Wir brauchen eine Qualifikation in der BreiteDer DBSH nimmt Stellung zur Diskussion über die Zukunft der Kindertageseinrichtungen und zur Akademisierung der Ausbildung von Erzieher/innen

Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit

1. Ausgangssituation

Ergebnisse und Diskussion der PISA Studie sowie vieler nachfolgender Untersuchungen bestätigen die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung auch für den späteren Bildungserfolg der Kinder. Insbesondere die vorschulische Förderung der Kinder wird in den Mittelpunkt der Diskussion in Gesellschaft und Politik gerückt.

Die Politik, vorrangig die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmitt, verspricht unter Verweis auf die in anderen europäischen Ländern höheren Qualifikationsprofile der Erzieher/innen eine vermeintlich bessere, weil akademische Ausbildung der Fachkräfte. So qualifizierte Fachkräfte und weiter ausgebaute Kindertageseinrichtungen sollen insbesondere dazu beitragen, die Bildungschancen der Kinder zu optimieren und gleichzeitig die Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit der Eltern zu verbessern.

Aus der Sicht des DBSH geht es bei dieser politischen Diskussion nicht um eine tatsächliche Verbesserung der Bedingungen, die für eine gute Förderung von Vorschulkindern notwendig sind. Es handelt sich eher um eine Vernebelung der wirklichen Situation. Während auf der einen Seite von weitreichenden notwendigen Verbesserungen gesprochen wird, werden in der Praxis selbst minimale Qualitätsstandards stetig abgesenkt:

1. Während einzelne Politiker/innen eine Akademisierung der Ausbildung zur Erzieher/in fordern, werden in der Praxis die Stellen von Erzieher/innen mit Fachschulausbildung zunehmend durch Mitarbeiter/innen ersetzt, die lediglich über eine Ausbildung zur Kinderpfleger/in verfügen. In Bremen wurde jetzt sogar ein Kurz-Qualifikationsprogramm für Sozialhilfeempfänger/innen eingerichtet, die dann entsprechende Fachkräfte ersetzen sollen.

Insgesamt arbeiteten 1998 in der Bundesrepublik Deutschland 224.500 Erzieher/innen in Kindertageseinrichtungen; als sogenannte "Zweitkräfte" oder "Pädagogische Hilfskräfte" waren 46.720 Kinderpfleger/innen eingesetzt. Bezogen auf Westdeutschland mit 159.327 Erzieher/innen und 46.002 Kinderpfleger/innen verschlechtert sich diese Situation nochmals, hier beträgt der Anteil geringer qualifizierter Zweitkräfte ca. 22%!

In einem Gutachten stellt das "Deutsche Jugendinstitut (dji)" hierzu fest: "Offenbar reagieren derart umstrittene Ausbildungen wie die der Kinderpfleger/in oder der Sozialassistent/in, die auf Berufsfachschulniveau angesiedelt sind, auf Bedarfe, die weniger fachlichen Gesichtspunkten geschuldet sind als vielmehr fiskalischen Interessen und die der Suche nach zusätzlichen Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen ohne qualifizierten bzw. höherwertigen Bildungsabschluss Rechnung zu tragen versuchen."

In einigen Bundesländern war bislang wenigstens vorgegeben, dass die Leitung von Einrichtungen mit mindestens drei Gruppen eine akademische Ausbildung vorweisen muss und vom Gruppendienst befreit ist. Dieses Erfordernis wird, sowohl auf die Freistellung als auch bezüglich der akademischen Qualifikation, aufgegeben. So beträgt der Anteil von Beschäftigten mit einer akademischen Ausbildung im Westen ganze 3,6%, in den östlichen Bundesländern liegt ihr Anteil sogar nur bei ca. 0,8 Prozent. Würde man den Standard von einer freigestellten Leitung mit akademischer Ausbildung je drei Gruppen in einer Kindertageseinrichtung zum Grundsatz erklären, müsste der Anteil jedoch bei ca. 12,5% liegen.

2. Während Politik allerorten die soziale Selektion im Zugang zu höherwertigen Bildungsabschlüssen beklagt und eine möglichst umfassende vorschulische und schulische Betreuung (Ganztagskonzepte) fordert, werden in der Praxis frühkindlicher Erziehung Ganztagesplätze bevorzugt an berufstätige Eltern vergeben und zudem die Eigenbeiträge der Eltern erhöht.

3. Während Politik eine Anhebung des Niveaus der frühkindlichen Erziehung fordert, werden in der Praxis die Vorbereitungszeiten der Erzieher/innen zusehends eingeschränkt, wird die Gruppengröße ausgebaut und in einigen Bundesländern der Betrieb vorhandener Integrationskindergärten aufgegeben.

4. Von den Erzieher/innen wird eine ständige Weiterqualifikation erwartet, zugleich aber wird immer weniger Raum für den Besuch von Fortbildungen gegeben; die Stellen für Fachberatung im Kindergartenbereich werden zusehends abgebaut.

5. Die Kindergärten werden zunehmend mit Erwartungen in Richtung der Verbesserung des schulischen Einstiegs konfrontiert; die gewünschte Zielsetzung orientiert sich zusehends an den Bildungskriterien der Schule, während bisherige Aufgaben im Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsbereich eine immer geringer werdende Wertschätzung erfahren.

6. Nach wie vor gibt es an den Hochschulen kaum Ressourcen für die Lehre zur elementarpädagogischen Qualifikation.

In Folge der zunehmenden "Leistungsverdichtung", des Abbaus von Ressourcen, der nicht ausreichenden Qualifikation der Zweitkräfte und zunehmender Erwartung durch Politik und Eltern fühlen sich immer mehr Erzieher/innen überfordert und in ihrer Situation allein gelassen. Zudem fehlt es an einer vernünftigen Personalentwicklung und an Möglichkeiten zum beruflichen Aufstieg. Entsprechend gering ist die Verweildauer im Beruf, in der Praxis erworbene Qualifikationen gehen mehr und mehr verloren.

Zwischenzeitlich wurden einige Hochschulen (z.B. Berlin, Hannover, Hildesheim) ermutigt, Studiengänge im Bereich der Erziehung oder sogar frühkindlichen Erziehung anzubieten. Der DBSH begrüßt alle Versuche, die Möglichkeiten von Erzieher/innen mit Fachschulausbildung zu verbessern, eine Hochschulausbildung zu erwerben. Ein solches Studium darf jedoch weder dazu führen, die Absolvent/innen auf nur ein Arbeitsfeld festzulegen, noch darf sie die Bezugnahme zur Sozialen Arbeit mit ihrer Schlüsselkompetenz "Erziehung" aufgeben. Besonders ist darauf hinzuweisen, dass viele Erzieher/innen nicht nur im Bereich frühkindliche Erziehung arbeiten, sondern auch in der Jugend- und Behindertenarbeit oder in Heimen eine Beschäftigung finden.

An anderer Stelle wird die Übernahme der Ausbildungsstruktur für das Lehramt an Grundschulen für den frühkindlichen Bereich vorgeschlagen. Aus Sicht des DBSH führt eine derzeitige Umsetzung dieser Zielvorstellung zu keiner Verbesserung in der Praxis, sondern zu einem "Mehr vom gleichen Schlechten". Auch in der Lehramtsausbildung sind keine Hochschullehrer/innen zum Thema frühkindliche Erziehung tätig, zudem wird sie bereits jetzt wegen ihres fehlenden Praxis- und Lebensweltbezuges kritisiert.

In Deutschland arbeiten zur Zeit allein in Kindertageseinrichtungen 224.000 Erzieher/innen; angesichts der hohen Personalfluktuation und der Sondersituation in den neuen Bundesländern, die in den nächsten zehn Jahren die Einstellung von mehr als 10.000 Erzieher/innen zusätzlich erforderlich macht (in den östlichen Bundesländern waren 1998 61,7% aller Erzieher/innen über 40 Jahre alt), wäre eine Akademisierung aller Mitarbeiter/innen im Arbeitsfeld Kindertageseinrichtungen ein Milliardenprojekt.

Angesichts der gegenwärtigen Situation, vor allem der Landes- und Kommunalhaushalte, befürchtet der DBSH, dass nunmehr neue Qualifikationsmodelle in der "Spitze" aufgebaut werden, um von der Situation an der Basis abzulenken.

Dagegen fordert der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit gemeinsam mit den in ihm organisierten Erzieher/innen strukturelle Verbesserungen und eine Qualifikation in der Breite. Im Einzelnen:

2. Forderungen des DBSH

Bereits heute leisten Erzieher/innen dort, wo Struktur und Förderung einen qualifizierten Betrieb von Kindertageseinrichtungen ermöglichen, eine wertvolle, effiziente und qualifizierte Arbeit. Die bisherige Ausbildung der Fachschulen bietet, trotz einiger Defizite, vielfach eine gute Verbindung zwischen praktischer Ausbildung und der Vermittlung spezifischer Methoden.

1. Gleichwohl ist die Ausbildung der Erzieher/innen über eine Verbesserung der Fachschulausbildung weiter zu optimieren. Im Ergebnis brauchen wir Fachkräfte mit guten "handwerklichen Fähigkeiten", die den Alltag von Kindern in den Kindertageseinrichtungen nach "Regeln der Kunst" gestalten können. Dazu gehören geeignete didaktische und pädagogische Methoden, entwicklungspsychologische und pädagogische Kenntnisse, kulturelle Techniken, praktische Alltagsfertigkeiten (Ordnung, Feste gestalten, Organisation der Arbeit etc.) und lebenspraktische Fähigkeiten. Zugleich sind weiterführende Grundkompetenzen wie z.B. in Beratung der Eltern, gemeinwesenorientierte Arbeitsformen, Integrationshilfen usw. zu vermitteln. Die Ausbildung der Erzieher/innen ist so zu gestalten, dass eine Festlegung auf den Bereich frühkindliche Erziehung und Entwicklung vermieden wird.

Notwendig ist eine Ausweitung der Unterrichtszeiten an den Fachschulen bei Verkürzung und besserer schulischer Einbindung des sogenannten Vorpraktikums.

2. Die Gruppengrößen dürfen 20 bis 25 Kinder nicht überschreiten. Je Gruppe sind zwei Erzieher/innen zu beschäftigen.

3. Die Vorbereitungszeiten für Erzieher/innen dürfen nicht verkürzt werden. Dort, wo in den letzten drei Jahren entsprechende Kürzungen vorgenommen wurden, sind diese zurückzunehmen.

4. Die Fortbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten für Erzieher/innen müssen verbessert werden.

5. Die Zweitkraft in Gruppen muss eine Erzieher/in sein. Darüber hinaus müssen Hilfskräfte, auf die Größe der Einrichtung bezogen, für zusätzliche Unterstützung in geeigneter Zahl zur Verfügung stehen.

6. Für Bereiche wie z.B. Anamnese, Diagnostik, Elternberatung, Gestaltung des Übergangs Kindertageseinrichtung/ Schule, Leitung usw. ist darüber hinaus fundiertes akademisches Wissen notwendig. Dies ist Aufgabe von Diplom-Sozialarbeiter/innen und Diplom-Pädagog/innen mit dem Studienschwerpunkt "Sozialpädagogik".

Der DBSH fordert in Einrichtungen je drei Gruppen eine entsprechend akademische und vom Gruppendienst freigestellte Leitung. Kleinere Einrichtungen sind entsprechend zusammen zu fassen und durch eine entsprechende Leitungsfachkraft zu unterstützen.

7. Im Ergebnis dieser Festsetzung fordert der DBSH (bei zwei Erzieher/innen je Gruppe) statt bisher 2% einen Anteil von ca. 15% akademisch ausgebildeter Fachkräfte im Bereich der Kindertageseinrichtungen. Um dies zu erreichen und zugleich in den Kindertageseinrichtungen vorhandenes Praxiswissen nicht zu verlieren, sind die bisherigen Zugangsmöglichkeiten für Erzieher/innen zur Hochschulausbildung zu erhalten und zu erleichtern. An den (Fach-) Hochschulen für Sozialwesen sind verstärkt Studienschwerpunkte für Sozialpädagogik/ Erziehung und Professuren für Sozialpädagogik, Erziehung und erziehungsrelevanter Methodik einzurichten.

8. Zusätzlich sind auf regionaler Ebene "Dienstleistungszentren" für Kindertageseinrichtungen zu schaffen. Diese bieten u. a. an: Fachberatung, spezielle Beratung (Psychosoziale Beratung), Erziehungsberatung, Qualitäts- und Konzeptentwicklung. Diese Aufgaben können nur von Personen wahrgenommen werden, die einen entsprechenden Studienabschluss haben.

9. Die Sachkosten müssen dem Anspruch auf Bildung und Erziehung angepasst werden und dürfen nicht auf die Träger bzw. die Eltern verlagert werden.

10. Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kindertageseinrichtungen muss klar und deutlich, auch in seinen Grenzen, definiert werden. Der DBSH fordert bundesweite Standards zum Betrieb von Kindertageseinrichtungen (Gruppengröße, materielle Standards, Qualifikation, Stellenbesetzung usw.).

11. Die Diskussion wird zum Einen unter dem Blickpunkt geführt, dass Kinder, vor allem für Frauen, eine Vermittlungshemmnis bei der Suche einer Arbeitsstelle oder als Hindernis für die Aufnahme einer Erwerbsarbeit sind. Zum Anderen reduziert sich die Diskussion um die Inhalte frühkindlicher Erziehung auf vorschulische Bildungsaspekte.

Der DBSH fordert, dass neben der Verantwortung der Kindertageseinrichtungen auch die Erwartungen an Eltern und Schule klar und deutlich formuliert werden. Eine Verkürzung der Aufgabe der Kindertageseinrichtung als Vorschule unter alleinigem Primat schulischer Kriterien muss verhindert werden. Im Vordergrund der pädagogischen Praxis muss weiterhin die Verbindung von kindgerechter Betreuung, Erziehung und Bildung stehen.

12. Der DBSH lehnt eine grundsätzliche Anhebung des Ausbildungsniveaus auf akademische Ebene als Grundlage für den Berufszugang als Erzieher/in ab.

In der gegenwärtigen Situation ist eine solche Diskussion kontraproduktiv. Sie lenkt von den aktuellen, strukturellen und finanziellen Missständen in den Kindertageseinrichtungen ab.

13. Eine Forderung nach Akademisierung des Berufes der Erzieher/innen ist auch unter dieser Berufsgruppe umstritten. Von der Politik in ihrer täglichen Praxis weitgehend allein gelassen, entspräche diese Forderung in der Wahrnehmung vieler Erzieher/innen eher einer Abwertung ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit.

Die Klärung der Verantwortung von Eltern und der Aufgabenstellung von Schule und Sozialer Arbeit ist mit zentralen gesellschaftlichen Fragen verbunden. Stichworte hierfür sind: "Kinder als Armutsrisiko", "Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit von Eltern", "Soziale Selektion im System Schule" usw. Die notwendige Verbesserung frühkindlicher Erziehung kann jedoch, für sich allein genommen, keine hinreichende Lösung sein und überfordert die Kolleg/innen in ihrer täglichen Praxis.

Notwendig sind Antworten auf den Ebenen der Gestaltung einer kinderfreundlichen Umwelt, der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und des Umbaus des bisherigen Schulsystems.

Gleichwohl ist eine gute elementarpädagogische Förderung Grundlage für den späteren Bildungserfolg.

Hille Gosejacob-Rolf
Vorsitzende
Erweiteter Bundesvorstand Fulda, den 6. März 2004

Anmerkung

Alle Zahlenangaben und Zitate wurden entnommen aus:

Stephan Bissingen, Karin Böllert, Reinhard Liebig, Christian Lüders, Peer Marquard, Thomas Rauschenbach: Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Bestandsaufnahme, Bd. 1, München 2002, S. 46

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