Quelle: Erstveröffentlichung in "engagement". Die Zeitschrift für Theorie und Praxis der Schulen und Internate in katholischer Trägerschaft, Ausgabe 37/2019[1]
Axel Bernd Kunze
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen kann 2019 ihr dreißigjähriges Jubiläum feiern. Das Dokument legt die Menschenrechte auf die besonderen Schutz-, Förder- und Beteiligungsansprüche von Kindern hin aus. Eine besondere Rolle spielen die Kinderrechte für die Erzieherausbildung an Fachschulen für Sozialpädagogik.
Kinder sind nicht einfach kleine, noch unfertige Erwachsene oder Objekte elterlicher Fürsorge, sondern Subjekte mit eigenen Rechtsansprüchen. Dies ist der Grundgedanke der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 2019 dreißig Jahre alt wird. Das Dokument markiert einen deutlichen Perspektivwechsel im Umgang mit Kindern (die Vereinten Nationen meinen dabei Kinder und Jugendliche bis zur Volljährigkeit), wie die Menschenrechtspädagogin Claudia Lohrenscheit betont: „Die Achtung und der Schutz ihrer unveräußerlichen Würde muss die zentrale Leitlinie sein für alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Sie sind somit nicht nur Objekte von Schutz und Fürsorge durch Erwachsene, sondern sie sind auch Subjekte ihrer eigenen Entwicklung, die sie selbst mitbestimmen sollen und können“ (Lohrenscheit 2006, S. 7).
Kinder haben nicht andere Menschenrechte als Erwachsene, aber sie sind aufgrund ihres Alters, ihrer Entwicklung und ihrer Abhängigkeit von anderen auf spezifische Weise verletzbar. Diesem Umstand trägt die Kinderrechtskonvention Rechnung und legt die Menschenrechte auf die besonderen Lebensumstände von Kindern hin aus. Von den großen Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen ist keines von mehr Staaten unterschrieben worden. Doch war es bis dahin ein langer Weg.
Auf dem Weg zu eigenständigen Kinderrechten: Eine längere Vorgeschichte
Erst mit der Neuzeit bildet sich das heraus, was wir heute als „Kindheit“ kennen: eine eigenständige, vom Erwachsenenalter unterschiedene Lebensphase mit eigenen kindgemäßen Lebensformen, etwa in der Kleidung oder im Spiel. Der französische Historiker Philippe Ariès bezeichnet diese Entwicklung als „Entdeckung der Kindheit“ (Ariès 2003, S. 92). Den eigenständigen Bedürfnissen von Kindern wurde in der Folge besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Seit der Aufklärung orientiert sich die Ausgestaltung des Erziehungsverhältnisses zunehmend am Kind, und es entsteht die moderne, um das Kind zentrierte Form der Familie.
Damit wurde das Kind zwar noch nicht im vollen Sinne als Träger eigener Rechte begriffen. Allerdings wächst zunehmend die Überzeugung heran, dass Kinder auf ihrem Weg zu vollwertigen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft besonderen Schutzes bedürfen. Zwei Entwicklungen bestimmen das neunzehnte Jahrhundert, noch bevor ausdrücklich von Kinderrechten gesprochen wird: Zum einen wird die Kinderarbeit eingeschränkt (wobei der Impuls hierzu in Preußen vom Militär ausgeht, das die Tauglichkeit für den Militärdienst gefährdet sieht); zum anderen setzt ein Prozess ein, in dessen Verlauf – nach historischen Maßstäben in einem äußerst knappen Zeitraum von rund hundert Jahren – eine vollständige Durchschulung der Bevölkerung politisch durchgesetzt wird.
Die Vorstellung von eigenen Kinderrechten findet dann erstmals in der Genfer Erklärung des Völkerbundes von 1924 einen sichtbaren Ausdruck. Allerdings blieb diese – 1934 noch einmal bekräftigte – Erklärung für die Unterzeichnerstaaten weitgehend unverbindlich; Deutschland gehörte diesen nicht an, da es erst später dem Staatenbund beitreten konnte. Pädagogisch Pate standen reformpädagogische Ansätze, die forderten, „vom Kinde her“ zu denken und zu handeln (z. B. Ellen Key, Janusz Korczak oder Oswald Paßkönig).
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sollte es noch geraume Zeit dauern, bis sich eigenständige Kinderrechte politisch wirksam durchsetzen konnten. Angestoßen durch die internationale Kinderschutzbewegung, beschäftigte sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen zwar bereits 1956 in einer Erklärung mit dem besonderen Schutz der Rechte von Kindern, rechtsverbindlich verankert wurden diese jedoch erst 1989 mit dem betreffenden Übereinkommen über die Rechte des Kindes. In Deutschland erkannte das Bundesverfassungsgericht 1968 Kindern ausdrücklich die Grundrechtsfähigkeit zu: ein Paradigmenwechsel, der sich in der Folge in zahlreichen Novellierungen des Kindschafts-, Jugend- oder Familienrechts niederschlug.
Das Anliegen der Kinderrechte: Schutz, Förderung und Beteiligung
Nach Art. 3 Abs. 1 der Kinderrechtskonvention sollen sich alle Entscheidungen, die Kinder betreffen, an deren Wohl orientieren (im englischen Original heißt es: „the best interest of the child“). Die Erwachsenen sollen ein ebenbürtiges Verhältnis zu Kindern entwickeln, aber nicht auf pädagogische Führung verzichten. Vielmehr sollen sich erstere mit den Interessen und Bedürfnissen der Jüngeren pädagogisch verantwortlich auseinander setzen: „Die Kompetenz zu wählen und zu entscheiden, müssen Kinder erst erwerben; denn Wahl und Entscheidung in Freiheit gibt es nur dort, wo das Subjekt, das sich entscheidet, die Tatsachen erkennen, die Folgen abschätzen und die Verantwortung tragen kann. Es gehört zu den Aufgaben des Erwachsenen, Kinder beim Erwerb dieser Kompetenz zu unterstützen“ (Brinkmann 1995, S. 88 f.)
Die Kinderrechte lassen sich nur im angemessenen Zusammenspiel der Schutz-, Förder- und Beteiligungsinteressen der Kinder verwirklichen. Dies zeigt sich auch in den beiden Artikeln 28 f., die sich dem Recht auf Bildung widmen. Der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der die Einhaltung der Konvention überwachen soll, verlangt eine auf das Kind konzentrierte Form der Bildung, die diesem die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstbehauptung vermittelt (Schutz). Eng verbunden ist damit ein Recht auf Erziehung, also auf pädagogische Unterstützung und Begleitung (Förderung), damit das Kind schrittweise, dem Alter und der Entwicklung angemessen dazu befähigt wird, immer stärker Selbstverantwortung für das eigene Leben zu übernehmen (Beteiligung).
Nur eine den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes angepasste sowie seinen sozialen Kontext berücksichtigende Bildung könne nach Ansicht des Kinderrechtsausschusses menschenrechtlichen Ansprüchen genügen. In seiner Auslegung betont dieser, dass im Bildungsprozess nicht ausschließlich Sachwissen zu vermitteln sei. Gefordert wird ein ganzheitlicher Ansatz, der praktische, seelische, geistige und emotionale Bildung miteinander verbindet. Die gesellschaftlichen Teilhabechancen von Kindern werden nicht allein dort beschnitten, wo der direkte Zugang zu Bildung verweigert wird, sondern auch dort, wo es an einer wertorientierten Bildungs- und Erziehungsarbeit fehlt. Ziel aller Bildungsbemühungen müsse es sein, so der Kinderrechtsausschuss in einer Stellungnahme vom 17. April 2001, dem Kind zu ermöglichen, immer stärker, „als vollwertiges und verantwortungsbewusstes Mitglied an einer freien Gesellschaft teilzuhaben“.
Der Erzieherberuf: eine Menschenrechtsprofession
Wie andere Menschenrechtsdokumente auch erwähnt die Kinderrechtskonvention die Elementarbildung nicht ausdrücklich. Allerdings zeigt die mittlerweile dreißigjährige Auslegungspraxis, dass die Bestimmungen der Konvention – im Rahmen der Staatenberichte – zunehmend auch auf den Bereich der frühen Bildung und Erziehung übertragen werden. Der Erzieherberuf kann daher durchaus als wichtige Menschenrechtsprofession begriffen werden.
Erzieherinnen und Erzieher sind Anwälte der Interessen und Bedürfnisse der Kinder. Die volle Verwirklichung des Rechts auf Bildung setzt voraus, dass Kinder bereits von Anfang an bei ihren Lernprozessen unterstützt und in ihrer Entwicklung gefördert werden. Wichtig hierbei sind Formen der kontinuierlichen Beobachtung und Dokumentation, regelmäßige Beratungs- und Entwicklungsgespräche mit den Eltern sowie die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Netzwerkpartnern, damit im Bedarfsfall weitergehende Schutz- oder Unterstützungsmaßnahmen vermittelt werden können. Eigene Präventions- und Schutzkonzepte sollten für alle Kindertageseinrichtungen selbstverständliche Pflicht sein.
Wer in Krippe oder Kindertagesstätte arbeitet, erfüllt einen ganzheitlichen Förderauftrag, wie der Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen von 2004 deutlich macht: „Angesprochen wird damit insbesondere die Entwicklung des Sozialverhaltens sowie der Fähigkeit und der Bereitschaft zur entwicklungsangemessenen Übernahme von Verantwortung. Dies sind auch gleichzeitig anerkannte Aspekte der Persönlichkeitsbildung. Der Bildungsprozess des Kindes umfasst alle Aspekte seiner Persönlichkeit. Bildung und Erziehung werden als ein einheitliches, zeitlich sich erstreckendes Geschehen im sozialen Kontext betrachtet.“ Der Prozess der Weltaneignung ergibt sich vorrangig aus sozialen Situationen, erfolgt in Tageseinrichtungen für Kinder also in erster Linie alltagsbasiert.
Aus dem Alltagsgeschehen einer Kindertageseinrichtung heraus ergeben sich immer wieder wirksame Beteiligungsmöglichkeiten; solche realen Erfahrungen können für die Werterziehung äußerst fruchtbar sein, wie Volker Elsenbast verdeutlicht: Es können beispielsweise „Situationen entstehen, in denen Kinder, Erzieherinnen oder beide gerechte Entscheidungen herbeiführen wollen, zum Beispiel beim Teilen: Ob es um die Aufteilung von Spielmaterial geht oder um das Austeilen bei Mahlzeiten: Soll jede/jeder das Gleiche bekommen? Oder das, was er/sie will? Oder das, was Kinder so im Durchschnitt brauchen […]?“ (Elsenbast 2006, S. 17 [„Teilen“ im Original hervorgehoben).
Bildung in Kindertageseinrichtungen beginnt entscheidend damit, dass Erzieherinnen und Erzieher Erfahrungen ermöglichen, durch welche die Kinder lernen, wachsen und sich erproben können. Nicht zuletzt kann die Elementarbildung Erfahrungsräume erschließen, die in der Familie oder im sozialen Umfeld heute vielfach fehlen. Dies können zum Beispiel soziale Erfahrungen für Kinder sein, die ohne Geschwister aufwachsen; Erfahrungen im Wald oder auf der Wiese für Kinder, die sonst keinen direkten Kontakt mit der Natur mehr erleben; Erfahrungen mit Büchern für Kinder, die in der Familie vor allem mit Internet oder Fernsehen aufwachsen; Erfahrungen im handwerklich-künstlerisch-praktischen Bereich für Kinder, die schon früh mit Smartphone und Tablet aufwachsen; Erfahrungen mit Ritualen, religiösen Feiern oder Sinnfragen für Kinder, die in der Familie keine Begegnung mit gelebter Religion mehr erleben; Erfahrungen beim forschenden Experimentieren, kreativen Ausprobieren und Entdecken für Kinder, die sonst nur vorgeformtes Spielzeug kennen …
Die Fachschule für Sozialpädagogik etwa, an welcher der Verfasser als Schulleiter tätig ist, greift diese Gedanken im Wahlpflichtbereich auf, der in der Stundentafel für die Erzieherausbildung in Baden-Württemberg verankert ist. Der Wahlpflichtunterricht wird seit einigen Jahren bewusst klassen- und schulartübergreifend unterrichtet; hier lernen angehende Kinderpflegerinnen mit künftigen Erziehern und umgekehrt. Der Wahlpflichtunterricht wurde zu Profilbereichen weiterentwickelt, die zum größten Teil in Kooperation mit externen Partnern ausgestaltet werden. Auf diese Weise soll den Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden, bereits in der Ausbildung Schwerpunkte zu setzen und eigene Interessen zu vertiefen, damit sie den ihnen anvertrauten Kindern später genau solche Erfahrungen vermitteln können.[1] Durch Zusatzleistungen oder Praxisprüfungen können die Schüler Zertifikate erwerben, welche die erweiterten Kompetenzen für spätere Bewerbungen dokumentieren.
Wenn es im Kindergarten gelingt, den Erfahrungsraum der Kinder gezielt zu erweitern und ihnen zu helfen, sich Alternativen, neue Interessen oder Horizonte zu erschließen, kann dies eine Bereicherung für das gesamte weitere Leben sein.
Der Verfasser (PD, Dr. theol., Dipl.-Päd., Zweite Staatsprüfung für das Lehramt der Sek.-Stufe II/I), Dozent für Pädagogik und Gemeinschaftskunde, leitet eine Fachschule für Sozialpädagogik. Er lehrt als Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Verbands der Pädagogiklehrer und Pädagogiklehrerinnen. Daneben ist er als Lehrbeauftragter für philosophisch-theologische Grundlegung der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München sowie für Bildungskonzepte und Didaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg tätig.
Literatur
Ariès, Philippe (2003): Geschichte der Kindheit, München.
Brinkmann, Wilhelm: Rechte des Kindes? (1995), in: Böhm, Winfried (Hg.): Erziehung und Menschenrechte, Würzburg, S. 83 – 93.
Elsenbast, Volker (2006): Beziehungen gerecht gestalten. In: Scheilke, Christoph T.; Schweitzer, Friedrich (Hg.): Das ist aber ungerecht! Mit Kindern Gerechtigkeit erfahren, Gütersloh/Lahr, S. 15 – 28.
Lohrenscheit, Claudia (2006): Einführung – Kinderrechte sind Menschenrechte, in: Deutsches
Institut für Menschenrechte (Hg.): Die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen stärken: Dokumentation eines Fachgesprächs über die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, o. O. (Berlin), S. 6 – 9.