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Zitiervorschlag

Kindergärten als wichtiger Teil der Kirchengemeinde

Martin R. Textor

 

Der überwiegende Teil der Kindergärten befindet sich in der Trägerschaft von Kirchengemeinden und kirchlichen Wohlfahrtsverbänden. Oft entsteht jedoch der Eindruck, als ob der Kindergarten nur als Anhängsel der jeweiligen Gemeinde betrachtet wird - als eine Einrichtung der Kinderbetreuung, die man eben hat. Kindergarten in kirchlicher Trägerschaft kann aber mehr sein...

Will die Gemeinde eine lebendige Gemeinschaft sein, muss sie versuchen, mehr junge Familien zu mobilisieren. Hier bietet der Kindergarten viele Ansatzpunkte. Voraussetzung ist, dass dieser eine aktive Elternarbeit betreibt, die über die Gestaltung von Vortragsabenden und Kindergartenfesten weit hinausgehen muss. Dazu gehört vor allem eine Öffnung des Kindergartens für die Eltern: Was spricht dagegen, dass an manchen Tagen ein bis maximal zwei Elternteile am Kindergartenalltag teilnehmen - nicht als "Hilfserzieher", sondern als Spielkameraden der anwesenden Kinder? Weshalb finden nicht mehr Gruppenelternabende statt, bei denen Eltern selbst spielen und so die Bedeutung des Spiels für die Entwicklung ihrer Kinder erkennen oder bei denen sie untereinander über Erziehungsfragen diskutieren? Wieso gibt es nicht mehr Kindergärten, die einen Elternstammtisch oder einen Gesprächskreis für Alleinerziehende gegründet haben? Weshalb kann nicht ein regelmäßiger Schwimmtreff für Eltern und Kinder organisiert oder der Kindergarten am Samstagvormittag für Väter und Kinder geöffnet werden, so dass die Mütter entlastet werden? Weshalb lässt sich im Kindergarten kein Ort finden, der sich mit einigen Sesseln und Stühlen zu einem Kommunikationszentrum für Eltern ausgestalten lässt, wo sich diese nach dem Bringen oder vor dem Abholen der Kinder zu einem Gespräch treffen können? Wieso werden Väter nicht aktiviert, wenn es um das Reparieren von Spielzeug, um Holzeinbauten oder die Verschönerung der Außenspielflächen geht? Wieso werden Eltern nicht auch einmal von der Kindergruppe an ihrem Arbeitsplatz besucht, wenn dies möglich und sinnvoll ist? Weshalb sollen nicht Eltern für die Kinder Feste und Vorführungen gestalten?

Bei einem Kindergarten mit aktiven Eltern werden sich bald Gelegenheiten ergehen, diese in die Gemeindearbeit einzubinden. Eine sinnvolle Möglichkeit ist, Eltern einen Familiengottesdienst vorbereiten und gestalten zu lassen. Aber auch Gottesdienste ausschließlich für die Kindergartenkinder sind denkbar. Soll das Geschwisterchen eines Kindergartenkindes getauft werden, könnte der Taufgottesdienst von Eltern und Erzieherinnen gestaltet werden. Viele Kinder werden sich vorher oder anschließend mit ihnen über die (eigene) Taufe unterhalten. All diese Veranstaltungen könnten dazu führen, dass mehr Kinder den Kindergottesdienst besuchen wollen - und ihre Eltern ebenfalls regelmäßig in die Kirche kommen.

Die angedeutete Entwicklung könnte noch dadurch verstärkt werden, dass Pfarrer und Vikare häufiger "ihren" Kindergarten aufsuchen. Weshalb können sie nicht von Zeit zu Zeit am Kindergartenalltag teilnehmen, mit Kindern spielen oder mit ihnen über religiöse Themen diskutieren? Warum können Pfarrer Kinder nicht direkt zum Kindergottesdienst einladen? Sind diese erst einmal motiviert, werden sie in der Regel ihre Eltern zu einem sonntäglichen Kirchgang überreden können. Weshalb können Pfarrer nicht manchmal zu den Bring- und Abholzeiten im Kindergarten anwesend sein und das Gespräch mit den Eltern suchen? Warum nehmen sie nicht gelegentlich an Elternabenden teil oder gestalten diese mit? Weshalb können sie nicht Diskussionsveranstaltungen zu religiösen Themen am Wochenende im Kindergarten (mit Kinderbetreuung) anbieten? Warum werden so selten Familienfreizeiten für Kindergartenfamilien organisiert?

All diese - und ähnliche - Aktivitäten könnten dazu führen, dass Kindergarten und Kirchengemeinde lebendiger werden und dass mehr junge Familien wieder Bindungen an die Kirche entwickeln. Wichtig scheint mir aber auch zu sein, den Kindergarten mit anderen sozialen Einrichtungen zu vernetzen. Kaum eine Institution ist so gut geeignet, verhaltensauffällige Kinder zu identifizieren und ihnen Hilfe in einem Alter zu vermitteln, wo sich Störungen noch nicht verfestigt haben und leicht zu beheben sind. Keine andere Einrichtung für Kinder erfährt so leicht von Familienproblemen, da Kleinkinder ihren Erzieherinnen gegenüber eher derartige Themen ansprechen und Eltern in sie mehr Vertrauen haben als z. B. in Lehrer. Und so könnten auch hilfsbedürftigen Eltern die notwendige Beratung und Unterstützung über den Kindergarten vermittelt werden. Viele Eltern scheuen sich nämlich, ihre Hilfsbedürftigkeit einzugestehen, oder haben Angst, eine soziale Einrichtung aufzusuchen (Schwellenangst). Häufig wissen sie auch nicht, an wen sie sich wenden können, da unser Sozialbereich sehr vielfältig und damit auch unübersichtlich ist. Was hindert Wohlfahrtsverbände daran, Erzieherinnen über die verschiedenen Hilfsangebote nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) usw. zu informieren, so dass diese im Einzelfall hilfsbedürftige Eltern auf geeignete Maßnahmen hinweisen können? Wieso werden Erzieherinnen nicht mehr in Methoden der Gesprächsführung mit Eltern fortgebildet, so dass sie mit diesen kurze Beratungsgespräche führen können? Weshalb liegen im Kindergarten nicht Broschüren und Informationsblätter über psychosoziale Dienstleistungen und Beratungsangebote aus? Weshalb hängen am schwarzen Brett keine relevanten Zeitungsausschnitte oder Listen mit den Anschriften und Telefonnummern von sozialen Einrichtungen? Wieso kommen in der Regel keine Erziehungsberater in den Kindergarten, um verhaltensauffällige Kinder zu beobachten oder Elternsprechstunden anzubieten?

Viele Chancen, die im Kindergartenbereich liegen, bleiben ungenutzt. Dies beeinträchtigt die Zukunft vieler unserer Kinder, Familien und Kirchengemeinden. Sollte diese Situation nicht verändert werden?

Anmerkung

Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel "Kindergarten - ungenützte Chancen" in: Deutsches Pfarrerblatt 1991, 91 (4), S. 132.

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de