Remida – das kreative Recycling Centro

Aus: Günsch, S. (2015): Das Remida-Heft. Berlin: Verlag das netz.; inklusive bisher unveröffentlichter Texte.

Remida – das kreative Recycling Centro

Susanne Günsch

Kurzbeschreibung

Remida steht für die Idee, dass Materialien, die in Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe abfallen, wunderbare Ressourcen für kreativ-künstlerisches Arbeiten in sozialen und Kultureinrichtungen sind. Firmen überlassen der Remida ihre sauberen, ungiftigen Reste. Kitas, Schulen und Kulturprojekte suchen sich anschließend die ungewöhnlichen Materialien für ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus.

Folienstreifen, Papierabschnitte, Stanzbleche, Papprollen, Musterbücher mit Bodenbelägen, Stoffen und Fliesen, Rohrabschnitte, Verpackungen, Tauenden, Flaschen und Verschlüsse sowie all die anderen skurrilen Dinge, die für den Container viel zu schade sind.

Die Dinge werden anregend präsentiert und fordern zum Neuentdecken und Zweckentfremden heraus. Die Remida weckt das Bewusstsein für Materialreichtum, bietet darüber hinaus Ausstellungen, Literatur, Workshops und Seminare und verbindet auf phantastische Weise Kreativität, ästhetische Bildung und Nachhaltigkeit.

Die Idee kommt aus Reggio Emilia, einer Stadt in Norditalien mit der weltweit innovativsten Kleinkindpädagogik. Sie wurde dort 1996 als Umwelt- und Recyclingprojekt von der Kommune und dem regionalen Ver- und Entsorgungsunternehmen entwickelt. Inzwischen gibt es ein internationales Netzwerk aus Remidas in Italien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Australien …

Der Name leitet sich ab aus Midas, ein König im alten Griechenland unter dessen Händen alles zu Gold wurde und „RE“ als Kürzel für Reggio/Emilia aber auch REcycling.

Die Remida in Hamburg ist die erste in Deutschland. Sie ist Projekt im Aktionsplan „Hamburg lernt Nachhaltigkeit“ und wurde 2010 mit dem Altonaer Nachhaltigkeitspreis, 2012 und 2015 mit dem Werkstatt N-Qualitätssiegel des deutschen Nachhaltigkeitsrats sowie 2018 mit dem ZeitzeicheN-Preis ausgezeichnet.

Ursprung in Reggio Emilia

Die „Remida – il Centro di Riciclaggio creativo“, so die vollständige Bezeichnung – ist eine Erfindung aus Reggio Emilia und ohne das gute Zusammenspiel der beteiligten Kräfte nicht vorstellbar. Wissen und Ressourcen miteinander zu teilen, ein Bewusstsein für die Umwelt zu entwickeln – dies war der Nährboden, um die Remida zu erfinden. Sie wurde 1996 als Umwelt- und Recyclingprojekt von der Kommune, von Reggio Children und dem regionalen Ver- und Entsorgungsunternehmen Enía, heute Iren, entwickelt. Namensgeber war Sergio Spaggiari.

Die Ziele der Remida sind Bildung, Kreativität und Nachhaltigkeit. Oder – wie die Reggianer sagen: 4R (Riduzione, Riuso, Raccolta, Riciclo) = P (Projekt).1 Im Jahre 2007 fand in Reggio eine Internationale Remida-Konferenz anlässlich des 10. Geburtstags der Remida statt. „Die Herausforderung des kreativen Recyclings“ war das Motto der Konferenz; es ging um Nachhaltigkeit und Kultur, um Bildung und Philosophie, um Wirtschaft und Soziales, um Spiel und Wissenschaft. In Vorträgen der Kooperationspartner wurden die verschiedenen Facetten des Mottos deutlich. Dabei wurde auch festgestellt: Ein Kita-Keller voller kostenloser Materialien ist keine Remida.

Vertreter der Kommune, von Enía und Reggio Children berichteten über ihre Erfahrungen mit der Remida. Umwelt und Recycling standen ebenso im Fokus wie kreative Ressourcenverwendung und die künstlerische Verbindung von Abfall und Ästhetik.

Das Podium der Konferenz war mit Plastikteilchen geschmückt – sonderbar, aber wunderschön. Später stellte sich heraus: Die lila-farbenen transparenten Teilchen kamen aus der Kunststoffproduktion. Es waren Tropfreste, die auf dem Boden fallen, wenn die Maschinen ausgestellt werden. Eines dieser Teilchen stand am Remida Day beim Juwelier im Schaufenster – zwischen Perlenketten und Goldschmuck.

Jedes Jahr im Mai findet der Remida Day in Reggio statt. In hundert Sprachen feiert die Stadt die Kultur des Abfalls mit Musik, Theater, Tanz und Literatur. Anfangs versammelte man sich im Stadtzentrum, um der Bevölkerung die Idee nahezubringen. Das Buch „Remida Day“, eine Dokumentation aus den ersten Jahren, zeigt die wunderbare Vielfalt der Aktionen: Balletttänzerinnen mit Bahnen aus Stoffresten, der 500 Meter lange Re-Chok-Cake2, die Schrott-Percussion, die Material-Totems …

Von Jahr zu Jahr ändert sich das Programm. Mal entsteht eine Schaufenstergalerie, mal gibt es einen Flohmarkt, Lesungen und große Gemeinschaftsaktionen finden statt. Mal werden die Materialien in einer Fabrikhalle zusammen mit einem Remida-Lab präsentiert, das Besucher zur Auseinandersetzung mit den Dingen einlädt, zum Beispiel zum Besticken von Folien mit farbigem Garn. Mal wird an verschiedenen Orten der Stadt mit Recycling-Materialien gestrickt – in den Farben Rot, Weiß und Grün – und alle gestrickten Teile vereinen sich am Ende zu einer riesigen Nationalflagge.

Darüber hinaus bieten die Remida Days Gelegenheiten zum Netzwerken. Dabei zeigt sich immer wieder, wie eng Kultur und Bildung verknüpft sind und wie die Kräfte des Gemeinwesens zusammenwirken.

Ästhetische Bildung

Die „Remida – das kreative Recycling Centro“ verkörpert ästhetische Bildung.  Die Präsentation der Abfallmaterialien ist anregend und zeigt die Schönheit der Dinge. Sie laden zum Neuentdecken und Zweckentfremden ein. In der Auseinandersetzung mit den Materialien werden alle Sinne angeregt. Und wer dem Drang des schnellen Zugriffs widerstehen kann, wird Erstaunliches erleben: Wenn der Anblick, also der Sinneseindruck durch das Sehen, mit den bisherigen persönlichen Erfahrungen abgeglichen wird. Habe ich eine Vermutung, wie sich das anfühlt? Kenne ich dieses Material und seine Beschaffenheit schon? Stoße ich auf Dinge, die ich noch nie gesehen habe? Kann ich hier gedankliche Hypothesen anstellen, wie sie sich wohl anfühlen mögen? Gleiches gilt für das Hören – unseren zweiten Fernsinn. Wie entsteht dieses Geräusch? Kann ich es mir vorstellen? Hier kommt die Fähigkeit zur Imagination ins Spiel. Sie hat ihren Platz zwischen dem Eindruck des Fernsinns und der unmittelbaren Überprüfung durch den Nahsinn, Tasten, Schmecken, Riechen – und auch den Gleichgewichtssinn. Auch dieses Erlebnis funktioniert in umgekehrter Richtung: Mit verbundenen Augen tasten und raten. Oder: Zeichne was du fühlst.

Die Remida lockt die Fähigkeit des sich Eindruck-verschaffens sowie die Lust am Ausdruck. Hier spielen die persönlichen Zugänge eine Rolle. Wo bleibt mein Blick hängen? Was lässt mich zugreifen? Welche Erfahrungen mache ich? Woran erinnert mich ein Material? Spielen ist ohnehin die wichtigste Fähigkeit in der Auseinandersetzung mit der Welt – auch für Erwachsene.

Aus welchem Rohstoff ist ein Material – Kunststoff, Pappe, Holz, Glas, Metall, Textil, Papier, Stein …? Wie fühlt es sich an? Ist es mir angenehm? Wie lässt es sich bearbeiten? Muss ich es überhaupt bearbeiten? Kinder sind oft vom Stein fasziniert, weil er so schwer ist. Da haben sie etwas „Richtiges“ in der Hand. Die Erwachsenen wenden dann oft ein, dass es am Werkszeug fehlt. Die Kinder hingegen möchten ihn erkunden, erleben. Ein Stück Stein belebt jede Bauecke.

Was kann ich damit spielen? Fokussiert auf ein Material und begrenzten Platz findet intensive Auseinandersetzung statt: Zunächst eigenständige Erkundung, dann der Blick nach außen was die anderen machen und in Beziehung gehen; aus dem Einzelspiel wird Zusammenspiel;  Gegenseitiges Anregen, voneinander lernen und gegenseitig unterstützen; in Beziehung sein mit dem Material und auch mit den Mitmenschen.

Ästhetische Bildung ist alles was in der sinnlichen Auseinandersetzung mit den Dingen stattfindet: auch Sortieren, Klassifizieren, Kategorisieren – z.B. Muster und Mosaike entwickeln. Ästhetisch ist alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es betrachten – unabhängig davon ob wir es als schön empfinden. Es kann also auch hässlich und unangenehm sein.

Die Remida ist ein Wahrnehmungsort und wir sind davon überzeugt, dass Menschen auf ihre Weise wahrnehmen, die eigene Beziehung und den eigenen Ausdruck finden, die eigenen Ideen entwickeln. Darum halten wir uns mit Anleitungen zurück, was man mit den Materialien tun kann. Wir hören uns viel lieber die Geschichten an, was alles aus den Dingen geworden ist, wozu die Kinder bzw. Jugendlichen und Erwachsenen sie verwendet haben. Wir sehen die Remida als Bildungsort außerhalb der Kategorien von Richtig und Falsch.

„Aus 5cm² Wahrnehmung kann ein Abenteuer werden!“

Kreativität

Die Ausstellungen aus Reggio zeigen immer wieder, zu welch kreativem Denken und Handeln Kinder fähig sind, wenn sie eine vorbereitete Umgebung mit anregenden Materialien und aufmerksame Erwachsene finden, die sie begleiten. Die Werke der Kinder spiegeln ihre Denkprozesse und Thesen wider. Es zeigt sich: Abfall und Ästhetik stehen nicht im Widerspruch zueinander. Die Fremdartigkeit der Materialien und die Offenheit ihrer Verwendung regen Fantasie und Imagination an, so dass neue Dinge entstehen, ganz ohne Bau-, Spiel- oder Bastelanleitung. Neuentdecken und Zweckentfremden sind gefordert.

Die Präsentation der Materialien, die ihren Aufforderungscharakter zur Geltung bringt, erleichtert es, eigene Vorstellungen zu entwickeln und schöpferische Kräfte zu entfalten. Das ist wichtig, denn Kreativität gehört heute zu den Schlüsselqualifikationen.

Am interessantesten für Kinder sind die Materialien, die nicht für sie gemacht sind. Knöpfe, Perlen, Schnüre, Kabel oder Maschendraht fordern zur kreativen Gestaltung fantastischer Fabelwesen oder futuristischer Maschinen auf. Die Ausstellungen der Werke, ergänzt durch Dokumentationen der Geschichten hinter den Objekten, vermitteln Kindern und Erwachsenen Anregungen, was aus Abfall-Materialien in Kitas, Schulen oder Kulturprojekten entstehen kann.

Kreativität gehört nicht ins Atelier eingesperrt! Kreativität ist nicht Kunst oder Basteln, sondern die Fähigkeit schöpferisch zu denken und zu handeln. Sie kann sich überall da entfalten und gefördert werden, wo es Gestaltungsspielräume dafür gibt. Die Frage ist also, wie es Pädagog/innen gelingt, eine eigene Offenheit für ungewöhnliche Prozesse zu entwickeln. Die eigene Lust am Ausprobieren überträgt sich auf die Kinder, dann braucht es noch die Zeit dafür. Projektarbeit nach reggianischem Vorbild verbindet dieses mit der ungeteilten Aufmerksamkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern und dem, womit sie sich beschäftigen. Das neugierige Hinsehen und Hinhören, Wahrnehmen und Raum lassen für eigene Entdeckungen – und über die Wege der Erkenntnisse von Kindern staunen. Auch hierfür bietet die Remida den Erwachsenen unzählige Gelegenheiten dem Vergnügen am Lernen und der Lust an der Überraschung auf die Spur zu kommen.

Nachhaltigkeit

Der Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) für die Jahre 2005 bis 2014 liegt ein Aufruf der Vereinten Nationen zugrunde, der auf einen Impuls des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (2002) zurückgeht. Die UN-Mitgliedsstaaten verpflichteten sich in einer Resolution, in diesen zehn Jahren besonders intensive Anstrengungen zu unternehmen, um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in allen Bereichen der Bildung zu verankern.

Auf der Grundlage eines einstimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages wurde die Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ in Deutschland von der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) koordiniert. Bildung für nachhaltige Entwicklung soll Wissen über globale Zusammenhänge und Herausforderungen im Sinne von Ökonomie, Ökologie und Sozialem vermitteln. Sie soll Kinder, Jugendliche und Erwachsene in die Lage versetzen, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen und dabei abzuschätzen, wie sich das eigene Handeln auf künftige Generationen oder das Leben in anderen Weltregionen auswirkt. Die Umsetzung der Dekade stand unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Die Nachhaltigkeit ist ein globales Thema. Welche globalen Auswirkungen hat Plastikmüll in der Umwelt? Welche sozialen Probleme verursacht der Export von Elektroschrott? Dazu haben wir zwar Materialien in der Remida und versuchen dazu ein Bewusstsein zu schaffen. Wir stellen jedoch auch fest, dass viele BesucherInnen in der Remida nur den „Material-Aldi“ sehen und alle anderen Fragen und Themen ausblenden. Wir sind dann immer ganz unermüdlich dabei, die unmittelbaren Ideen der Remida zu transportieren und stoßen schon beim Thema Plastiktüten auf Unverständnis. Hier gibt es noch viel zu tun, bzw. wir haben kein Bewusstseinsproblem, wir haben ein Handlungsproblem – nicht wir in der Remida sondern global.

Wie drückt sich Nachhaltigkeit in der Remida ausdrückt und wie kommt sie in Bildungsveranstaltungen zum Ausdruck? Die Remida verknüpft Ressourcenbewusstsein und Recycling mit Reggiopädagogik, einem partizipativen Bildungskonzept in Kindertagesstätten. Ein Besuch in der Remida regt zum Nachdenken über die eigenen Konsumgewohnheiten an.

Aspekte von Nachhaltigkeit

Ökologie: Materialressourcen, die bei der Produktion abgefallen sind, werden direkt weiterverwendet, also upgecycelt. Sie kommen weder in den Müll, wodurch sie die Umwelt belasten, noch ins konventionelle Recycling, wozu Energie aufgewendet werden muss. Wenn die Kinder erfahren, was das für Dinge sind und woher sie kommen, erkennen sie selbst: „Dann ist das ja gut für die Umwelt.“

Sozial-Kulturelles: Die Materialien bekommen in der Remida eine zweite Seele. Sie sind nicht mehr, was sie vorher waren, sondern erstrahlen in neuem Glanz. Der Reichtum an Ressourcen und die Alternative zur Verschwendung werden sichtbar. Hinzu kommt: Überraschende Materialien inspirieren Menschen in sozialen und kulturellen Bereichen zur freien Auseinandersetzung und Gestaltung. Sie entdecken die Vielfalt der Materialien aus Restbeständen und kaufen weniger „klassische“ Materialien.

Im Gegensatz zu Zeiten, in denen Mangel Kreativität freisetzte – „Früher haben wir auch nur mit einer Dose gespielt“ –, geht es heute um die Kreativität, die aus Überfluss entsteht, und um die bewusste Entscheidung für überflüssige Materialien, die dem Erzeugen weiteren Überflusses entgegensteht.

Ökonomie/Wirtschaft: Die Remida ist ein Markt, auf dem sich die wirtschaftliche Welt und die soziale Welt treffen. Firmen verstehen ihre Rest-Materialien als „Kreativitätstransformatoren“ und investieren in Fantasie, Kreativität und Innovation, wenn sie sie hergeben. Unternehmen, in denen man sich der Möglichkeit bewusst ist, Abfallmaterialien kreativ zu verwenden, liefert die Remida das Erlebnis, was daraus entstehen kann.

Upcycling

Der Begriff „Upcycling“ bezeichnet den Vorgang, in dem im Sinne des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes aus Abfallstoffen eines Prozesses höherwertigere Produkte hergestellt werden. Der Begriff wird im künstlerischen Zusammenhang auch benutzt, wenn Materialien aus dem Abfallkreislauf herausgenommen und direkt verwendet werden. Man sagt „Direktrecycling“ dazu. Bekannte Beispiele sind: Taschen aus Segeltuch oder LKW-Planen und Briefumschläge aus veralteten Landkarten.

Hinweise zum Text

1 Zu Deutsch: Aus den Themen Reduzieren, Wiederverwenden, Sammeln und Recyceln entsteht ein Projekt.

2 Ein Schokoladenkuchen aus eingeschmolzenen Osterhasen

Susanne Günsch ist ausgebildete Erzieherin, Diplom Sozialpädagogin, Fortbildnerin und Gründerin der ersten deutschen Remida in Hamburg.

Weitere Informationen

www.remida.de

www.susanne-guensch.de

 

 

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