivitäten spielen eine nicht unwichtige Rolle. In der Konzeption des Jungen Wohnens lautet ein Punkt: Wohnen in guter Gesellschaft – Leben in gegenseitigem Verstehen. Es geht um Respekt vor Unterschiedlichkeit und kultureller Vielfalt auf der einen Seite sowie um Begegnung der anderen gegenüber auf der Grundlage christlicher Werte mit Offenheit und Wertschätzung. Die Lebens- und Lerngemeinschaft im Jungen Wohnen spiegelt jene kulturelle und religiöse Pluralität wider, wie sie inzwischen auch für die Fachschule typisch ist.

Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf im Rahmen der Ausbildung steigt. Derzeit wird das Wohnheim durch eine Musikpädagogin mit Zusatzqualifikationen in Tanztherapie, Psychologie und Spiritualität geleitet. Neben gemeinschaftlicher oder individueller Lernbegleitung spielen spirituelle Angebote, Meditationsformen und Stilleübungen sowie Elemente theaterpädagogischer Arbeit eine wichtige Rolle.

Ein Höhepunkt im vergangenen Schuljahr war eine Märchenaufführung – unter dem Motto: Mutige Märchen Mädchen performen. Der auf den ersten Blick nicht ganz eingängige Slogan war Programm: Im Projekt wurden nicht allein darstellende oder musikalisch-rhythmische Fähigkeiten gefördert, sondern darüber hinaus verschiedene Formen der persönlichen Wahrnehmung. Der Arbeitsprozess bot den Schülerinnen die Möglichkeit, Dinge auszudrücken, über die nicht einfach gesprochen werden kann – auch nicht im Rahmen der üblichen pädagogischen Begleitung. Es war erstaunlich zu sehen, wie verändert und mit welchem Selbstbewusstsein die Schülerinnen auf der Bühne agierten, mitunter kaum wiederzuerkennen.

Die pädagogische Arbeit im Wohnheim ermöglicht Erfahrungen und Zugänge, für die im Schulalltag oft wenig Raum bleibt. Der Unterricht wird von sozialpädagogischen Erwartungen entlastet. Umgekehrt bietet der pädagogische Freiraum im Internat Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten – über unmittelbare Ausbildungserfordernisse hinaus – zu erproben und zu erweitern.

Endnoten

[1] Axel Bernd Kunze: Welche Rolle spielen Internate an Fachschulen für Sozialpädagogik? Überlegungen aus bildungsethischer Sicht, in: Engagement 37 (2019), H. 2, S. 90 - 94.

Anmerkungen

[1] Weitere Informationen: www.fachschule-sozialpädagogik.de.

[2] Weitere Informationen: https://jugendwohnheim.com/projekte/auswaerts-zuhause.html.

Literatur

Großheppacher Schwesternschaft (Hg.) (2015): 200 Jahre Wilhelmine Canz. Pionierin in der Förderung von Kindern und Frauen, o. O. (Weinstadt), zugleich Onlineausgabe: http://www.grossheppacher-schwesternschaft.de/assets/files/publikationen/Gruss/150210-ghs-gruss-2015_200-jahre-cw-es.pdf [Zugriff: 29. März 2019].

Großheppacher Schwesternschaft (Hg.) (2016): 160 Jahre in Gemeinschaft. Leben – lernen – arbeiten – beheimaten, o. O. (Weinstadt), zugleich Onlineausgabe: http://www.grossheppacher-schwesternschaft.de/assets/files/publikationen/Gruss/161108-ghs-gruss-2016-2017-inhalt.pdf [Zugriff: 29. März 2019].

Haep, Christopher (2015): Das Internat als ‚fürsorgliche‘ Institution, in: Ders. (Hg.): Grundfragen der Internatspädagogik. Theorie und Praxis, Würzburg, S. 123 – 134.

Kunze, Axel Bernd (2013): Befähigung zur Freiheit. Beiträge zum Wesen und zur Aufgabe von Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, München.

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