Manfred Berger: Der Kindergarten im Nationalsozialismus. Göttingen: Cuvillier Verlag 2019, 246 Seiten, EUR 29,80 - direkt bestellen durch Anklicken
Es gibt viel Literatur über den Nationalsozialismus, seine Ursprünge und seine Folgen sowie über die Bildung und Erziehung der deutschen Jugend zu dieser Zeit. Wenn es um die Kleinkindpädagogik und den Kindergarten geht, werden die Beiträge jedoch überschaubarer. Umso bedeutender ist Manfred Bergers ausführliche Darstellung des Kindergartens und seiner pädagogischen Arbeit während des nationalsozialistischen Regimes. Die Jahre von 1933 bis 1945 gehören zur Geschichte des Kindergartens und der frühen Kindheit dazu – so grausam sie auch waren – und sollten in erziehungswissenschaftlichen Untersuchungen nicht außer Acht gelassen werden.
Berger beginnt seinen Bericht mit einer kurzen historischen Verortung, da die NS-Zeit nicht völlig losgelöst von den Entwicklungen vor und nach dieser Periode betrachtet werden kann. Nachdem er auf einige Aspekte der nationalsozialistischen Vorschultheorie eingeht, stellt er die Organisation vor, die einen Großteil deutscher Kindertageseinrichtungen in ihre Trägerschaft übernahm: die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV), welche inhaltlich und strukturell Einfluss auf die pädagogische Aus- und Weiterbildung sowie die tägliche Arbeit der Kindergärtnerinnen ausübte. Im Anschluss stellt der Autor drei Fachzeitschriften für das damalige Kindergartenwesen vor und beschreibt, inwiefern diese ihre Inhalte den politischen Gegebenheiten anpassten.
Im nächsten Kapitel wird ausführlich auf die unterschiedlichen Arten von Kindergärten eingegangen. Dazu gehörten beispielsweise die Land- bzw. Dorfkindergärten, die Erntekindergärten, welche nur während der Erntezeit geöffnet waren, sowie die Hilfs- bzw. Kriegskindergärten, die errichtet wurden, da nun die Frauen die fehlende Arbeitskraft der Männer ersetzen und während der Arbeitszeit ihre Kinder in Betreuung geben mussten.
Anschließend beschreibt der Autor die wichtigsten Aspekte der frühkindlichen Bildung und Erziehung im Nationalsozialismus, wobei die „Erziehung zu körperlicher Leistungsfähigkeit und Ertüchtigung“ (S. 82) sowohl für den „größten Erzieher“ (Adolf Hitler) als auch für die NS-Theoretiker an erster Stelle stand. Die kognitive Entwicklung der Kinder spielte dementsprechend eine eher untergeordnete Rolle und fokussierte – wenn überhaupt – eher Fähigkeiten wie Gehorsam, Zuverlässigkeit, Anstand und Disziplin. „Folglich war es die Aufgabe der NS-Pädagogik, das Kind zu einem vortrefflichen Volksmitglied heranzuziehen“ (S.19), das in erster Linie dem Staat und insbesondere dem Führer dienen sollte.
Auch die Vermittlungsformen der Kindergartenpädagogik werden in dem Buch genau dargestellt und es wird gleichzeitig erläutert, mit welchen Inhalten diese gefüllt wurden. Bilder- und Kinderbücher, Spiel, Liedgesang und Feste sollten zwar kindegerecht und spielerisch eingesetzt werden, mussten aber dennoch inhaltlich dem NS-Erziehungsziel entsprechen, die Kinder zu volkstreuen Bürger/innen zu formen. Das Berufsbild inklusive der Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen war ebensovom Nationalsozialismus betroffen und wurde in den Jahren nach der Machtübernahme zusehends vereinheitlicht und mit neuen Lehrplänen versehen. So sollte sichergestellt werden, dass künftige und bereits ausgebildete Kindergärtnerinnen fest mit dem nationalsozialistischen System verbunden sind, wenn sie sich der Kindererziehung annehmen. In einem eigenen Kapitel wird außerdem herausgestellt, wie die Nationalsozialisten die Pädagogik Friedrich Fröbels neu interpretierten, an ihre Ideologie anpassten und so als Grundlage für ihre „völkischen“ Erziehungsziele missbrauchten.
Sehr interessant ist auch der Exkurs über die Situation des jüdischen Kindergartenwesens zwischen 1933 und 1945. Da es sich hierbei um eine bisher sehr vernachlässigte Thematik handelt, hätte dieses Kapitel gern noch umfangreicher sein können.
Der Autor stellt selbst fest, dass nicht das gesamte Kindergartenwesen vom Nationalsozialismus eingenommen werden konnte und es im Nachhinein schwierig ist, zu eruieren, wie viel von den nationalsozialistischen Bildungs- und Erziehungsvorstellungen tatsächlich in die Praxis gelangten und dort umgesetzt wurden, auch weil „viel wertvolles Material“ im Laufe der Zeit vernichtet“ (S. 180) wurde. Aber Manfred Berger vermittelt in seiner ausführlichen Abhandlung einen präzisen Eindruck der damaligen frühpädagogischen Entwicklungen vor dem politischen Hintergrund der NS-Zeit.
Das Buch ist – nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Text- und Bildquellen – sehr empfehlenswert für pädagogische Fachkräfte, Lehrende, Forschende, Studierende, Auszubildende sowie für alle Interessierten. Es liest sich trotz der vielen Zitate relativ leicht und beleuchtet das Zeitgeschehen auf spannende Art und Weise. Es regt einen „Prozess des Erinnerns und Deutens“ an und schafft somit ein „Geschichtsbewusstsein“, das vor allem in Zeiten, in denen rassistisches Denken und Handeln wieder stärker in den Vordergrund tritt, besonders wichtig ist.