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Zitiervorschlag

„Das Geschrei nervt!“

Ein Plädoyer für einen professionellen pädagogischen Umgang mit kindlichem Bindungsverhalten in der Kita

Iris Bohnert

 

Einleitung

In der kindlichen Entwicklung sind starke affektive Beziehungen eine Quelle der Freude und Sicherheit wohingegen Trennung oder Verlust häufiger Ärger oder Angst auslösen können (vgl. Grossmann 2003, S. 22). Wissen, über die Bindungstheorie und Bindungsverhalten nach beispielsweise John Bowlby (1978), über kindliches Bindungsverhalten sowie über unterschiedliche Eingewöhnungsmodelle gehören in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte für sowohl sozialpädagogische AssistentInnen als auch ErzieherInnen zu den vermittelten Basisinhalten (Albrecht et al. 2017; Altenthan & Hagemann 2014; Jaszus 2014).

Gleichwohl begegnet der Verfasserin dieses Artikels, in der Begleitung und Beobachtung von Praxissituationen, in Krippe und Kita wiederkehrend folgende Situation, die hier exemplarisch am Beispiel von Paul (2,2 Jahre) verdeutlicht werden soll:

Paul[1] besucht seit zehn Wochen die Kita. Die Eingewöhnung sollte aus Sicht der Fachkräfte mittlerweile abgeschlossen sein. Allerdings ist Paul ein reizempfindlicher kleiner Junge, der in der Eingewöhnungsphase wiederholt einige Tage krank war. In der Krippengruppe, die zwanzig Kinder und fünf Fachkräfte umfasst, herrschte in den letzten Wochen krankheits- und urlaubsbedingter Personalmangel. Die zuständige Fachkraft Marie ist zwischenzeitlich bereits damit beschäftigt, das nächste Kind einzugewöhnen und Paul „hängt“ immer noch jeden Tag an ihr. Er weint und schreit, wenn sie den Raum verlässt und lässt sich ausschließlich von Marie beruhigen. Pauls Mutter ist schwanger, in wenigen Wochen soll das Baby zur Welt kommen. Sie macht sich Sorgen, weil ihr Sohn in der Kita so viel weint.

Marie ist zunehmend überfordert und genervt. Ihre Kolleginnen sind ebenfalls gestresst. Insbesondere beim Wickeln, Essen und Schlafen schreit Paul, wenn Marie nicht da ist. Diese will in zwei Wochen in den Urlaub fahren. In der Dienstbesprechung geht es heute um Paul und eine Mitarbeiterin spricht aus, was die anderen denken: „Das Geschrei nervt!“.

Ich brauche Dich! Bindungsverhalten als menschliches Basis Verhaltenssystem

In diesem Beispiel wird deutlich, dass der zweijährige Paul durch den Übergang zunächst eine stressvolle und emotional anspruchsvolle Phase durchlebt, in der Bindungsverhalten eine zentrale Rolle spielt. Bindungsverhalten beschreibt alle kindlichen Verhaltensweisen, das auf das Herstellen von Nähe zur verfügbaren Bindungsperson ausgerichtet ist, wie z. B. Blickkontakt suchen, Rufen, Weinen, Schreien, Hinterherlaufen, Krabbeln, Festhalten, Anklammern.

Das Bindungssystem basiert nach Bowlby (1978) auf einem „artspezifisch angelegte(n) Bindungsbedürfnis beim Menschen, (das) beim Menschen erst durch soziales Lernen zu einer Bindungsbeziehung ausgebaut wird“ (Ahnert 2014, S. 407). Bindung bezieht sich auf mindestens eine ausgewählte erwachsene Person, die für den Säugling überlebenswichtig ist. Dies beruht allein auf der Tatsache, dass diese Person dem Kind Schutz gewährt. Die Funktionen der Bindungsbeziehung sind nach Lieselotte Ahnert (2014): Zuwendung, Stressreduktion, Sicherheit, Explorationsunterstützung (Begleitung beim Erkunden der Umgebung) und Assistenz (z. B. Füttern, Windeln wechseln). Säuglinge und Kleinkinder sind somit in ihrer Entwicklung zunächst in allen Bereichen ihres Lebens darauf angewiesen, dass sie sich an eine lebenserfahrene Person binden können. Entsprechend der sozialen Erfahrungen, die ein Kind zu Beginn seines Lebens mit seiner primären Bezugsperson sammelt, entwickelt es eine sichere oder in unterschiedlichen Ausprägungen unsichere Bindung an diese Person (Ahnert 2011, 2014; Grossmann und Grossmann 2008; Scheuerer-Englisch 2012; Spangler und Zimmermann 2015).

Die Diagnostik der Qualität der Bindungsbeziehung zwischen einem Kind und seinen Eltern gehört dabei nicht explizit zu den Aufgaben pädagogischer Fachkräfte einer Kita. Gleichwohl ist es erforderlich, dass sie die Funktionen des kindlichen Bindungsverhaltenssystems verstehen, damit sie angemessen darauf eingehen können.

Nur wenn ich mich sicher fühle, kann ich spielen. Bindungsverhalten und Explorationsverhalten

Paul kann noch nicht allein in der Krippe spielen, weil er sich noch nicht sicher genug fühlt. Er klammert sich an seine Bezugserzieherin und schreit, wenn diese den Raum verlässt. Das sollte für Fachkräfte ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass Paul noch mehr Zeit braucht, um sich in der Kita ausreichend zu orientieren. Er schreit nicht, weil er „nerven“ will, sondern weil er gestresst ist durch die neue und für ihn noch unübersichtliche Situation.

Nach Bowlby (1978) stehen Bindungs- und Explorationsverhalten, also die Bereitschaft, die Umgebung zu erkunden, in einem Spannungsverhältnis zueinander: Entweder zeigt das Kind Explorationsverhalten oder Bindungsverhalten. Ein Kind, das sich, wie Paul, gestresst oder unsicher fühlt, hört auf seine Umgebung zu erkunden und sucht Kontakt zu seiner verfügbaren Bindungsperson. Fühlt er sich wieder sicher, beginnt er erneut, seine Umgebung zu erkunden. Genau aus diesem Grund findet in den meisten Krippen mittlerweile eine geplante Eingewöhnungsphase statt und die Kinder lernen die neue Umgebung in Anwesenheit eines Elternteils kennen, das als sicherer Hafen fungiert. Stück für Stück baut die pädagogische Fachkraft in der neuen Situation Kontakt zum Kind auf und bietet sich auf diesem Weg als sekundäre Bindungsperson an  (Ahnert 2014; Dreyer 2017; Glüer 2017).

Erst wenn das Kind die Fachkraft als sekundäre Bindungsperson akzeptiert hat, wird es sich in deren Anwesenheit (und nach und nach auch in Anwesenheit der anderen Fachkräfte) sicher genug fühlen, um eigenständig in der Gruppe zu spielen.

Gib mir Halt! Die pädagogische Fachkraft als sekundäre Bindungsperson

Die sekundäre Bindungsperson ist nach Ahnert (2014) diejenige, die in Abwesenheit der primären Bindungsperson deren Rolle übernimmt. Wenn es dieser Person gelingt, ebenfalls feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Kind aufgrund dieser positiven Beziehungserfahrung auch diese Person als sicheren Hafen akzeptieren wird.

So kann es durchaus sein, dass ein Kind beim Abschied von der Mutter, die häufig die primäre Bindungsperson ist, weint und sich nicht trennen mag. Im nächsten Moment kann es sich, in Anwesenheit des Vaters oder der pädagogischen Fachkraft, jedoch wieder entspannt seinem Spiel zuwenden. Die Bindungsbeziehung zwischen Fachkraft und Kind ist dabei von einer anderen Qualität und Intensität als die zwischen Elternteil und Kind, weil die Fachkraft für mehrere Kinder gleichzeitig zuständig ist und hier den Überblick behalten muss (Altenthan & Hagemann 2014; Ahnert 2011).

Es gibt keinen allgemeingültigen Plan, wann und wie eine pädagogische Fachkraft zur sekundären Bindungsperson für ein Kleinkind werden kann, sondern jede Beziehungssituation zwischen Kind und Fachkraft muss individuell betrachtet werden.

Faktoren die eine Rolle spielen sind: die Vorerfahrungen, die individuelle Persönlichkeit, die Familiensituation und der Gesundheitszustand des Kindes, die Vorerfahrungen, die individuelle Persönlichkeit, der Gesundheitszustand und das Empathievermögen der Fachkraft, die Gruppengröße und -situation, die Räumlichkeiten, die Geräuschkulisse in der Einrichtung, die Jahreszeit, die Situation und Atmosphäre im Team, der Personalschlüssel, das Konzept der Einrichtung und weitere individuelle Aspekte.  

Insbesondere dem Personalschlüssel kommt eine zentrale Rolle zu. Nach Ahnert (2014) sollte eine Fachkraft nicht für mehr als vier Kinder unter zwei Jahren zuständig sein. Denn zum Aufbau einer Bindungsbeziehung ist es zum einen erforderlich, dass die Bindungsperson verfügbar ist und zum zweiten, dass sie ausreichend feinfühlig auf kindliche Bedürfnisse eingehen kann (Responsivität). Feinfühligkeit bedeutet nach Mary Ainsworth insbesondere, dass diese Person die Signale des Kindes wahrnehmen, richtig interpretieren und auf diese prompt sowie angemessen reagieren kann. Dies kann einer Fachkraft in der Regel nicht bei allen Kindern in demselben Umfang gelingen, wie einem Elternteil, weil sie parallel immer auch noch das Geschehen in der Gruppe im Blick haben muss. Gleichwohl ist es bedeutsam, dass sie kindliche Signale in entscheidenden Situationen wahrnimmt, richtig interpretiert und angemessen auf diese reagiert, damit das Kind Vertrauen zu ihr aufbauen kann. Das Ausmaß an Feinfühligkeit ist dabei unter anderem abhängig von den eigenen Erziehungserfahrungen der pädagogischen Fachkraft, sodass diesem Zusammenhang Selbstreflexion eine wichtige Rolle spielt. Nicht immer ist die vom Team ausgewählte Bezugsperson die richtige und es kann ratsam sein, den Präferenzen des Kindes bei der Wahl seiner sekundären Bezugsperson zu folgen (Ahnert 2011, 2014).

Zusammenfassung

Im Fall von Paul ist es bei näherer Betrachtung vielleicht nicht mehr das Kind, das „nervt“, sondern eher die enge Taktung der Eingewöhnungen und die fehlende Ruhe, um mit Paul und seiner Familie individuell zu prüfen, was das Kind braucht. Neben der Unruhe in der Gruppe durch Krankheit spielt für Pauls Stress möglicherweise auch die sich verändernde Familiensituation durch das zu erwartende Geschwisterkind eine Rolle. Zudem kann für reizempfindliche Kinder die Gruppengröße und die damit verbundene Geräuschkulisse und Unübersichtlichkeit einen zusätzlichen Stressfaktor bilden. Hier gilt es gemeinsam mit dem Kind und den Eltern nach Lösungen zu suchen, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes gerecht werden.

Marie bräuchte somit im Gruppengeschehen ausreichend Zeit und Raum, um die Signale des Kindes aufmerksam wahrnehmen zu können und gemeinsam mit ihrem Team professionell zu reflektieren. Aus dieser professionellen Perspektive könnte sie Pauls Signale dann als das Bindungsverhalten eines Kindes interpretieren, das die Nähe seiner Bezugsperson einfordert, weil es weiterhin Unterstützung bei der Stressreduktion benötigt.   

Je mehr feinfühlige Zuwendung Paul in der Betreuungssituation erhält, umso wahrscheinlicher wird er sich entspannen und umso eher wird er sich auf andere Personen und auf die neue Situation einlassen und beginnen zu explorieren.

Literaturverzeichnis

Ahnert, Lieselotte (2011): Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung, Bildung, Betreuung: öffentlich und privat. Unveränd. Nachdr. Heidelberg: Spektrum Akad. Verl.

Ahnert, Lieselotte (2014): Theorien in der Entwicklungspsychologie. Berlin: Springer VS (Lehrbuch).

Albrecht, Brit; Baum, Susanne; Behrend, Carola (2017): Professionelles Handeln im sozialpädagogischen Berufsfeld. 1. Auflage. Hg. v. Silvia Gartinger und Rolf Janssen. Berlin: Cornelsen (Erzieherinnen + Erzieher, / herausgegeben von: Silvia Gartinger, Rolf Janssen ; Band 1).

Altenthan, Sophia; Hagemann, Christine (Hg.) (2014): Pädagogik/Psychologie für die sozialpädagogische Erstausbildung. Kinderpflege/Sozialassistenz. 4. Aufl., 1. korrigierter Nachdr. Köln: Bildungsverl. EINS.

Bowlby, J. (1978). Attachment theory and its therapeutic implications. Adolescent psychiatry, 6, S. 5-33.

Dreyer, Rahel (2017): Eingewöhnung und Beziehungsaufbau in Krippe und Kita. Modelle und Rahmenbedingungen für einen gelungenen Start. Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Glüer, Michael (2017): Bindungs- und Beziehungsqualität in der KiTa. Grundlagen und Praxis. Hg. v. Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler. Stuttgart: Kohlhammer (Entwicklung und Bildung in der Fruhen Kindheit).

Grossmann, Karin; Grossmann, Klaus E. (2008): Bindungen. Das Gefüge psychischer Sicherheit. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.

Jaszus, Rainer (2014): Sozialpädagogische Lernfelder für Erzieherinnen und Erzieher. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Holland + Josenhans (HT Sozialpädagogik, 5846).

Scheuerer-Englisch, Hermann (2012): Wege zur Sicherheit. Bindungswissen in Diagnostik und Intervention. 2. Aufl. Gießen: Psychosozial-Verl. (Edition Psychosozial).

Spangler, Gottfried; Zimmermann, Peter (Hg.) (2015): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Siebte Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta (Fachbuch).

Angaben zur Autorin

Die Autorin ist Dipl. Psychologin, Paar- und Familientherapeutin und als Studienrätin seit 2014 in der Ausbildung von ErzieherInnen und sozialpädagogischen AsssitentInnen tätig.

[1] Alle Namen und Daten geändert.