Norbert Kühne
Interview mit Nicole Hendriks, Erzieherin in der städtischen Kita Steeler Straße in Essen
Norbert Kühne: Frau Hendriks, ich habe gerade Ihre 16-seitige beeindruckende Gruppenkonzeption gelesen. Nun kann man vermuten, Sie haben auch ein Konzept für die Betreuung der Berufspraktikantinnen. Könnten Sie uns das kurz darstellen?
Nicole Hendriks: Ich habe seit einigen Jahren das Glück, mit Praktikanten aus unterschiedlichen Ausbildungsstufen arbeiten zu dürfen. Ich habe jedoch während dieser Arbeit festgestellt, dass die Inhalte dieses Jahres eine große Bandbreite beinhalten, mit denen die Praktikanten zuvor noch nicht vertraut gemacht wurden.
Umso wichtiger ist es für mich, die Inhalte strukturiert in ein Jahr einzubinden. Das Phasensystem besteht aus vier Stufen: 1. Die Orientierungsphase, 2. Das Vertiefen und Erweitern bisher erworbener Fähigkeiten, 3. Das Erwerben fachlicher Selbständigkeit und 4. Das eigenständige Ausüben pädagogischer und organisatorischer Tätigkeiten. Jede Phase erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten. In der jeweiligen Phase werden konkrete Arbeitsweisen formuliert, die von Phase zu Phase detaillierter werden und immer mehr Eigenverantwortung und Selbständigkeit des Praktikanten verlangen.
Die Phasen decken den gesamten Einsatzbereich einer Erzieherin ab. Es werden Inhalte aus pädagogischen, organisatorischen und pflegerischen Tätigkeiten sowie der Elternarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und Teamarbeit berücksichtigt.
In regelmäßigen Abständen schaut man sich während der Anleitergespräche das Phasensystem an und kann so alle Arbeitsbereiche reflektieren. In welchen Bereichen ist der Praktikant sicher, wo gibt es noch Unsicherheiten, was muss noch genauer beachtet werden? Der Praktikant macht sich ein Bild über die Aufgabengebiete eines Erziehers und kann sich und seine Fähigkeiten einschätzen und beurteilen. Er lernt seine Stärken und Schwächen kennen, erlebt einen stetigen Aufbau seiner Leistungen. Was in der ersten Phase zum Beispiel als Mithilfe bei der Planung von Elterngesprächen beschrieben wird, lautet in der zweiten Phase: stetige aktive Teilnahme an Elterngesprächen und deren Planung und Reflexion; in der dritten Phase: Durchführung eines Elterngespräches; und in der vierten Phase: eigenständige Planung und Durchführung eines Elterngespräches. So wie in diesem Beispiel verzeichnet das Phasensystem in allen Bereichen eine stetige Weitentwicklung und eine höhere Anforderung.
Norbert Kühne: Wie finden denn Ihre Praktikantinnen dieses Konzept? Falls diese überhaupt Erwartungen an die Anleitung haben!
Nicole Hendriks: Ich glaube, dass es unterschiedliche Meinungen zu diesem System bei Praktikanten gibt. Bisher habe ich jedoch nur positive Rückmeldungen von Praktikanten erhalten. Die Arbeit mit diesem Konzept fordert ein sehr eigenständiges und strukturiertes Arbeiten des Praktikanten. Bei der ersten Auseinandersetzung mit diesem Schriftstück weckt es meistens bei den Schülern den Gedanken, ob diese Anforderungen zu realisieren sind. Nach der ersten Fülle von Informationen und Erwartungen stellen die Schüler jedoch fest, dass sie diese Teilbereiche entweder schon einmal ansatzweise in einem ihrer Praktika kennen gelernt oder theoretisch durchgenommen haben. Somit ist dies kein neuer Anteil ihrer Erzieherausbildung, sondern ein Übergang von der Theorie in die Praxis. Positiv kam bisher bei den Praktikanten an, dass diese zum Teil noch unbekannten Arbeitsfelder ein großes Interesse und eine spannende Lernbereitschaft weckten.
Als einen positiven Aspekt beschreiben die Praktikanten immer wieder, dass sie es schätzen, wenn wir uns als Einrichtung Gedanken zu einer effektiven Ausbildung machen und nicht nur allgemeine Erwartungen an die Praktikanten haben. Diese Form eines Konzeptes für Berufspraktikanten ist im entferntesten Sinne auch eine Erwartung, jedoch eine, wie ich feststelle, die für Praktikanten eindeutiger ist als manche andere. Die Praktikanten können anhand dieses Konzeptes erkennen, wozu sie zum Ende ihres Praktikums in der Lage sein werden, wenn sie sich mit diesem Konzept vertraut machen und sich an die unterschiedlichen Phasen halten. Einige dieser Inhalte überschneiden meistens auch die Erwartungen des Praktikanten. Praktikanten, die Schwierigkeiten haben, ihre Erwartungen zu formulieren, können sich anhand dieses Systems eigene Vorstellungen zu ihrer Ausbildung machen.
Das Phasensystem kann jedoch nur Früchte tragen, wenn sowohl Praktikanten als auch die Praxisanleitung den Nutzen und den Sinn dieser Struktur erkennen. Aus diesem Grunde erhalten die Praktikanten schon im Vorstellungsgespräch dieses Konzept und zusätzlich eine kurze Ausbildungsbeschreibung, in der wir unsere Praktikantenbetreuung beschreiben. Denn um überhaupt mit diesem Phasensystem erfolgreich arbeiten zu können, müssen beide Seiten ähnliche Vorstellungen von der Form der Ausbildung und Zusammenarbeit haben. So hat jeder Schüler die Gelegenheit, sich dieses Konzept in Ruhe durchzulesen, sich Gedanken dazu zu machen und gegebenenfalls Rücksprache bei Unklarheiten mit uns zu halten.
Norbert Kühne: Nicht viele Kitas haben solch klare Konzepte - nicht einmal alle Schulen, die Erzieherinnen ausbilden. Wie sind Sie darauf gekommen, Praktikantinnen mit einem Konzept zu konfrontieren?
Nicole Hendriks: Die praktischen Inhalte des Anerkennungsjahres nehmen den größten Teil dieser Ausbildungsstufe ein. Das erworbene Wissen der Unter- und Oberstufe wird systematisch im Berufspraktikum umgesetzt und vertieft. Im Gegensatz zu den bisherigen Praktikumsphasen verbringen die Schüler nun den größten Teil ihrer Zeit direkt in der Arbeit mit den Kindern, Eltern und Kollegen. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Zeit klar strukturiert werden muss, um überhaupt in einem Jahr alle Facetten dieser Arbeit auszuprobieren und vor allem festigen zu können.
In den ersten Jahren meiner Praktikantenanleitung musste ich leider häufig die Erfahrung machen, dass zum Ende des Praktikums viele Erwartungen an die Praktikanten gestellt wurden. Plötzlich bemerkte man zur Mitte des Praktikums hin, dass der Praktikant z.B. noch an keinem Elterngespräch teilgenommen hat oder dass er z.B. bisher kaum Erfahrungen in organisatorischen Bereichen sammeln konnte. Es gab stets geballte Zeiten, in denen dann vieles auf einmal sowohl auf den Praktikanten als auch auf mich als Praxisanleitung zukam.
Ich nahm mir dann vor, den nächsten Schüler früher an verschiedene Aufgabengebiete heranzuführen. Jedoch kreuzten immer wieder unvorhersehbare Ereignisse diesen Weg, der in meinen Augen unzureichend strukturiert war. Da ich sowohl die Praktikanten als auch mich und meine Kolleginnen in diesen Zeiten überforderte und besonders die Qualität dieser Praktikumsbegleitung nicht mehr meinen Erwartungen entsprach, habe ich mich auf die Suche nach einer Lösung gemacht.
Es war nicht schwer herauszufinden, was ich eigentlich wollte: eine Struktur! Eine Möglichkeit, das Anerkennungsjahr so aufzuteilen, war, dass all das, was ich dem Schüler in diesem Jahr an Wissen und Erfahrungen mitgeben wollte, eine sinnvolle Aufteilung erhält. Eine Struktur, in der der Praktikant sich nicht überfordert und vor allem seine eigenen Wünsche und Interessen noch in umfangreichem Maße ausleben und eigene Vorstellungen realisieren kann. Das Phasensystem soll dem Praktikanten nicht die Arbeit während des Anerkennungsjahres vorschreiben und die Individualität rauben, sondern vielmehr eine Hilfe zur Strukturierung sein, um möglichst viele Erfahrungen zu sammeln.
Norbert Kühne: Jede Praktikantin erlebt Ihre Einrichtung an der Steeler Straße in Essen sicherlich anders. Jede Praktikantin hat andere sozialisatorische Voraussetzungen, andere Stärken, Probleme und auch Schwächen. Welche Ziele hat Ihre Anleitung eigentlich?
Nicole Hendriks: Das wichtigste in der Praktikantenanleitung, was ich am Ende eines jeden Praktikums erreichen möchte, ist die Entwicklung eines eigenen, ganz persönlichen und individuellen pädagogischen Stils, den auch dieses Konzept positiv zu unterstützen versucht. Das Konzept gibt z.B. nicht vor, wie, sondern nur in welcher Form wir unsere tägliche Arbeit gestalten.
Das größte Ziel der Praktikantenanleitung ist für mich, die Stärken eines Praktikanten herauszufiltern und diese zu unterstützen. Das Anerkennungsjahr beinhaltet außerdem genügend zeitliche und organisatorische Gegebenheiten, um Schwächen und Probleme zu reflektieren und vor allem um sich immer wieder damit auseinander zu setzen und diese in der praktischen Arbeit zu üben. Das Berufspraktikum ist die letzte Gelegenheit, um in allen Bereichen praktische Erfahrungen zu sammeln. Jeder Praktikant hat hier noch das Recht, Fehler zu machen, und hat somit die Möglichkeit, sich bei dieser praktischen Auseinandersetzung positiv weiter zu entwickeln.
Weiterhin soll der Praktikant befähigt werden, innerhalb eines Teams in Eigenverantwortung zu kooperieren, sein berufliches Handeln zu planen, in seiner Wirkung einzuschätzen und zu begründen, Kritik als Hilfe anzunehmen und zu geben, Selbstreflexion zu üben und als professionelle Anforderung anzuerkennen sowie seine erlernten Kenntnisse als Basiswissen zu begreifen und bereit zu sein, diese zu vertiefen und zu erweitern.
Norbert Kühne: Könnten Sie uns zum Schluss erläutern, wann Sie Praktikantinnen und ihre Voraussetzungen problematisch finden? Können Sie dann - die Anleitung - auch aufgeben, weil Sie sich nicht viel davon versprechen, z.B. wenn Ihre Interventionen ohne Wirkungen sind?
Nicole Hendriks: Problematisch wird es immer dann, wenn die Praktikanten zwar ihr Anerkennungsjahr bestehen, jedoch dafür nur so wenig wie möglich tun wollen. Ich finde, man muss berücksichtigen, dass die Praktikanten wie wir einen Acht-Stunden-Tag haben und nur eine geringe Motivation, seitenlange Planungen und Ausarbeitungen zu schreiben. Auf der anderen Seite denke ich jedoch auch, dass sie dieses letzte Jahr ihrer Ausbildung als Chance nutzen müssen, gerade in den Bereichen, in denen sie noch Schwierigkeiten haben, sich weiter zu entwickeln.
Meine Interventionen sind dann ohne Wirkung, wenn die Praxisanleitung einseitig verläuft. Das bedeutet, wenn wir investieren, aber der Praktikant in sich selbst bzw. in seine Leistungen nicht mehr investiert. An diesen Stellen gebe ich, natürlich nach einer klaren Auseinandersetzung mit dem Praktikanten, der Schule und der Leitung meine Anleitung auf, da mir meine Zeit, die natürlich den Kindern abgeht, viel zu kostbar ist. Wenn es sich lohnt, diese Zeit zu investieren, tu ich es gerne, da es für mich wichtig ist, professionelle Erzieher auszubilden. Denn niemand arbeitet mit so kostbarem Gut wie wir.
Die Verantwortung, die wir in der Arbeit mit Kindern tragen, ist enorm groß. Ich kann diese Kinder in ihrer Entwicklung nicht nur mit dem Herzen begleiten, sondern mit klaren Zielvorstellungen und formulierbarem pädagogischem Hintergrund. Diese Voraussetzungen müssen gegeben sein, um eine gute Ausbildung zu garantieren.
Norbert Kühne: Danke für das Gespräch!