Ingeborg Becker-Textor
Heute erhielt ich die Anfrage einer Lehrerin an einem Berufskolleg für Sozialpädagogik zu den Vorgaben für die Praxisausbildung von angehenden Erzieher/innen.
Und plötzlich lag es quasi wieder vor mir, das Dilemma. Es begleitet auch mich durch mein ganzes berufliches Leben.
Zuerst als Leiterin einer Kita. Da kamen Praktikant/innen der verschiedenen sozialpädagogischen Fachschulen mit oft recht seltsamen Aufgaben und Themen. Meist passten sie überhaupt nicht in das Konzept unserer Einrichtung. Für den Praxisbesuch war seitens der jeweiligen Ausbildungsstätte eine bestimmte Uhrzeit festgelegt. Ob sie uns geeignet erschien, danach fragte niemand. Also musste eine kleine Gruppe besonders "braver" Kinder z.B. um 9.15 Uhr zur Verfügung stehen und dann auf "Knopfdruck" bereit sein, sich dem Angebot einer Praktikantin zu stellen. Oft brauchte es Überredungskünste, um Kinder zu finden, die Lust hatten. Oft hatte das Thema nichts zu tun mit den Aktivitäten und Projekten, in denen die Kinder zur gleichen Zeit aufgingen. Und oft zeigten sich die Methoden konträr zur Arbeitsweise in unserer Einrichtung. Von einigen Ausbildungsstätten nahm ich deshalb keine Praktikant/innen mehr in unserer Einrichtung auf. Auf den Praxisanleitertagungen gab es heiße Diskussionen, und die Diskrepanz zwischen der Alltagsrealität in einer Kita sowie den Vorstellungen und Erwartungen der Lehrkräfte gestaltete die Kooperation schwierig.
Dann als Fachberaterin. In dieser Funktion lernte ich die Vielfalt der pädagogischen Konzepte in den Kitas verstärkt kennen. Mir stellte sich immer häufiger die Frage, warum Ausbildungsstätten ihre Praktikant/innen nicht mit ganz anderen Aufträgen in die Kita schicken konnten. Wurde in der Theorie über das Bilderbuch gesprochen (oder heute über Literacy), könnte ein Auftrag an die Praktikantin sein, sich an der Praxisstelle zu erkundigen, wie Bilderbuchbetrachtungen in der Kita erfolgen. Die Ergebnisse könnten in individuellen Berichten festgehalten werden, und die Fachschule würde so aktuellen Einblick in die Alltagspraxis bekommen. Danach könnte es Aufgabe der Praktikantin sein, für den Besuch der Lehrkraft gemeinsam mit der Praxisstelle eine Aktivität rund um ein Bilderbuch zu planen. Dabei wäre besonders wichtig herauszuarbeiten, wie sich diese in die aktuelle Arbeit und in das Konzept der Kita eingliedert. Das wäre echte Partizipation oder auch eine Ko-Konstruktion zwischen den Erwachsenen, die in der Ausbildung einer künftigen pädagogischen Mitarbeiterin involviert sind. Denn es muss uns allen klar sein: Meine Praktikantin von heute ist möglicherweise meine Kollegin von morgen!
Nebenamtlich unterrichtete ich über viele Jahre an Fachschulen für Sozialpädagogik. Ferner hatte ich Lehraufträge an einer Fachhochschule für Sozialwesen und an einer Universität in der Ausbildung von Grundschullehrern. In regelmäßigen Abständen verlegte ich den Unterricht bzw. das Seminar in die Kita oder beteiligte Kinder am Unterricht in der Fachschule. Das löste anfänglich natürlich bei Schulleitung, Professoren, Schülern und Studierenden "Entsetzen" aus. Dieser "frühe Praxisschock" der Schüler/innen und Student/innen veränderte aber deren Lernverhalten, schulte das Beobachtungsvermögen und modifizierte deren Bild vom Kind.
Mit den Kindern besprach ich im Vorfeld, was wir den Erwachsenen vermitteln wollen. Oft war ich ziemlich provokativ: "Wisst Ihr, die meinen, ein Bilderbuch könne man nur vorlesen. Vielleicht könnt Ihr mir helfen, sie einfach aufzuklären, was man damit alles machen kann? Manche fürchten sich auch etwas davor, Kindern eine Geschichte zu erzählen, so ganz ohne Buch. Sie haben Angst, den Faden zu verlieren. Sie wissen einfach noch nicht, wie Kinder sie unterstützen können, was die alles wissen!" Ich erinnere mich an eine Aussage von Stefan, 5 ½ Jahre alt: "Also, wenn Du bei einer Geschichte nicht weiter weißt, dann schaust Du uns an und fragst, ob wir vielleicht wissen, wie es weitergeht. Und dann helfen wir Dir, das ist ganz einfach. Und schon mal hast Du gesagt, dass Du uns immer fest anschaust, und dann könntest Du an unseren Gesichtern ablesen, wie die Geschichte weitergehen soll. Halt ob wir es noch spannender wollen oder ob wir schon genug haben". Susi, 5 Jahre: "Am allertollsten ist es, wenn Du bloß sagst und dann... Dann bist Du ganz still und wir auch. Und auf einmal haben wir tausend Idee. Ich glaub, dann suchst Du Dir aus, wie Du willst, dass es weitergeht!" Peter, 4 ½ Jahre: "Mir gefällt immer die Geschichtenhausaufgabe. Wenn Du halt dann sagst, und dann ist die Sonne weggegangen, und vielleicht überlegt Ihr Euch mal bis morgen, wie die Geschichte ausgeht. Ich träum manchmal dann von der Geschichte"!
Alle diese Beispiele zeigen, dass wir unsere Methoden und damit auch eventuelle Angebote an die jeweilige Situation anpassen müssen. Wir müssen uns endlich verabschieden von der Rolle der Lehrenden in der Kita. Das war einmal. Wenn wir die Selbstbildungskräfte der Kinder wirklich ernst nehmen, dann werden wir zu Bildungsbegleitern - und sind nicht länger Lehrende, die eine Einheit oder ein Angebot "abspulen".
Als Mitglied vieler Lehrplankommissionen für die Ausbildung im sozialen Bereich habe ich bittere Erfahrungen gemacht: So ist der Weg von der Erstellung eines Lehrplans über das Genehmigungsverfahren und Inkrafttreten bis hin zu den ersten Absolvent/innen, die nach dem neuen Lehrplan ausgebildet wurden, viel zu lang. Tritt ein Lehrplan in Kraft, dann müsste er eigentlich schon wieder geändert werden. Die Beschleunigung in der Wissensgesellschaft macht auch vor Bildung nicht halt. Es gäbe nur die Möglichkeit, dass wir uns viel stärker als bisher vom rein abfragbaren Wissen verabschieden. Wissen veraltet viel zu schnell, seine "Lebensdauer" wird immer kürzer. In den Bildungsplänen oder Bildungsvereinbarungen der Länder wird deshalb von Basiskompetenzen gesprochen - Kompetenzen, die es Kindern und Erwachsenen möglich machen, auf dem Wege der Selbstbildung Wissen zu erwerben, sich Wissen zu beschaffen, ihre lernmethodische Kompetenz fortlaufend auszubauen. Diese Sichtweise verlangt von den Dozent/innen aber viel Dynamik, Offenheit und Kreativität.
Ein neuer Lehrplan macht noch lange keine neue Ausbildung. Ist er fertig, werden die Lehrer/innen geschult, damit möglichst alles wieder einheitlich verläuft. Mit Schaudern erinnere ich mich an einen Dozenten in einer der vielen Kommissionen, der feststellte, dass er seinen Psychologiestoff nun schon 20 Jahre vermittle und das auch weiterhin so tun würde.
PISA, IGLU, TIMSS und andere Studien lieferten uns den Beweis, dass trotz aller zusätzlichen Förderungen der Zugewinn im Bildungsbereich verschwindend gering ist. Dabei wurden so viel Energie und Geld aufgewendet. Alleine im Kita-Bereich brachten die letzten 10 Jahre so viele Veränderungen wie nie zuvor: Krippenausbau, Schülerbetreuung, Zunahme von Kindern mit Migrationshintergrund, Forderungen der Wirtschaft an Kitas wie z.B. nach mehr mathematisch-naturwissenschaftlicher und technischer Bildung, bilinguale Erziehung, Notwendigkeit der Berücksichtigung der Ergebnisse der Hirnforschung, Langzeitöffnung der Kitas, stetig wachsender Fachkräftemangel, Mehrfachbelastung im familiären und beruflichen Bereich etc. Für jedes auftretende Problem sucht man nach Lösungen und Angeboten, versucht, es in den Griff zu bekommen, und verliert dabei den Blick darauf, was Kinder brauchen, was Kinder glücklich macht, dass Zeit das höchste Gut ist, das wir zu verwalten und zu schützen haben.
Der Markt der Angebots- und "Kofferpädagogik" boomt, obwohl diese gleichzeitig ein Hemmnis für das explorative Lernen von Kindern beinhaltet. Dies ist auch erschreckend, weil die "Kofferpädagogik" gleichzeitig zunehmend mehr Eingang in die sozialpädagogische Ausbildung findet. Für jedes Problem, jedes Defizit gibt es mittlerweile Förderprogramme. Sie reichen von Angeboten der Suchtprävention bis zur Sprachförderung, vom Resilienztraining bis zu naturwissenschaftlich-technischen Experimentierkoffern. So treiben wir zur Zeit wieder auf der ziemlich gefährlichen "Welle" der Defizitorientierung und vergessen dabei die Ressourcen, die in jedem Kind stecken - ganz gleich welcher sozialen Herkunft, aus welchem Kulturkreis, ob mit Behinderung oder von Behinderung bedroht. Blickt man einige Jahrzehnte zurück, so fällt auf, dass wir diesen Förder- und Trainingsboom in Deutschland schon einmal durchlaufen haben. Erfolge sind damals ausgeblieben...
Viele dieser Programme werden von Sponsoren und auch von den Bundesländern kostenfrei zur Verfügung gestellt, und die Kitas, Eltern und Ausbildungsstätten heißen sie für gut. So verkommt die Kita zu einem Ort der Kurse, Programme und festen Angebote. Dies wurde von vielen Fachkräften begrüßt, da sie nun weniger eigene Ideen und weniger Vorbereitung brauchen und etwas zum "Vorzeigen" haben, ohne selbst argumentieren zu müssen. Eltern und oft auch Träger fordern die Umsetzung dieser Programme ein, ohne deren Inhalte oder gar pädagogische Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit zu kennen. Es soll ja nichts versäumt werden! So erhielt ich dieser Tage eine Anfrage von einer Mutter, ob es nicht gut wäre, wenn Musikkurse für Kita-Kinder auch nach 17.00 Uhr angeboten würden, damit berufstätige Eltern ihre Kinder dort hinbringen könnten. Dementsprechend ist es auch nicht verwunderlich, wenn in der Ausbildung sozialpädagogischer Fachkräfte soviel Wert auf Angebote gelegt wird.
Noch ein Blick auf meine derzeitige Tätigkeit als Fortbildnerin: Aufgrund all der vorher beschriebenen Erfahrungen reizte es mich, ganz andere Themen in der Fortbildung anzubieten. Ich wollte wissen, ob Erzieher/innen wirklich mit dieser ganzen übertriebenen Förderung glücklich sind. Und so bot ich ein Seminar "Glückliche Kinder - Wie können wir Kindern besser gerecht werden?" an. Im Ausschreibungstext heißt es u.a.: "Andere Gewichtungen, Umdenken, mehr innere Freiheit, das Loslassen von überflüssigen Aktivitäten bringen uns allen neue Formen des Erlebens und Lebens. Was macht uns als Erwachsene glücklich? Es sind die kleinen Dinge des Lebens. Dem Erwachsenen bleiben sie meist verborgen. Wir müssen aber gerade als Pädagogen wieder die Fähigkeit erwerben, mit Kinderaugen zu sehen und kleine Dinge wahrnehmen." Es sind die inneren Zweifel der Pädagog/innen, ob der derzeitige "Förderwahnsinn" wirklich der richtige Weg ist, die dieses Seminar zu meiner Überraschung zu einem "Dauerbrenner" werden ließen.
Einen weiteren Versuch machte ich mit dem Seminar "Fördern um jeden Preis - Umgang mit dem Förderwahnsinn". Auch dieses Seminar wird stark nachgefragt! Die Teilnehmer/innen sollen entweder das von ihnen geliebteste oder das von ihnen am meisten gehasste Förderprogramm mitbringen. Sie stellen es vor, und dann wird diskutiert. Eine Teilnehmerin: "Jetzt sind mir die Augen aufgegangen. Warum mache ich das eigentlich? Mein Träger verlangt es, die Schule will es. Aber was bringt es den Kindern?"
Sinnvoll durchgeführte Angebote im Rahmen von Praxisbesuchen
Kinder sind heute überfordert mit Angeboten, Kursen und Förderprogrammen. Und jetzt auch noch das Angebot der Praktikantin, das so gar nicht in den Alltag der Kita passt! Was ist der Kita-Alltag? Er umfasst die gesamte Zeit des Kindes in der Einrichtung. Der wichtigste Teil ist das Freispiel, gefolgt vom sozialen Zusammenleben sowie von und mit Kindern entwickelten Projekten - und dann erst kommen die so genannten Angebote. Sie reduzieren sich mit zunehmender Qualität der anderen Bereiche. So ist es eigentlich auch unverständlich, wie viel schriftliche Vorbereitung eine Praktikantin für ein Angebot vorlegen muss, wie knapp aber die Reflexion ausfällt!
Die ideale Lösung wäre, der Praxisbesuch würde zwei Stunden dauern. Während dieser beiden Stunden "lebt" und "arbeitet" die Praktikantin mit den Kindern, und in dieser Zeit gestaltet sie auch ein "Angebot". Nicht zu vergessen ist dabei der Anspruch der Partizipation seitens der Kinder! So wäre es der Lehrkraft möglich zu beobachten, wie ihre Schülerin im Gruppengeschehen reagiert, in den verschiedenen Situationen auf die Kinder eingeht, sich einbringt und zum passenden Zeitpunkt ein Angebot oder eine Beschäftigung durchführt.
Wenn diese Vorgehensweise die Regel wäre, bliebe so mancher pädagogischen Mitarbeiterin nach der Ausbildung der Praxisschock erspart. Sie hätte vielmehr ausreichend Chancen und Übungsfelder gehabt, mit einer Gruppe umzugehen. Ganz besonders wichtig ist aber, sie hätte aus der Beobachtung der Kinder Konsequenzen für ihr eigenes Verhalten und die Vorgehensweise bei ihrem pädagogischen Angebot ziehen können. Wie oft konnte ich beobachten, wie aufgeregt eine Praktikantin auf den Augenblick des Eintreffens der Lehrkraft und den Beginn ihrer so sorgsam (aber oft an den Bedürfnissen der Kinder vorbei) vorbereiteten Beschäftigung wartete. Wenn sie als künftige pädagogische Kollegin den Wert des Freispieles und der Gruppe erkennen und "erlernen" soll, dann muss das insbesondere auch bei einem Praxisbesuch deutlich werden!
Ein solches Vorgehen verlangt von der Praktikantin, dass sie sich mit der Umgebung der Kinder, also dem Gruppenraum, beschäftigt, für die Kinder als Ansprechpartnerin zur Verfügung steht und mitspielt. Sie darf die Gruppe nicht aus dem Auge verlieren. Natürlich wird nicht die perfekte Arbeit mit der Großgruppe erwartet, sondern "nur" mit einer Kleingruppe, auch eventuell mit einer Differenzierung z.B. nach Alter oder Interessenslagen der Kinder. Abhängig vom Gruppengeschehen in der Freispielphase kann sie dann einen Impuls für ihr Angebot setzen.
Wie lange ein Angebot dauern soll, darf nicht vorgegeben werden, denn die Länge ist von so vielen Faktoren abhängig! Es würde absolut keinen Sinn machen, Kinder über einen vorgegebenen Zeitraum hinweg zu einer bestimmten Aktivität zu zwingen. Kinder wissen sich zu wehren, und das ist gut so. Dementsprechend darf ein kurzes Angebot der Praktikantin auch nicht als Versagen angelastet werden.
Die schriftliche Vorbereitung sähe deshalb auch ganz anders aus wie "nur" bei einem Angebot. Was jedoch besonders wichtig ist, das ist die schriftliche Reflexion, das Festhalten, was die Praktikantin beobachtet hat. Es geht nicht primär darum, ob sie das, was sie beabsichtigt hatte, erreicht hat, sondern darum, was sie in den gesamten zwei Stunden erreicht hat. In diesem Kontext kann dann überlegt werden, warum die Kinder wohl an dem Angebot (nicht) interessiert waren, welche Signale die Kinder "gesendet" haben. Und unbedingt festgehalten werden müssen die Ergebnisse, die Kinder erzielt haben, obwohl wir manche von ihnen gar nicht erwartet haben. Meist gehen sie weit über das hinaus, was wir den Kindern zutrauen. Ja, Kinder überraschen uns, sind unsere "Lehrmeister". Es ist völlig normal, dass auch ganz Ungeplantes erreicht wird. Es dürfte keinen Pädagogen geben, der haargenau vorausschauen kann, was genau geschehen wird.
Bildung und Erziehung sind Prozesse, die vom Erwachsenen nicht in Gänze zu steuern sind. Der Erwachsene wird jedoch größere Erfolge "erzielen", wenn er auf die Kinder eingeht, ihnen zuhört, sie beobachtet, offene Fragen stellt, sich ihr Handeln erklären lässt, ihnen das Denken nicht abnimmt. Dazu zwei Beispiele: Statt dass bei einer Bastelarbeit den Kindern alles bereitgestellt wird, könnte die offene Frage der Pädagogin an die Kinder lauten: "Was brauchen wir alles?" Jetzt wird überlegt, diskutiert, herbeigeholt, und dann kann es mit der Arbeit losgehen. Oder im Bereich der naturwissenschaftlichen Förderung: Was bleibt dem Kind zu tun, wenn die fleißige Praktikantin oder Erzieherin einen wunderbaren Versuch aufgebaut hat und nun dem Kind erklärt, wie es geht, was passiert? Kinder wollen Dinge selbst herausfinden, experimentieren, erproben, untersuchen... und brauchen dazu die richtige Begleitung. Nur was sie im Sinne des Wortes "begriffen" haben, davon können sie sich einen Begriff machen und das bleibt ihnen erhalten.
Diese so scheinbar einfachen Zusammenhänge müssen im pädagogischen Alltag neu belebt werden. Wir müssen wieder zurückfinden zu den Wurzeln der Pädagogik. Die Reflexion könnte dazu wesentliche Beiträge leisten. Kinder brauchen keine "Anbieter", Animateure oder Unterhalter - sie benötigen Freiräume, unverplante Zeit und bei Bedarf ansprechbare Erwachsene, um sich Wissen anzueignen. Damit bekommt das Angebot einen viel geringeren Stellenwert; die vorbereitete Umgebung und die einfühlsame (Bildungs-) Begleitung werden jedoch unverzichtbar.
Die Flut der Förderprogramme hat den Kindern kaum etwas gebracht, außer vielleicht viel Verlust an Neugierverhalten, Explorationsmotivation und Lernfreude. Zu den Sprachförderprogrammen liegen erste Evaluationsergebnisse vor, die deutlich machen: Ziel nicht erreicht. Kinder lernen Sprache im Dialog bzw. in der Alltagskommunikation, aber nicht durch das Aufzeigen ihrer Sprachdefizite. Wer von uns möchte schon, weil er ein Sprachdefizit hat, mehrmals wöchentlich "vorgeführt" werden und eigenen "Unterricht" zur Behebung des Defizits erhalten! Sprache lernt man durch Sprechen. Durch Rückfragen oder die so genannte "Spiegelung" hört das Kind, wie der Satz richtig gebildet wird, das Verb korrekt konjugiert. Es spürt, es wird so akzeptiert und geliebt, wie es spricht. Auf richtig oder falsch kommt es nicht an. So wurde nachgewiesen, dass Kinder in einem sprachlich erfüllten Alltag ("Sprachbad") schneller und besser sprechen lernen wie in künstlichen Fördersituationen.
Was ist nun für die Ausbildung besonders wichtig?
Die ersten Beobachtungen sollten Praktikant/innen ohne Vorgaben machen. Sie schreiben auf, was sie hören, was sie sehen, was sie mit den Kindern erleben. In der gemeinsamen Auswertung werden sie feststellen, dass jeder etwas anderes aufnotiert hat und das vielleicht sogar in der gleichen Gruppe. Große Lerneffekte ziehen Praktikant/innen aus der Beobachtung und der Reflexion, nicht aber aus den scheinbar messbaren und häufig manipulierten Ergebnissen der Angebote. Was wir in der Beobachtung aufschreiben wird ganz wesentlich beeinflusst von unserem Bild vom Kind. Beobachten wir nur nach vorgegebenen Kriterien, sehen wir viele Verhaltensweisen der Kinder nicht. Auf die kleinen Dinge müssen wir unser Augenmerk richten, ohne vorschnelle Bewertung oder Interpretation. Dies ist sehr schwer zu erlernen; viel Übung ist erforderlich.
Dazu ein Beispiel aus einer Lehrerfortbildung: Grundschullehrer/innen hospitierten in einer Kita-Gruppe. Ich bat sie, ihre Beobachtungen schriftlich festzuhalten. Bei der Auswertung stellte ich fest, dass sie nichts von dem gesehen hatten, was ich eigentlich wollte, dass sie sehen würden. Sie kritisierten die Erzieherin, weil sie bei zwei streitenden Kindern nicht gleich eingeschritten wäre. Was sie nicht merkten war, dass die Erzieherin den Streit beobachtete, abwartete und lächelte, als die Kinder gemeinsam eine Lösung fanden und friedlich weiterspielten.
Vorschnelle Urteile führen leicht zu Verhaltenszuschreibungen. Es gibt ganze Listen von Auffälligkeiten - mit dem Auftrag, Zutreffendes anzukreuzen. Ein Kreuz für die Kinder! Was den Beobachter zeitnah geärgert hat, was ihm gerade aufgefallen ist, das wird angekreuzt. Aber war dieses Verhalten wirklich für das Kind typisch? Und wie steht es mit den Ressourcen? Es gilt in der Pädagogik, die Ressourcen zu stärken!
Mit kritischem Blick auf die aktuelle Bildungsdiskussion müssen wir aber leider feststellen, dass die Defizitorientierung dominiert. Und jetzt sollen sich unsere Praktikant/innen auch noch mit Inklusion beschäftigen. Alle Menschen sollen trotz ihrer Verschiedenheit ihren Platz in der Gemeinschaft haben. Das kann nur gelingen, wenn wir unsere Sichtweisen verändern und, wie schon gesagt, zurückkehren zu den Wurzeln. Auch die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Kindheit kann uns helfen. Die Seminare "Glückliche Kinder" haben mir dies überdeutlich gezeigt. Und viele Praktikant/innen und pädagogische Mitarbeiter/innen sind auf der Suche, andere wägen sich noch sicher in ihrem Verhalten als Animateure. Eines ist aber gewiss, der neue alte Weg ist viel anstrengender und zeitintensiver, kostet mehr Einfühlungsvermögen und Geduld.
Also wägen wir ab: Was brauchen unsere Kinder? Wo stehen Sie? Was sollten wir ihnen anbieten? Die Bewältigung des Spagats zwischen Freispiel und Angebot, Selbstbestimmung und Vorgabe können nur Sie für sich selbst schaffen.
Fazit: Was kindgemäß ist, das zeigen uns die Kinder. Wenn Kinder lustlos an unserem Angebot teilhaben, dann liegt das selten an den Kindern, sondern an unserem Angebot. Die Kinder würden lieber selbsttätig lernen, eigene Erfahrungen machen, sich selbst bilden.
Ein Praxisbeispiel als "Schlusswort"
Zum Abschluss ein Bericht aus meiner Fortbildungspraxis (dies könnte auch ein Beispiel aus der Ausbildung sein): Gerne arbeite ich bei Kursen mit einer Gruppe von Kindern. Bei einer Fortbildung wollte mir die Gruppenleiterin nur deutschsprachige Kinder mitgeben und nur ältere. Ich hingegen erzählte den Kindern, dass wir zu einer Gruppe von Erzieherinnen gehen würden, die viel lernen möchten über das, was Kinder alles können. Die Neugier war groß. Dann fragte ich die Kinder, wer mitgehen möchte. 14 Kinder zwischen 3 ½ und 6 Jahren, Kinder verschiedener Nationen mit teilweise wenig Deutschkenntnissen, wollten mich begleiten.
Den Erzieherinnen hatte ich im Vorfeld ein Bilderbuch gezeigt: "Der Schatten" von dem japanischen Maler Kota Taniuchi. Sie fanden das Buch für die pädagogische Arbeit nur wenig geeignet und langweilig für Kinder.
Die Kinder und ich setzten uns im Tagungsraum auf den Boden. Ich ermunterte die Kinder, sich alle Erwachsenen gut anzuschauen, sich eine Person auszusuchen und sie nach ihrem Namen zu fragen. "So, jetzt kennt Ihr alle, und wir können anfangen. Ich habe einen großen Umschlag für Euch mitgebracht. Was da wohl drinsteckt?" Die Kinder schauten sich gegenseitig an, betasteten den Umschlag. "Brief nicht hart. Ist anders", sagte Ayla. "Vielleicht ein Brett", sagte Peter. Es folgten noch weitere Vermutungen. Dann öffnete ein Kind nach dem anderen ein Stück des Umschlags. Nahezu zeitgleich kam aus aller Munde: "Ein Buch". "Libro", sagte Paolo. "Kennt einer von Euch das Buch?" Ich zeigte den Kindern die Titelseite. Alle schüttelten den Kopf - ich auch: "Ich kenne es auch nicht". Die kleine Susanne meinte: "Reinschaun tun. Drin is?" Georg: "Les vor". Dies ging nicht, ich hatte nämlich die wenigen Textzeilen zugeklebt, und so war da nichts zum Vorlesen. "Bilder gucken. Bilder sagen Geschichte", erklärte Ayla mit heftigem Kopfnicken (Die Gruppenleiterin, die mit dabei war, war mehr als erstaunt und sagte später bei der Auswertung, dass Ayla aus der Türkei käme und in der Gruppe nicht sprechen würde. Sie würde bei Fragen immer weglaufen. Sie wisse nicht mehr, wie sie Ayla zum Sprechen bringen sollte!).
Nun begannen wir, das Buch durchzublättern. Ich wartete auf die Kommentare der Kinder und sagte nichts. Die Kinderstimmen gingen durcheinander - in Wortfetzen, ganzen Sätzen, falscher Grammatik -, aber alle Kinder sagten etwas. "Vogel, vielleicht Spatz?" - "Ist Taube. Dreck. Krank wird." - "Tauben gibt es bei uns viele". Ich bestätigte die Kinder, sagte nichts zu dem Schatten der Taube. Die Kinder auch nicht. Auf der nächsten Seite flog die Taube am Himmel. "Kinder haben die Taube weggejagt, und jetzt fliegt sie fort." - "Himmel verschwunden". Auf der gegenüberliegenden Buchseite befindet sich nur ein menschlicher Schatten: "Ist Mensch auf Boden". - "Aber der hat keine Arme und kein Gesicht, komisch..."
So blätterten wir durch das ganze Buch, und niemand nannte das Wort "Schatten". Da wurde plötzlich ein Mädchen ganz quirlig, das bisher noch nichts gesagt hatte. Ich kannte seine Nationalität nicht. Sie verkrümmte sich richtig und suchte nach Worten: "Wenn Sonne, dann kommt dunkel auf Erde. Weisen nicht, wie Wörter heißt." Sie stellte sich hin und versuchte, den anderen zu erklären: "Himmel, Sonne. Du stehen oder fliegen Vogel. Schwarz auf Boden". Karl schnaufte fest durch und sagte: "Jetzt weiß ich, was Du meinst: Schatten. Also wenn die Sonne auf was scheint, dann gibt es ein Schatten!"
Auf Wunsch der Kinder begannen wir mit dem Buch von vorne. Sie erkannten, dass auf jedem Bild ein Schatten zu sehen war, manchmal kurz und breit, dann lang und dünn. Ich holte eine Taschenlampe aus der Tasche. "Des könne mir auch wie ne Sonne nema", tönte eine Stimme. Ich hielt die Lampe über ein Kind; kein Schatten. Ich bewegte die Lampe weg; ein Schatten. Und wieder erklärten die Kinder, dass es vom Stand der Sonne abhängig sei, wie der Schatten ausfällt. Wir machten noch weitere Versuche mit Gegenständen, die die Kinder herbeiholten.
Zum Schluss - mittlerweile waren 45 Minuten vergangen - las ich das Gedicht von Sarah Kirsch vor, das auf der letzten Seite des Bilderbuches stand. Die Kinder bestätigten den Text immer wieder. "Stimmt, ist so". Und dann die letzten Zeilen: "Und ich fand den Vogel. Ach Taube, wo bist Du denn, wenn es dunkel ist". Einen Moment lang waren die Kinder ratlos. Ein Kind rettete dann die Situation: "Also ich sag Euch mal, Schatten wird von die Sonne gemacht. Die Mond ist nicht so lichtig. Meinste der Mond macht auch Schatten?" Mit dieser "Hausaufgabe" verabschiedete ich die Kinder. Sie wären gerne noch länger geblieben.
Diese 45 Minuten waren für die beobachtenden Erzieherinnen und die Gruppenleiterin anstrengend gewesen. Letztere war überrascht über den Erklärungsreichtum ihrer Kinder. Die anderen Teilnehmerinnen meinten, dass sie nie so viel Zeit für eine solche Aktivität hätten bzw. sich nicht so viel Zeit nehmen würden. Sie wollten wissen, ob das nun eine Erzählung, eine Bilderbuchbetrachtung oder eine Einführung in das Schattenspiel war. Sie hielten es für eine Vermengung von Methoden und somit nicht für ein klares Angebot.
Bilden Sie sich nun selbst eine Meinung! Ist es mir gelungen, das Dilemma um die so genannten Angebote zu lösen? Das können nur Sie als Leser beurteilen...