Aus: Entdeckungskiste (Neue Helmut Leismann GmbH - Kiga-Fachverlag, Elversberger Str. 40a, 66386 St. Ingbert), Ausgabe Sept./Okt. 2002, S. 85-87
Ulrich Braun
Natürlich haben Erzieher/innen nicht ausgedient! ... Noch nicht.
Aber der Beruf "Erzieher/in" ist in die Diskussion geraten, ist zu einem wichtigen Thema geworden im Kontext der Ergebnisse der ersten PISA-Studie: Die Frage nach dem Ausbildungsniveau und der Qualifikation von Erzieher/innen stellt sich, auch im Vergleich zu anderen Ländern.
In Europa bildet Deutschland trotz mancher Bemühung um eine Reform der Erzieher/innenausbildung das Schlusslicht, wenn es um die berufliche Ausbildung von Fachkräften geht, die Kinder in den ersten Lebensjahren begleiten.
Dabei ist der Begriff "Deutschland" gar nicht richtig, denn jedes Bundesland hat eigene Richtlinien für die Ausbildung zur/ zum Erzieher/in. So ist beispielsweise in Nordrhein-Westfalen vorgesehen, die Eingangsvoraussetzungen für diese Ausbildung anzuheben: abgeschlossene Berufsausbildung oder Fachhochschulreife. Es ist abzusehen, dass in Zukunft dann die Berufsberater jungen Frauen und auch Männern, die über die Fachhochschulreife verfügen, raten werden, Sozialpädagogik zu studieren, statt die Ausbildung zur/ zum Erzieher/in zu wählen. Die beruflichen Aussichten sind langfristig günstiger.
Einer/ einem Sozialpädagog/in steht es offen, sich in ganz Europa nach einem Arbeitsplatz umsehen, ein/e Erzieher/in bleibt - selbst nach der geplanten Veränderung der Ausbildung - auf Deutschland begrenzt. Eine ausgebildete Fachkraft für den vorschulischen Bereich aus Enschede darf 5 km weiter in Gronau eine Berufstätigkeit aufnehmen. Der/dem Erzieher/in aus Gronau ist dies in Enschede auch zukünftig nicht möglich.
Tausendsassa Erzieher/in
Erzieher/innen haben kein bestimmtes Studienfach an einer Universität abgeschlossen, sie haben keine wissenschaftlichen Fächer studiert, und dennoch sollen sie den Kindern die Welt erklären: "Kann der Mond auf die Erde fallen, wenn er müde wird?", wird da gefragt oder man verlangt zu wissen, welche Tiere in Bächen leben. Erzieher/innen sollen den Weltraum erklären, Entwicklungsdefizite in allen Bereichen erkennen und so gut wie möglich beseitigen. In den aktuellen Kindergarten-Einschätz-Skalen ist nachzulesen, was Erzieher/innen für eine "gute Qualität" alles können sollen/ müssen.
In Deutschland werden dem Personal im vorschulischen Bereich Leistungen abverlangt, für die in fast allen anderen Ländern Europas eine umfangreichere und qualifiziertere Ausbildung erforderlich ist. Im Elementarbereich müsste wie im Primarbereich ein Studium zum Beruf qualifizieren, ein gemeinsamer Studiengang beispielsweise, der sich in der zweiten Studienphase (etwa dem Hauptstudium anderer Disziplinen vergleichbar) in einen spezifischen Elementar- bzw. Primarbereich aufsplittet. Für Erzieher/innen, die bereits im Beruf tätig sind, müsste die Möglichkeit geboten werden, sich umfangreich und ausreichend weiterzubilden.
Neue Ansprüche - neue Qualifikationsmöglichkeiten
Falls es tatsächlich zu einem grundlegenden Wandel des Verständnisses von Pädagogik der frühen Kindheit kommt, dann wird es sehr, sehr lange dauern, bis dafür die Veränderungen geschaffen sind. Es müssen Ausbildungen an Fachhochschulen und/oder Universitäten konzipiert, Lehrkräfte gefunden und ausgebildet werden.
Heutiger Stand der Dinge: An deutschen Hochschulen gibt es zur Zeit lediglich sieben Lehrstühle für den Bereich "Vorschulpädagogik", aber etwa 15 für Japanologie. Fachhochschulen für Sozialpädagogik haben im Allgemeinen keine Ausbildungsfächer für den Bereich der frühen Kindheit. Anpassungsmaßnahmen wären vielleicht eine kurzfristige Alternative, schnell erste ausgebildete Kräfte zu erhalten: So ist es denkbar, dass Qualifikationen erworben werden könnten, die einem neuen Berufsbild, etwa dem einer/s "Diplom-(Sozial-)Pädagogin/en Frühe Kindheit" oder einer "Lehrerin für die Elementarstufe mit 2. Staatsexamen" entsprechen. "Kinderpädagogin" ist hingegen eine weniger taugliche Bezeichnung. Alle Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten - ob in der Schule, der Tageseinrichtung für Kinder, im Bereich der Hilfen zur Erziehung oder der Familienbildung - sind Kinderpädagoginnen.
Die amerikanische "National Association for the Education of Young Children" (NAEYC), die größte Organisation von Fachkräften im vorschulischen Bereich, hat im Jahr 2001 Richtlinien festgelegt, was professionelle Lehrkräfte/ Erzieher/innen am Ende ihrer Ausbildung oder Grundausbildung wissen und können sollen: Die Entwicklung von Kindern soll genau beobachtet und anhand wissenschaftlich fundierter Kriterien beurteilt und dokumentiert werden. Es ist offensichtlich, dass der Anspruch der Ausbildung diagnostischer Fähigkeiten und das Erlernen entsprechender Techniken (bis hin zum Einsatz von Tests) ein Fachstudium erforderlich macht. Dies gilt auch für den Anspruch, dass gut ausgebildete Professionelle ein tief gehendes Wissen in den akademischen Fächern oder Inhaltsbereichen, vor allem in der Entwicklungspsychologie, mitbringen (vgl. http://www.kindergartenpaedagogik.de/715.html).
Aufwertung des Berufs "Erzieher/in" - Zukunftsmusik
Es könnte sich also einiges tun in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren, falls die Politik dies möchte. Wenn der Bereich der frühen Kindheit allerdings die gleiche Wertschätzung erfährt wie in den vergangenen 20 Jahren, dann kann eher mit einem kontinuierlichen weiteren Abbau als mit einer Aufwertung und strukturellen Veränderung des Handlungsfeldes gerechnet werden. Und auch in diesem Fall wäre der Beruf "Erzieher/in" bedroht: von Schuhverkäufer/innen, Arzthelfer/innen, Hauswirtschafter/innen u.a., die lieber Kinder betreuen, als weiter in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten - ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, wo fast jede zweite Stelle mit einer "Ergänzungskraft" besetzt ist, die keine formale Qualifikation benötigt, um in der Tageseinrichtung für Kinder tätig zu sein. Und so wird sie mit BAT IX - BAT VII auch bezahlt.
Es ist also noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis Erzieher/innen mit entsprechender Ausbildung in die Nähe einer gesellschaftlichen Anerkennung von z.B. Lehrer/innen gelangen können. Bis dahin werden Erzieher/innen weiter versuchen, für alle Kinder gleichermaßen da zu sein, gleiche Entwicklungschancen für alle Kinder zu ermöglichen, die Einführung von Qualitätsmanagementsystemen zu unterstützen und all das umzusetzen, was die Tageseinrichtung für Kinder leisten soll.
Vielleicht wird in Zukunft die Weiterentwicklung des Berufes "Erzieher/in" aber auch von innen heraus gestaltet: Was würde geschehen, wenn die Erzieher/innen sagen würden, dass sie für die Gemeinwesenarbeit, die Zusammenarbeit mit Familien, die präventive Arbeit in einem Frühwarnsystem, die Zusammenarbeit mit Institutionen, die Anwendung von Qualitätsmanagementsystemen oder für die Umsetzung eines neu formulierten Bildungsauftrages nicht oder viel zu wenig ausgebildet sind? Wenn sie anfangen würden, öffentlich von ihren Grenzen zu sprechen: von dem, was sie leisten können, und auch von dem, was nicht mehr möglich ist?