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Zitiervorschlag

In: Erich Stutzer (Hrsg.): Praxisratgeber Kindertagesbetreuung. Merching: Forum-Verlag Herkert, Aktualisierungslieferung Juni 2006, Teil 5.5 (eine überarbeitete und ergänzte Fassung dieses Artikels erschien 2020 als Buch unter dem Titel "Verhaltensauffällige Kinder in Kindergarten und Kita. Ursachen, Prävention, Erziehung" bei Books on Demand in Norderstedt - erhältlich beim Verlag, bei Amazon und im Buchhandel)

Verhaltensauffällige Kinder

Martin R. Textor

 

Nach verschiedenen Untersuchungen werden heute zwischen 20 und 25% aller Kindergartenkinder als verhaltensauffällig oder psychisch gestört eingestuft; mindestens 5% sind behandlungsbedürftig. Die Symptome können im körperlichen (z.B. Essstörungen, Nägelkauen), im psychischen (Ängstlichkeit, Depressivität, Konzentrationsstörungen usw.) oder im sozialen (Aggressivität, Schüchternheit) Bereich liegen. Der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern ist inzwischen zur größten beruflichen Belastung von Erzieher/innen geworden.

Generell wird zwischen externalisierenden und internalisierenden Formen von Verhaltensauffälligkeiten unterschieden. Zu den erstgenannten gehören hyperkinetische Verhaltensweisen (wie Zappeligkeit, hohe Ablenkbarkeit, Impulsivität) und aggressives Verhalten (wie Schlagen, Treten von Personen, Beschädigen von Gegenständen). Zu den internalisierenden Formen werden Trennungsängste, Kontaktvermeidung, Überängstlichkeit und ängstlich-depressives Verhalten gerechnet.

Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten

Der Mensch ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen. So muss man bei der Suche nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten von einem der Wirklichkeit entsprechenden ganzheitlichen Menschbild ausgehen, also somatische, emotionale und psychische Faktoren berücksichtigen. Der Mensch lebt aber nicht isoliert, sondern in verschiedenen Systemen. Deshalb muss eine ganzheitliche Betrachtung auch Einflüsse von Familie, Kindertageseinrichtung, Peers usw. berücksichtigen. Sucht man nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten, ist somit grundsätzlich von ihrer Multikausalität auszugehen.

Ursachen im Kind

In vielen Fällen spielen Faktoren wie Erbanlagen, Dispositionen, Entwicklungsverzögerungen, (unerkannte) Behinderungen, Geburtsschäden, langwierige Krankheiten, Fehlernährung, Mangel an Antriebskraft, Hyperaktivität, Reizbarkeit, Überempfindlichkeit und geringe Frustrationstoleranz eine Rolle. Ferner können Kinder aufgrund von Traumata unter großen Ängsten leiden, sich wegen negativer Erfahrungen abkapseln, unter Wahrnehmungsstörungen leiden oder aufgrund fehlender Kontakte zu Gleichaltrigen zu wenig soziale Fertigkeiten besitzen. Bei einer abrupt beginnenden Fremdbetreuung können sie auch für relativ lange Zeit Trennungsängste verspüren.

Viele Kinder erlernen auffällige Verhaltensweisen in ihren Familien, indem sie andere Mitglieder unbewusst nachahmen. Häufig versuchen sie auch, durch derartige Reaktionen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ihnen dies durch ein sozial akzeptiertes Verhalten nicht gelingt, wenn sie also z.B. vernachlässigt werden oder aufgrund von extrem hohen Erwartungen nur selten ein Lob erhalten. Die Reaktionen der anderen Familienmitglieder, egal ob es sich dabei um Strafen, Verärgerung, Angst oder Sorge handelt, werden dann als Selbstbestätigung und Zeichen von Anteilnahme und Interesse gedeutet. Sie wirken also als positive Verstärker, erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Verhaltensauffälligkeiten und führen zu ihrer Verfestigung. Schließlich verhalten sich die Kinder auch außerhalb der Familie auffällig - insbesondere wenn dort ihr Verhalten ebenfalls positiv verstärkt wird, sie sich also z.B. aufgrund ihrer Aggressivität eine führende Position in der Gruppe erkämpfen können und von den anderen Kindern bewundert werden.

Ursachen in der Familie

Häufig sind in Familien, in denen Kinder verhaltensauffällig werden, auch andere Personen mehr oder minder stark gestört (z.B. depressiv, gewalttätig, suchtkrank). Ferner werden oft Kommunikationsstörungen und ungewöhnliche Interaktionsmuster festgestellt. Unter diesen Umständen lernen Kinder nicht, sich klar und deutlich auszudrücken, Gedanken und Gefühle auf angemessene Weise zu äußern, richtig zuzuhören oder den Sinn unverstandener Botschaften mit Hilfe von Rückfragen zu ermitteln. Häufig erleben sie, dass ihre Mitteilungen ignoriert oder disqualifiziert werden.

Die Entwicklung von Kindern wird vor allem dann geschädigt, wenn die Eltern ihrer erzieherischen Funktion nicht nachkommen. So erfüllen manche Männer ihre väterlichen Pflichten nicht, weil sie zu sehr durch den Beruf beansprucht werden oder Pflege und Erziehung entsprechend dem traditionellen Geschlechtsrollenleitbild ihren Partnerinnen als Aufgabe zuweisen. Da eine zunehmende Zahl von Frauen vollerwerbstätig bleibt und weil ganztägige Betreuungsangebote insbesondere für unter Dreijährige noch vielerorts "Mangelware" sind, werden ihre Kinder oft von verschiedenen Personen versorgt, was z.B. zu unsicheren Bindungen führen kann. Geben Frauen hingegen nach der Geburt eines Kindes ihren Beruf auf, so machen einige Mütter das Kind unbewusst für den Verlust an Kontakten und Befriedigungen verantwortlich und lehnen es ab. Manchmal fehlen Müttern auch die für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder notwendigen Fertigkeiten, da sie zuvor keine Erfahrungen im Umgang mit kleinen Kindern sammeln konnten. So mögen sie ihre Kinder vorzeitig entwöhnen, zu früh mit den Anforderungen der Reinlichkeitserziehung konfrontieren, dabei zu streng und ungeduldig vorgehen, den Willen der Kinder in der Trotzphase zu brechen versuchen oder ihnen dann keine Grenzen setzen. Andere Mütter sind überbehütend, bringen ihre Kinder nicht mit anderen Kindern in Kontakt und gewöhnen sie zu wenig an die Betreuung durch Dritte. Dann kann der Eintritt in den Kindergarten für die Kinder zur Krise werden.

Häufig kommt es auch zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten, wenn die Eltern einen der folgenden Erziehungsstile praktizieren:

  • Vernachlässigung,
  • Verwöhnung,
  • Überbehütung,
  • autoritäre Erziehung,
  • antiautoritäre Erziehung oder
  • inkonsistente (wechselhafte) Erziehung.

In all diesen Fällen werden den Kindern keine optimalen Entwicklungsbedingungen geboten. Sie fühlen sich abgelehnt und ungeliebt (bei Vernachlässigung), entwickeln keine Leistungsbereitschaft und kein Selbstvertrauen (bei Verwöhnung), bleiben von ihren Eltern abhängig (bei Überbehütung), werden in ihrer Individuation behindert (autoritäre Erziehung), lernen keine Selbstkontrolle (antiautoritäre Erziehung) oder sind orientierungslos (inkonsistente Erziehung).

Manchmal können sich die Eltern nicht auf Regeln für das Verhalten ihrer Kinder einigen. So verinnerlichen diese keine Verhaltensmaßstäbe (und sind deshalb in der Kindertageseinrichtung zunächst nicht in der Lage, sich Regeln anzupassen). Ferner wirkt sich negativ aus, wenn Regeln unklar sind, dem Alter der Kinder nicht angemessen sind oder von den Eltern nicht durchgesetzt werden.

Oft leiden Kinder unter den Ehekonflikten ihrer Eltern. Kleinkinder glauben häufig, dass sie an diesen Problemen schuld seien. Oder sie versuchen unbewusst, die Eltern durch auffälliges Verhalten von ihren Konflikten abzulenken: Müssen diese sich auf ein aggressives, trotzendes oder unter psychosomatischen Symptomen leidendes Kind konzentrieren, können sie nicht miteinander streiten oder einander "anschweigen". Hier gewinnen die Kinder eine große Macht, da sie im Mittelpunkt des Familienlebens stehen, Schuldgefühle und Ängste hervorrufen und auf diese Weise die Eltern zu bestimmten Reaktionen zwingen können. Zudem erfahren sie einen sekundären Krankheitsgewinn, da sich die Eltern immer mehr um sie bemühen. Bei häufigen Ehekonflikten und zunehmender Entfremdung wenden sich einige Eltern auch unbewusst an ihre Kinder zwecks Befriedigung ihrer emotionalen Bedürfnisse. In einzelnen Fällen werden Kinder sogar für die Familienprobleme verantwortlich gemacht (z.B. wenn wegen ihnen geheiratet werden "musste") und zum Sündenbock erklärt. Direkt nach einer Trennung ihrer Eltern mögen Kinder auch ihre Verzweiflung und Trauer ausagieren oder ängstlich-depressiv werden.

Sind Kinder den beschriebenen Einflüssen ausgesetzt, werden sie also oft psychisch krank und verhaltensauffällig. Ihre Symptome sind dann verständliche und sinnvolle Reaktionen auf eine gestörte Umwelt. Sie sind eine Funktion zwischenmenschlicher Beziehungen und können nur im Kontext des Familienlebens verstanden werden.

Ursachen in der Kindertageseinrichtung

Aus verständlichen Gründen wird von Erzieher/innen oft ignoriert, dass die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten auch in der Kindertageseinrichtung liegen können. Beispielsweise sind in manchen Gruppen die Regeln unklar oder bleibt deren Missachtung ohne Konsequenzen. Die Kinder fühlen sich verunsichert und reagieren mit "schwierigen" Verhaltensweisen, um die Grenzen zu testen.

Manchmal werden Verhaltensauffälligkeiten von den Erzieher/innen verstärkt, indem sie mit Aufmerksamkeit und Zuwendung "belohnt" werden. Diese Funktion können natürlich auch die anderen Kinder übernehmen, wenn sie z.B. auf Clownerie mit Gelächter reagieren, auf Aggressivität mit Nachgeben oder auf Gewalttätigkeit mit Angst. Auf solche Weise wird die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von auffälligen Verhaltensweisen erhöht, entsteht ein "Teufelskreis".

Aber auch wenn "Problemkinder" den Eindruck gewinnen, dass sie von den anderen Kindern abgelehnt werden oder dass die Fachkräfte ihnen gegenüber Antipathie empfinden, kann dies zu mehr Auffälligkeiten führen. Dasselbe gilt für Verhaltenserwartungen ("Michael wird immer aggressiver"), die schnell zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden können. Wird ein Kind z.B. als sehr aggressiv wahrgenommen, besteht auch die Gefahr, dass es entsprechend "etikettiert" wird: Es wird bald nur noch seine Gewalttätigkeit gesehen, während seine "guten Seiten" zunehmend ignoriert werden. Solche Zuschreibungen fördern Verhaltensauffälligkeiten, da sich das Kind für seine positiven Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Interessen nicht mehr bestätigt erlebt.

Problematisch sind ferner Vorurteile gegenüber einem Kind und/oder seiner Familie, beispielsweise weil die Eltern aus unteren sozialen Schichten kommen, zugewandert sind, in Scheidung leben oder alleinerziehend sind. Negativ bewertet werden manchmal auch Eltern, die z.B. suchtkrank, depressiv oder arbeitslos sind. Die daraus resultierenden Voreinstellungen gegenüber dem jeweiligen Kind können zu den bereits erwähnten Verhaltenserwartungen ("Ein Kind aus solchen Familienverhältnissen ist bestimmt auffällig!") und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen.

Sogar die Art des pädagogischen Angebots kann zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten beitragen. Fühlen sich Kinder z.B. gelangweilt und ungenügend gefordert - was oft bei den ältesten Kindern in der Gruppe der Fall ist (insbesondere bei weiter Altersmischung) -, fangen sie schnell an, herumzutoben, aggressiv zu werden oder sich "abzukapseln". Ein wenig abwechslungsreicher Tagesablauf, fortwährend wiederkehrende Routinen und unzureichende Differenzierung können ebenfalls zur Unterforderung beitragen, sodass sich Kinder ihre Anforderungen selbst suchen - z.B. durch provokantes Verhalten. Wird der Tagesablauf von gezielten Beschäftigungen bestimmt, an denen alle Kinder teilnehmen müssen, selbst wenn sie weder innerlich noch äußerlich bereit sind oder nicht über die benötigten Kompetenzen und ausreichend Durchhaltevermögen verfügen, wird oft auffälliges Verhalten stimuliert. Ferner wird häufig dem natürlichen Drang der Kinder nach viel Bewegung zu wenig Raum gegeben. Genauso gut benötigen sie aber auch Phasen, wo sie zur Ruhe kommen und sich entspannen können.

Zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten können schließlich die Rahmenbedingungen beitragen: In zu großen Gruppen "gehen" z.B. schüchterne Kinder "unter": Sie ziehen sich in ihr "Schneckenhaus" zurück - und dies fällt Erzieher/innen bei den vielen Kindern in ihrer Gruppe oftmals erst spät auf. Andere Kinder, insbesondere wenn sie in ihren Familien im Mittelpunkt stehen, können in einer großen Gruppe nur dann die gewohnte Aufmerksamkeit erlangen, wenn sie aggressiv sind, herumtoben oder anderweitig ausagieren. Bei großen - und insbesondere bei offenen Gruppen - fällt es manchen "neuen" Kindern auch schwer, eine Bezugsperson zu finden. Das Fehlen sicherer Bindungen erschwert aber eine "normale" Entwicklung in der Kindertageseinrichtung. In großen Gruppen sind die Erzieher/innen eher überlastet und gestresst (bis hin zum "Burn-out-Syndrom"), sodass sie leicht überreizt und unangemessen reagieren.

Andere Rahmenbedingungen, die sich negativ auswirken können, sind zu kleine oder zu wenig Räume, fehlendes oder sehr kleines Außengelände oder häufig wechselndes oder nicht vorhandenes Personal. In sozialen Brennpunkten treten oft Kinder mit besonderen Bedürfnissen geballt auf und überfordern die Fachkräfte. In manchen Einrichtungen gibt es chronische Konflikte im Team bzw. mit dem Träger. Häufig fühlen sich Erzieher/innen zu wenig von ihren Kolleg/innen oder vom Träger unterstützt (z.B. wenn es keine Besprechung von Problemfällen im Team gibt, wenn Fortbildungen oder Supervision verweigert werden). Viele Fachkräfte sind auch unzureichend qualifiziert für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern (und ihren Eltern), beklagen z.B. fehlende Kenntnisse aus dem Bereich der Heilpädagogik und der Gesprächsführung. Schließlich können sie unter starken familialen Belastungen leiden, z.B. wenn sie neben ihrer Vollerwerbstätigkeit noch einen großen Haushalt mit mehreren Kindern oder einen pflegebedürftigen Elternteil versorgen müssen, wenn sie in einer Trennungssituation leben oder alleinerziehend sind.

Ursachen in den Peer-Beziehungen

Manche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern liegen in der Beziehung zu den anderen Kindern. So ist es für Kinder sehr belastend, wenn sie keine Freunde haben oder in der Gruppe keine Beachtung finden. Dann fühlen sie sich einsam, ziehen sich immer mehr zurück und entwickeln ein negatives Selbstbild. In anderen Fällen versuchen sie, durch auffällige Verhaltensweisen (Gewalt, Clownerie usw.) die Aufmerksamkeit der Gleichaltrigen auf sich zu ziehen und ihre Position in der Gruppe zu verbessern.

Manche Kinder werden aufgrund bestimmter Charakteristika (z.B. nicht vorhandene Sprachkenntnisse, "abstoßende" Körpermerkmale, mangelnde Hygiene, Unbeholfenheit, Nichtteilnahme an religiösen Festen und Aktivitäten) von den anderen Kindern ignoriert oder diskriminiert bzw. gehänselt und verspottet. Anderen Kindern werden Rollen wie die des Gruppenclowns, des Sündenbocks, der "Schlafmütze" oder der "Heulsuse" zugewiesen. In all diesen Fällen steigt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten.

Früherkennung

Werden Erzieher/innen mit Verhaltensauffälligkeiten konfrontiert, sollten sie das jeweilige Kind zunächst genau und in verschiedenen Situationen beobachten (Gesamt-/ Kleingruppe, bei unterschiedlichen Aktivitäten usw.). Es ist sinnvoll, sich dabei nicht auf das problematische Verhalten zu konzentrieren, sondern sich ein umfassendes Bild von dem Kind, seinem Entwicklungsstand, seinen Kompetenzen und seinen Potentialen zu machen. Ferner sollten die Erzieher/innen ihr eigenes Verhalten gegenüber dem Kind (vor, während und nach dem auffälligen Verhalten) und den Kontext reflektieren (z.B. die Situationen, in denen Verhaltensauffälligkeiten auftreten; Interaktionen der Kinder vor, während und nach dem auffälligen Verhalten; Reaktionen der anderen Kinder). Es ist wichtig, dabei vor allem auf wiederkehrende Abläufe und Regelmäßigkeiten zu achten.

Beobachtungen sind immer subjektiv, werden also z.B. durch das eigene Menschenbild, Vorerfahrungen mit dem jeweiligen Kind, dem allgemeinen Eindruck von ihm ("Halo-Effekt"), Einstellungen gegenüber seiner Familie, "Stereotypen" (vorgefasste Meinungen darüber, wie z.B. ein Kind der Kategorie "aggressiv" "beschaffen" ist) und eigene "Theorien" über die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beeinflusst. Eine gewisse Objektivität kann nur durch Mehrperspektivität erreicht werden, wenn also mehrere Personen ihre Beobachtungen desselben Kindes miteinander vergleichen. So sollte die jeweilige Erzieherin die eigenen Beobachtungen - möglichst in der Form von konkreten Ereignisbeschreibungen (genaue Darstellung der Situation) oder genauen Verlaufsprotokollen (zeitlicher Ablauf) - mit der zweiten Fachkraft in der Kindergruppe und/oder im Team besprechen. Hier wirkt sich die Öffnung der Gruppen positiv aus, da dann alle Kolleg/innen das jeweilige Kind kennen. Auf diese Weise kann die eigene Einschätzung der Entwicklung und des Verhalten des auffälligen Kindes überprüft werden.

Bestehen weiterhin Unsicherheiten, können Instrumente wie der Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK; Mayr 1998), die diagnostischen Einschätzskalen (DES; Barth 1998) oder die Beobachtungsbögen von Pfluger-Jakob (1994) hinzugezogen werden. Solche Instrumente sollten also erst relativ spät eingesetzt werden. Sie haben den Nachteil, dass sie zum einen eher defizitär orientiert sind (also auf Probleme fokussieren) und zum anderen den Blick rein auf das Kind lenken. Beides leistet einer individuumszentrierten Sichtweise Vorschub, die leicht zu einer Pathologisierung des Verhaltens und zu einer Stigmatisierung des Kindes führt. Aufgrund der weiter oben beschriebenen Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten in Familie, Kindertageseinrichtung und Peergroup ist jedoch prinzipiell eine systemische Perspektive der individuumszentrierten vorzuziehen. Hier wird das Kind in seinem Umfeld betrachtet, werden interaktive Prozesse, erzieherische Verhaltensweisen, pathogene Strukturen, Rahmenbedingungen und Einflüsse von außen berücksichtigt.

Ist sich die Erzieherin nach der systematischen Beobachtung des jeweiligen Kindes sicher, dass es verhaltensauffällig ist, sollte sie nach den Ursachen in den verschiedenen Systemen "Kind", "Familie", "Kindertageseinrichtung" und "Peergroup" suchen. Dabei ist auch nach dem Sinn bzw. Nutzen des jeweiligen Verhaltens für das Kind zu fragen ("Was erreicht es dadurch?" - Aufmerksamkeit, Zuwendung, Macht…). Auch hier geben wieder die eigenen Beobachtungen in Verbindungen mit denen der Kolleg/innen Aufschluss. Allerdings ist die Gefahr der Subjektivität noch größer: Zum einen werden leicht Ursachen "übersehen", die mit der Person und der pädagogischen Arbeit der jeweiligen Erzieherin zusammenhängen (niemand möchte schließlich an den Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes "schuld" sein!). Zum anderen hat man letztlich wenig Einblick in die Lebenswelten des Kindes außerhalb der Kindertageseinrichtung. So ist nur schwer einzuschätzen, ob dort (welche) Ursachen liegen, bzw. besteht die Gefahr, dass man z.B. Ursachen in die Familie "hineinprojiziert".

Deshalb sollte möglichst schon zu diesem Zeitpunkt der Kontakt zu den Eltern des jeweiligen Kindes gesucht werden, da sie die Lebenswelten des Kindes außerhalb der Kindertageseinrichtung am besten kennen. In einem längeren Gespräch kann abgeklärt werden, ob das Kind auch in der Familie verhaltensauffällig ist, was die Ursachen sein könnten und was eventuell die Eltern schon unternommen haben. In manchen Fällen stellt sich dann heraus, dass sich das Kind zu Hause "normal" verhält. Diese Aussage der Eltern sollte nur begrenzt hinterfragt werden; sie sollte vielmehr die Aufmerksamkeit zurück auf mögliche Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten in der Kindertageseinrichtung und Peergroup lenken.

Auch im Gespräch mit den Eltern ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass jede Person ihre subjektive Sichtweise hat und dass mehr Objektivität erreicht werden kann, wenn diese verschiedenen Perspektiven zusammengeführt werden. Auf diese Weise werden nicht nur Machtkämpfe verhindert ("Wer sieht das Problem 'richtig'?"), sondern auch eine bessere Analyse der Verhaltensauffälligkeiten und ihrer Ursachen sowie ein kooperatives Vorgehen aller Beteiligten bei der Einwirkung auf die kausalen Faktoren sicher gestellt.

In Einzelfällen ist auch eine ärztliche (kinderpsychiatrische) Abklärung nötig, insbesondere wenn somatische Ursachen vermutet werden. Schließlich besteht die Möglichkeit, mit einer Frühförder- oder Erziehungsberatungsstelle Kontakt aufzunehmen, den Fall anonym zu schildern oder das Kind dort von seinen Eltern vorstellen zu lassen. Die Mitarbeiter/innen dieser Einrichtungen sind (wie auch Ärzte) qualifiziert, Diagnosen zu erstellen.

Interventionsmöglichkeiten in der Gruppe

Erzieher/innen können in der Kindertageseinrichtung mit Verhaltensauffälligkeiten unterschiedlich umgehen: Sie können mit präventiven Aktivitäten oder mit erzieherischen und heilpädagogischen Maßnahmen reagieren.

Prävention

In einer Kindertagesstätte sollte alles Mögliche unternommen werden, um das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten zu verhindern oder zu reduzieren. Das bedeutet einerseits, Ursachen für auffällige Verhaltensweisen in der Einrichtung auszumerzen. Andererseits heißt dies - und das ist noch viel wichtiger -, generell positive Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Deshalb ist es immer wieder wichtig, zusammen mit der Zweitkraft und/oder im Team die eigene pädagogische Arbeit und deren Kontext kritisch zu reflektieren:

  • Haben wir zu Beginn des Kindergartenjahres eine gründliche Situations- und Bedarfsanalyse gemacht? Das heißt: "Kennen" wir wirklich jedes einzelne Kind in unserer Gruppe, seinen Entwicklungsstand, seine Bedürfnisse und Interessen? "Kennen" wir alle Eltern, ihre Erziehungsvorstellungen, eventuelle Belastungen und Familienprobleme?
  • Von welcher Qualität ist unsere pädagogische Arbeit? Wie kommt sie bei den Kindern an? Sprechen wir mit unseren Angeboten jedes einzelne Kind an? Machen wir zu viele gezielte Beschäftigungen, bei denen alle Kinder mitmachen müssen - ob sie wollen oder nicht? Berücksichtigen wir alle Entwicklungsbereiche ("allseitige" bzw. "ganzheitliche" Förderung des Kindes)? Beachten wir die Vorgaben der Bildungspläne?
  • In welchem Kontext findet unsere pädagogische Arbeit statt? Sind die Gruppenräume mit unnötigen Möbeln zugestellt? Sind die Regale überfüllt (insbesondere mit Spielsachen, die nicht mehr auf das Interesse der Kinder stoßen)? Nutzen wir Nebenräume und Gänge angemessen? Gibt es für das einzelne Kind Rückzugsbereiche? Ermöglicht das Außengelände abwechslungsreiche Aktivitäten? Oder sollten wir mehr öffentliche Räume (Wald, Park, Spielplatz) aufsuchen?
  • Welche Faktoren in unserer Einrichtungen könnten zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten beitragen? Entsprechen z.B. unsere pädagogischen Angebote nicht den Bedürfnissen und Interessen der ganz kleinen oder der älteren Kinder? Ignorieren wir einzelne Kinder (z.B. schüchterne Kinder, weil sie keine Probleme machen)? Widmen wir einigen Kindern zu viel Aufmerksamkeit (z.B. "Problemkindern")? Begegnen wir einzelnen Kindern mit Voreinstellungen oder gar Vorurteilen? Achten wir zu wenig auf das Einhalten von Regeln?

Wenn sich Erzieher/innen für solche Fragen Zeit nehmen und gelegentlich die Situation in ihrer Einrichtung und die eigene pädagogische Arbeit selbstkritisch analysieren, entdecken sie oft Faktoren, die es zu verbessern gilt. Gelingt es ihnen, positive Veränderungen einzuleiten, leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Prävention von Verhaltensauffälligkeiten:

  • Erzieher/innen, die abwechslungsreiche, vielseitige und interessante Angebote machen, zwischen denen gewählt werden kann und die somit Kinder mit einem unterschiedlichen Entwicklungsstand ansprechen ("Individualisierung"), werden weniger Probleme mit über- oder unterforderten, gelangweilten oder störenden Kindern haben. In dieser Hinsicht positiv wirken sich auch Projekte, lebensweltbezogene Aktivitäten (z.B. Ausflüge in die Natur, zu Geschäften und Betrieben) und situatives Arbeiten aus.
  • Erzieher/innen, die die Initiative, den Forschungsdrang und die Selbsttätigkeit der Kinder achten und sicherstellen, dass diese ungestört spielen und arbeiten können, werden die meiste Zeit ruhige und konzentrierte Kinder um sich herum haben.
  • Fachkräfte, die mit den Kindern eindeutige Regeln erarbeiten, mit ihnen auf das Aufrechterhalten der Regeln achten und bei Überschreitungen sofort Grenzen setzen, werden weniger Probleme mit undisziplinierten Kindern haben, seltener in Machtkämpfe verwickelt werden und weniger Energie für die Verhaltenskontrolle benötigen.
  • Erzieher/innen, die viel mit Kleingruppen arbeiten (z.B. bei offenen Gruppen), werden ängstliche, schüchterne und entwicklungsverzögerte Kinder besser integrieren und fördern können. In kleinräumigen Spielecken kommt es auch seltener zu Aggressionen; die Kinder rennen weniger herum und lenken einander ab; der Lärmpegel wird geringer.
  • Fachkräfte, die auf die Kinder eingehen, viel mit ihnen reden und ihnen Mitbestimmungsmöglichkeiten einräumen, verhindern, dass Kinder auffallen müssen, wollen sie gehört oder beachtet werden. Auch Kinderkonferenzen wirken präventiv…
  • Erzieher/innen, die den Kindern im Verlauf des Tages sowohl Gelegenheiten zum "Austoben" (Gruppenspiele im Außengelände, Sport, Tanz, Rhythmik, "Bewegungsbaustelle" usw.) als auch zur Ruhe (Musik hören, Vorlesen, Malen, Tonen, freiwillige Mittagsruhe, z.B. in einer Kuschelecke) bieten, verhindern ein "Ausagieren" aufgrund "überschüssiger Kräfte" oder Überreiztheit. Die Kinder erleben den Wechsel zwischen körperlicher Belastung und Entspannung; sie nehmen verschiedene körperliche Befindlichkeiten wahr und wie diese reguliert werden können.

Wichtig ist natürlich immer das Vorbild der Erzieherin. Beispielsweise sollte sie sich selbst so verhalten, wie sie es von den Kindern erwartet. Erleben diese mit, wie sie auf ein schüchternes Kind zugeht und in Aktivitäten einbezieht, ein trauriges Kind tröstet, ein sehr unruhiges Kind durch Körperkontakt zur Ruhe bringt oder einen Streit schlichtet, werden sie sich ähnliche prosoziale Verhaltensweisen aneignen. Außerdem fühlt sich das jeweilige Kind dank der Zuwendung der Erzieherin angenommen und verstanden. Zugleich entsteht eine positive Gruppenatmosphäre.

Zur Prävention trägt auch eine gute Elternarbeit bei, insbesondere der häufige Erfahrungsaustausch und die Abstimmung des erzieherischen Verhaltens im Rahmen einer Erziehungspartnerschaft. Je schneller sich zwischen Eltern und Erzieher/innen Vertrauen bildet, umso früher werden notwendige Gespräche geführt.

Erzieherische und heilpädagogische Maßnahmen

Trotz aller Bemühungen um Prävention wird es immer verhaltensauffällige Kinder in einer Gruppe geben. Hier sollten die Erzieher/innen zunächst prüfen, inwieweit diesen Kindern mit den Möglichkeiten der Kindertageseinrichtung geholfen werden kann. Je früher eingegriffen wird, umso leichter lassen sich in der Regel die Auffälligkeiten reduzieren.

In diesen Fällen ist es zunächst wichtig, eine enge Beziehung zu den Kindern aufzubauen. Das ist aber oft nicht einfach: Einerseits haben verhaltensauffällige Kinder häufig keine sichere Bindung zu ihren Eltern entwickelt, sodass es ihnen an "Urvertrauen" mangelt. Haben sie bereits viel Zurückweisung und Bestrafung erfahren, glauben sie manchmal, dass Erwachsene ihnen gegenüber feindselig eingestellt seien. Andererseits haben die Erzieher/innen bereits schlechte Vorerfahrungen mit diesen Kindern gemacht. So müssen sie sich zunächst von negativen Gefühlen gegenüber dem jeweiligen Kind distanzieren und (wieder) seine Stärken und liebenswerten Seiten sehen.

Vielfach ist es ein langwieriger Prozess, eine positive Beziehung zu einem verhaltensauffälligen Kind aufzubauen, der viel Geduld verlangt. Er umfasst kurze, aber häufige Interaktionen, in denen die Fachkraft auf das Kind zugeht, Interesse äußert, aktiv zuhört, empathisch reagiert, Wertschätzung zeigt usw. So sollte sie ihm jeden Tag etwas Zeit widmen, um mit ihn zu spielen oder zu sprechen. Auch sollte sie sich aufmerksam seine Geschichten und Ideen anhören, um seine innere Welt kennen zu lernen. Ferner ist es wichtig, ihm emotionale Zuwendung zukommen zu lassen, es z.B. gelegentlich auf den Schoß zu nehmen oder über seinen Kopf zu streichen. Außerdem kann sie den Eltern beim Abholen des Kindes etwas Positives über sein Verhalten in seiner Anwesenheit sagen.

Ferner sollten Erzieher/innen verhaltensauffälligen Kindern neue Erfahrungsräume erschließen, zum Beispiel:

  • Die Psychomotorik bietet Kindern über die Bewegung einen konkret erlebbaren Freiraum an, kanalisiert das Bewegungsbedürfnis und fördert die Verhaltensregulation (Einsatz von "Gaspedal und Bremse"). Sie können sich einerseits abreagieren und andererseits entspannen.
  • Im Spiel mit dem Kind können seine Bedürfnisse erkannt, Verhaltensalternativen angeboten und (soziale) Kompetenzen geschult werden. Hier kann es lernen, intensive Emotionen zu verarbeiten, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und Konflikte konstruktiv zu lösen.
  • Kunst setzt heilende Kräfte durch das schöpferische Gestalten frei. Hier können sich Identität, Gefühle und Probleme des Kindes äußern.
  • Musik beruhigt, steigert die Konzentrationsfähigkeit und verbessert die Stimmungslage. In der Verbindung mit Tanz und Bewegung werden soziale Kommunikation und Integration gefördert. Emotionen können mit Hilfe von Instrumenten ausgedrückt werden.
  • Autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Meditation, Malen von Mandalas usw. bauen Anspannung und Verkrampfung ab.

Bei verhaltensauffälligen Kindern ist es also wichtig, die Gesamtförderung - im motorischen, emotionalen, sozialen… Bereich - nicht aus den Augen zu verlieren.

Daneben kann auf verschiedene Weise gezielt versucht werden, das Auftreten auffälliger Verhaltensweisen zu reduzieren: Beispielsweise können Erzieher/innen besonders unruhige Kinder im Stuhlkreis so platzieren, dass sie nicht abgelenkt werden oder durch Berühren beruhigt werden können. Beobachten Erzieherinnen, dass einem aggressiven Verhalten Angst, Erregtheit und Unruhe vorausgehen, können sie in dieser Phase die Kinder ablenken, indem sie sie z.B. ansprechen, in den Arm nehmen oder in Aktivitäten einbeziehen. Streiten sich zwei Kinder häufig, können sie z.B. in unterschiedliche Spielecken, in andere Kleingruppen oder an verschiedene Tische (beim Malen, Mittagessen usw.) "gelenkt" werden. Sind Kinder sehr schüchtern und isoliert, können die Erzieher/innen zunächst mit ihnen spielen und dann weitere Kinder hinzuziehen.

Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, dass verhaltensauffällige Kinder andere - positivere - Erfahrungen mit Erwachsenen, anderen Kindern und sich selbst machen. Aufgrund dieses Feedbacks ändert sich mittelfristig ihr Verhalten, da sie zunehmend Verhaltensweisen zeigen, mit denen sie positive Reaktionen der anderen Menschen hervorrufen können.

Erzieher/innen sollten möglichst schon auf die ersten Anzeichen von Verhaltensauffälligkeiten reagieren, indem sie z.B. auf Regeln hinweisen ("Wir lösen unsere Konflikte, indem wir miteinander reden!"). Ansonsten sollte so schnell wie möglich eingegriffen werden, indem Grenzen gesetzt werden ("Hört sofort auf, euch zu schlagen!") und ein anderes Verhalten "vorgeschrieben" wird ("Martin, spiele bitte in der Bauecke weiter, und du, Michael, geh bitte in das Nebenzimmer zu Gabi!"). Letzteres ist eher Erfolg versprechend als ein Verbot, da hier eine Handlungsalternative eröffnet wird und Trotzreaktionen ausbleiben - insbesondere, wenn die Aufforderungen mit einem "bitte" verbunden sind. Reagieren die Kinder nicht, müssen Konsequenzen angedroht und die Drohungen auch wahr gemacht werden (ohne dabei selbst aggressiv zu werden: Vorbildfunktion!). Dabei sollte aber die Person des Kindes nicht abqualifiziert werden - es bleibt "okay". Wenn ein Kind extrem ausagiert (also z.B. andere Kinder schlägt, tritt oder beißt), ist es vorrangig, es zu isolieren und die anderen Kinder vor ihm zu schützen. Da Aufmerksamkeit ein störendes oder aggressives Verhalten verstärken kann, sollten sich die Erzieher/innen möglichst schnell wieder den anderen Kindern zuwenden - vor allem den "Opfern".

In der Erziehung verhaltensauffälliger Kinder haben sich verhaltenstherapeutische Techniken bewährt. Hier ist es wichtig, genau zu erfassen, was einer auffälligen Reaktion vorausging, in welchem Kontext (Situation) sie auftrat und was ihre Folgen waren. So kann auch die Funktion des auffälligen Verhaltens für das jeweilige Kind erfasst werden - was es dadurch erreicht. Dann wird festgelegt, welche der Verhaltensauffälligkeit vorausgehenden Faktoren, welche Folgen und welche Rahmenbedingungen beeinflusst werden können. Die Einwirkung erfolgt dann mit verhaltenstherapeutischen Techniken wie:

  • Ignorieren auffälliger Verhaltensweisen ("Verstärkerentzug"),
  • positive Verstärkung erwünschter Verhaltensweisen,
  • Lehren erwünschter Verhaltensweisen (z.B. durch Vorleben, Anleiten des Kindes, Würdigung schon erster Ansätze eines angemessenen Verhaltens, Zerlegung komplexer Verhaltenssequenzen in kleine, leicht ausführbare Schritte),
  • Auszeit (z.B. Herausnahme des Kindes aus dem Raum oder dessen Ausschluss aus der Gruppe mit Verbleib im Raum),
  • Entspannungsverfahren/ -übungen,
  • Training sozialer Fertigkeiten (z.B. Benutzung von Fotos, um die Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen zu verbessern; Rollenspiele mit einer Person, die als Vorbild für bestimmte Verhaltensweisen wirkt),
  • Verhaltensverträge (Mit älteren Kindern - z.B. im Hort - werden Verhaltensziele, "Strafen" und "Belohnungen" vereinbart. Sie können auch "Token" wie Spielmarken erhalten, wann immer sie die gewünschten Verhaltensweisen zeigen. Für eine bestimmte Anzahl von Token bekommen sie dann zuvor festgelegte Belohnungen),
  • Selbstinstruktionen (Verbesserung der Selbstkontrolle durch Anweisungen des Kindes an sich selbst).

Beim Einsatz der erstgenannten Technik mag das auffällige Verhalten zunächst häufiger oder intensiver auftreten (auf diese Weise versucht das Kind, "endlich" die gewohnte Aufmerksamkeit zu erreichen). Nach einer gewissen Zeit sollte aber eine Verbesserung eintreten.

Das Gespräch mit den Eltern

Erzieher/innen sollten die Eltern so früh wie möglich über das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten bei ihrem Kind informieren (s.o.). Vor dem ersten Gespräch sollten sich die Fachkräfte ihrer Gefühle bewusst werden und zu einer Grundhaltung gelangen, die es ihnen erlaubt, Verständnis sowohl für das Kind als auch für seine Eltern zu empfinden. Werden die Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten in der Familie vermutet, ist es auch wichtig, sich bewusst zu machen, dass man nicht das erzieherische Verhalten der Eltern oder deren Beziehung zum Kind verändern kann, sondern dass diese selber aktiv werden müssen.

Im ersten Termingespräch sollte unbedingt - möglichst zu Beginn - auf die positiven Seiten des Kindes eingegangen werden. Einerseits erfahren die Eltern auf diese Weise, dass das Kind in der Kindertageseinrichtung auch positiv wahrgenommen und "gemocht" wird. Andererseits wird das Kind nicht auf seine Auffälligkeiten "reduziert", sondern als Person mit Stärken und Schwächen gesehen (keine Defizitorientierung!).

Prinzipiell muss beachtet werden, dass sich viele Eltern "angegriffen" oder in ihrer erzieherischen Kompetenz "verletzt" fühlen, wenn sie mit den Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes konfrontiert werden. Dies gilt verstärkt in Fällen, in denen zu Hause keine Probleme auftreten oder wo das Problemverhalten in der Familie bestimmte Funktionen erfüllt (s.o.). Erzieher/innen sollten also möglichst behutsam vorgehen, die Auffälligkeiten als ihren subjektiven Eindruck schildern (Ich-Botschaften!) und möglichst beschreibend (nicht interpretierend) darstellen. Hilfreich können hier auch nicht wertende Beobachtungsprotokolle sein. So kann oft verhindert werden, dass die Eltern in eine Verteidigungshaltung gehen und Veränderungen abblocken.

Akzeptieren die Eltern das Problem, kann gemeinsam nach den Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten gesucht werden (s.o.). Dann kann geklärt werden, was die Eltern von der Kindertageseinrichtung erwarten - und umgekehrt. So werden die Ziele erfasst, die sich beide Seiten setzen. Anschließend kann besprochen werden, durch welche (erzieherischen, heilpädagogischen) Maßnahmen die (eigenen) Ziele erreicht werden könnten. Prinzipiell ist die Wahrscheinlichkeit von positiven Veränderungen beim Kind viel größer, wenn die Erzieher/innen in der Kindertageseinrichtung und die Eltern in der Familie dieselbe Strategie verfolgen, also dieselbe Haltung gegenüber dem Kind einnehmen, auf negative Verhaltensweisen auf ähnliche Weise reagieren und bestimmte Kompetenzen gezielt fördern.

Insbesondere wenn sich vor allem die Eltern ändern müssen, sollten sich die Erzieher/innen zurückhalten und die Eltern selbst nach Lösungsmöglichkeiten suchen lassen. So zeigen sie, dass sie ihnen zutrauen, ihre Probleme selbst zu lösen, was ermutigend und motivierend wirkt. Das schließt aber nicht aus, dass sie mit den Eltern z.B. darüber sprechen, welche Folgen Ehekonflikte oder eine Scheidung für ihr Kind haben (können), welche Erziehungsfehler in Zukunft vermieden werden sollten, welche Erziehungsstile und -techniken sich positiv auf die Entwicklung ihres Kindes auswirken würden oder welche Erziehungsziele und Verhaltenserwartungen altersgemäß sind.

Eltern sind am ehesten offen für eine Reflexion der Familienerziehung oder für Ratschläge, wenn sie sich akzeptiert und verstanden fühlen. Es kann aber durchaus sein, dass sie keine Veränderung ihrer Situation wünschen (z.B. wenn die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes eine Ehe stabilisierende Funktion haben). Auch mögen ihre erzieherischen Kompetenzen sehr unzulänglich sein. In solchen und ähnlichen Fällen stoßen Erzieher/innen oft an ihre Grenzen. So ist es ihnen z.B. nicht möglich, Eltern bei Erziehungsschwierigkeiten intensiver zu beraten.

Vermittlung von Hilfsangeboten psychosozialer Dienste

Sind die Verhaltensauffälligkeiten zu stark ausgeprägt, lassen Rahmenbedingungen wie Gruppengröße oder Zahl von Kindern mit besonderen Bedürfnissen eine intensive Förderung der betroffenen Kinder nicht zu, können die Erzieher/innen keine Verbesserungen im Verhalten der Kinder erreichen, liegen die Ursachen vor allem in der Familie und können von den Fachkräften nur unzureichend beeinflusst werden, haben die Eltern große Probleme oder mangelt es ihnen an erzieherischen Kompetenzen (usw.) - dann müssen den Kindern und ihren Eltern Hilfsangebote psychosozialer Dienste erschlossen werden (z.B. des Jugendamts, der Erziehungsberatungs- oder der Frühförderstelle). Allerdings können Erzieher/innen nur Empfehlungen aussprechen - ob Eltern entsprechend handeln, ist von diesen zu entscheiden ("Elternrechte", siehe Grundgesetz, z.B. Art. 6 Abs. 2 GG; elterliches Sorgerecht, z.B. § 1626 BGB). Aufgrund der Datenschutzbestimmungen dürfen die Fachkräfte auch nicht von sich aus Kontakt zu psychosozialen Diensten aufnehmen - sie benötigen das Einverständnis der Eltern (außer es liegen gravierende Verstöße gegen das Kindeswohl vor oder der Fall wird anonymisiert).

Akzeptieren Eltern, dass ihr Kind oder sie selbst Hilfe durch psychosoziale Dienste benötigen, sollten die Erzieher/innen in Frage kommende Angebote möglichst genau schildern. Auch können persönlich bekannte Ansprechpartner benannt und Fragen der Eltern hinsichtlich der Vorgehensweise beantwortet werden (telefonische Kontaktaufnahme, Terminvereinbarung, Erstgespräch, Anamnese usw.). Die Besprechung sollte möglichst mit einer konkreten Entscheidung der Eltern enden. Verweigern sie die Konsultation eines psychosozialen Dienstes, sollten ihnen die Konsequenzen verdeutlicht werden (z.B. Verfestigung der Verhaltensauffälligkeiten, Zurückstellung bei der Einschulung, eventuell Besuch einer Sondereinrichtung oder Förderschule).

Ansonsten sollte mit den Eltern vereinbart werden, dass sie die Erzieher/innen informieren, was seitens des psychosozialen Dienstes herausgefunden und unternommen wird. Die Fachkräfte können sich auch eine (schriftliche) Einwilligungserklärung geben lassen, die es ihnen ermöglicht, mit den Mitarbeiter/innen des Fachdienstes über den jeweiligen Fall zu sprechen. So können Beobachtungen und Gedanken ausgetauscht werden, können sich Erzieher/innen über Diagnose, Behandlungsverlauf und Beratungsinhalte informieren lassen. Ferner können Mitarbeiter/innen des psychosozialen Dienstes in die Kindertageseinrichtung kommen, um das jeweilige Kind in "Normalsituationen" und in der Gruppe zu beobachten, aber auch, um z.B. die Erzieherin-Kind-Beziehung zu erfassen. Dies erleichtert eine umfassende und realitätsgerechte Diagnose. Eventuell kann sogar die Behandlung des Kindes in der Kindertagesstätte durchgeführt werden. Dies ist oft der einzige Weg, wie z.B. Kindern berufstätiger Eltern oder von (erwerbstätigen) Alleinerziehenden geholfen werden kann, die nicht zum psychosozialen Dienst gebracht werden können. Dasselbe gilt für Fälle, wo Eltern wenig Problembewusstsein oder eine so große Schwellenangst haben, dass sie ihr Kind nicht bei einem Fachdienst vorstellen würden.

Außerdem ermöglicht eine einzelfallbezogene Kooperation die Einwirkung auf das Verhalten der Erzieherin, wenn dieses zu den Problemen des Kindes oder zu Konflikten mit seinen Eltern beiträgt. Schließlich können Fachkräfte Hinweise zum weiteren Umgang mit dem Kind und seiner Familie erhalten. Dies darf aber nicht bedeuten, dass sie als Co-Therapeut/innen eingesetzt werden.

Bei der Einzelförderung eines Kindes in der Kindertageseinrichtung sollte die zuständige Gruppenleiterin möglichst oft (zeitweise) anwesend sein. Auch ist es empfehlenswert, etwa alle zwei Wochen eine (kurze) Fallbesprechung mit den Mitarbeiter/innen des psychosozialen Dienstes anzusetzen, um über das Kind und seine Familie, den Behandlungsverlauf und mögliche ergänzende Maßnahmen im Rahmen der "normalen" Gruppenarbeit zu sprechen. Da bei der Gruppenleitung Informationen aus den Bereichen Kindertageseinrichtung, Familie und Einzelförderung zusammenlaufen, sollte sie eine koordinierende Funktion übernehmen.

Schlusswort

Last but not least sollten Erzieher/innen immer ihr eigenes Verhalten hinterfragen - inwieweit es zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten beiträgt, ob sie unangemessen auf bestimmte Kinder bzw. Eltern reagieren, ob ihre heilpädagogischen Kompetenzen ausreichen usw. Oft ist es notwendig, den eigenen Erziehungsstil zu verändern, sich neue Techniken anzueignen oder die Gesprächsführung mit Eltern zu verbessern. Fort- und Weiterbildung bzw. Supervision sind häufig angezeigt, aber auch das Abstimmen des erzieherischen Verhaltens mit den Kolleg/innen, die Einführung von Fallbesprechungen bei Teamsitzungen, das Lösen von Teamkonflikten, die Verbesserung der Rahmenbedingungen oder das Reduzieren außerdienstlicher Belastungen der Fachkräfte.

Literatur

Barth, K.: Die diagnostischen Einschätzskalen (DES) zur Beurteilung des Entwicklungsstandes und der Schulfähigkeit. München, Basel: Reinhardt 1998

Mayr, T.: Beobachtungsbogen für Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK). München: Staatsinstitut für Frühpädagogik 1998

Pfluger-Jacob, M.: Ein Kind fällt auf. Auditive Wahrnehmung und Sprache. Kindergarten heute 1994, 24 (9), S. 16-24

Textor, M.R. (Hrsg.): Verhaltensauffällige Kinder fördern. Praktische Hilfen für Kindergarten und Hort. Weinheim, Basel: Beltz 2004

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de