Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 2004, Heft 2
Lothar Klein und Herbert Vogt
Selbstbestimmtes, entdeckendes Lernen geschieht in tastenden Versuchen, in denen Vorerfahrungen mit neuen Hypothesen verbunden werden. Wenn Kinder in und mit ihrer Umgebung experimentieren können, wenn dies einen Bezug zu ihren Bedürfnissen und zu ihrem Leben hat, können sie ihrem Lernen einen Sinn geben. Sinngebung ist ein elementares Motiv allen Lernens. In der Freinet-Pädagogik wird diese Erkenntnis zum tragenden Prinzip.
Simon ist zweieinhalb Jahre alt. An schönen sonnigen Tagen hält er sich gerne im Außengelände der Kindertageseinrichtung auf. Er läuft dann kreuz und quer auf dem Gelände herum, erkundet dies und das oder betrachtet andere Kindern beim Spiel. Heute bleibt er in der Nähe des Eingangstores stehen und sieht zu, wie ein Handwerker es öffnet und wieder schließt. Irgendetwas erregt sein Interesse. Er geht hin und stößt an das Tor, das ihn um mindestens 30 cm überragt. Immer wieder macht Simon nun selbst das Tor auf und zu: langsam, ganz langsam und noch langsamer, schnell und immer schneller. Manchmal tritt er fest dagegen, manchmal berührt er es nur leicht. Wenn es zuschlägt, lächelt er und freut sich offensichtlich darüber. Er versucht es von beiden Seiten, rennt immer hin und her. Dann findet er heraus, dass das Tor nach der einen Seite hin schließt und sich nach der anderen öffnet, dass man es auf der einen Seite drücken und auf der anderen ziehen muss und dabei jeweils das Gegenteil erreicht. Nun hält er inne, um im Anschluss nur noch wilder mit dem Tor umzugehen. Er rennt von ihm weg und wieder hin, schlägt immer fester dagegen, rennt wieder weg, bleibt ruckartig stehen, dreht sich um, schaut das Tor an, rennt wieder hin und schlägt es erneut zu. Sein Gesicht strahlt immer entzückter, wenn das Tor in die Fassung knallt. Schließlich lässt er von dem Tor ab und geht seiner Wege. Etwa 15 Minuten lang beschäftigte das Tor Simons Aufmerksamkeit.
Vielfache Lerneffekte
Die ganze Zeit über hat ihn eine Erzieherin - in einiger Entfernung - dabei beobachtet. Jedes Mal, wenn Simon das Tor wieder in die Fassung knallte, zuckte sie innerlich zusammen. Was, wenn seine Finger dazwischen geraten würden? Sie greift dennoch nicht ein, sondern beobachtet genau, was Simon tut. Dabei fällt ihr beispielsweise auf, dass er das Tor niemals an der Kante anfasst, sondern immer mit der ganzen Hand dagegen drückt. Und immer nimmt sie wahr, dass Simon im Begriff ist, eine Entdeckung zu machen. Seine intensiven Bemühungen deuten darauf hin, dass das Tor Simons "Hunger nach Leben und Aktivität" (Célestin Freinet) entfacht hat. Befragt, fasst sie schließlich zusammen, was sie meint, beobachtet zu haben. Simon hat entdeckt,
- wie sich das Holz des Tores anfühlt;
- welche Kraft er einsetzen muss, um die Tür zu schließen, wie also das Verhältnis von Druck, Kraft und Widerstand in diesem Fall beschaffen ist;
- dass das Tor den Druck übernimmt und man leicht umfallen kann, wenn man fest dagegen drückt, das Tor nachgibt und sich ruckartig schließt;
- wie es sich anhört, wenn die Tür in die Fassung knallt;
- dass es durchaus unterschiedliche Töne macht, wenn sie fest oder behutsam geschlossen wird;
- dass sich das Tor nach einer Seite hin öffnet, nach der anderen Seite hin schließt, man es aber von beiden Seiten sowohl öffnen als auch schließen kann;
- dass man es dabei aber einmal ziehen und einmal stoßen muss;
- dass das Tor größer ist als er selbst, er es aber dennoch in Bewegung setzen kann;
- dass sich kein Erwachsener in seinen Entdeckungsprozess einmischt und er selbst entscheiden kann, was er probieren möchte.
Die Erzieherin glaubt auch, dass sich Simon im Anschluss an seine Experimente vielleicht eine Menge neuer Fragen stellen:
- Wie ist das Verhältnis von Krafteinsatz und Erfolg bei anderen Türen? Wird es mir gelingen, alle Türen zu schließen und zu öffnen?
- Wozu ist dieses Tor eigentlich da?
- Wer darf hindurchgehen und wer nicht?
- Warum falle ich um, wenn ich nicht aufpasse? Wie kann ich das verhindern?
Die Erzieherin ist davon überzeugt, dass Simon bei einer nächsten Gelegenheit weiter daran "arbeiten" wird. Er wird vielleicht mit anderen Türen experimentieren. Eventuell wird er mit diesem Tor seine Erfahrungen auch noch ein bis zweimal überprüfen und festigen, bevor er sich neuen Aufgaben stellt.
Auf der Suche nach Sinn
Warum erregt das Tor überhaupt Simons Interesse? Was seine Fragen auslöst, ist schwer zu beantworten, vielleicht die Art und Weise, wie der Handwerker das Tor öffnete, vielleicht auch dessen Lächeln, vielleicht die Erinnerung an frühere Erlebnisse, ausgelöst durch die beobachtete Situation. Wie kommt es, dass Simon so lange an diesem Tor bleibt? Es muss einen Sinn für ihn haben, sonst würde er davon schnell wieder ablassen. Sinn steckt für Simon im Experiment selbst. Indem er mit einem Gegenstand aus seinem Leben hantiert, erfährt er etwas über sich: Wie stark bin ich, wie viel weiß ich schon darüber, wie das funktioniert, kann ich den Gegenstand und die Situation schon beherrschen, und wie selbstständig und unabhängig bin ich schon? Antworten auf diese Fragen liefert ihm gewissermaßen die Tür, ein Objekt aus seinem Leben.
Menschen handeln niemals ohne Sinngebung. Man kann sogar sagen, "der Mensch ist ein Wesen auf der Suche nach Sinn", wie es der Psychologe Viktor Frankl ausgedrückt hat. Hierin liegt die motivierende Kraft, die für die Entwicklung und das Lernen aufgebracht wird. Entwicklung ist immer auf die Überwindung gegenwärtiger Begrenzungen gerichtet. Um diese Mühe auf sich zu nehmen, muss etwas jenseits dieser Grenzen als "Belohnung" winken. Dies kann etwas Äußerliches sein, etwa ein Lob der Erwachsenen oder eine gute Note. Es kann aber auch in der persönlichen Sinnerfüllung liegen. Eben darin ist die Ursache für den erwähnten "Hunger nach Leben und Aktivität" zu suchen, den Freinet jedem Kind zuschreibt. Im persönlichen Sinn also liegt die motivierende Kraft, wenn Kinder nicht nachlassen in ihrem Bemühen um Selbstentwicklung, wenn sie entdeckend lernen.
Sinn ist aber nicht nur einfach da. Erst im Handeln entsteht Sinn, verändert und festigt sich schließlich. Was innen ist, muss nach außen und wird im Tun in irgendeiner Form Teil der Wirklichkeit. Kinder handeln buchstäblich Sinn-stiftend, wenn sie dabei nicht von Erwachsenen mit deren Wert-, Ziel- und Moralvorstellungen überschüttet werden. Freinet-Pädagogen halten sich daher im Bewerten und Kommentieren sehr stark zurück.
Die Kinder suchen Bezug zu ihrem aktuellen Leben
Und es ist jeweils der konkrete persönliche Sinn in der konkreten Situation, der Menschen dazu bringt, etwas zu tun. Simon kann seiner Tätigkeit selbst Sinn geben. Simon lernt, und zwar an einem ganz alltäglichem Gegenstand und in einer ganz alltäglichen Situation. Beides ist Teil seines Lebens. Dass er sich gerade daran und gerade in diesem Moment daran probiert, ist seine eigene spontane Entscheidung. Die Entdeckungen, die Simon macht, integriert er in frühere Erfahrungen. Neue Zusammenhänge werden hergestellt - und gleichzeitig entstehen daraus neue Fragen. Die sind dann wieder Ausgangsbasis für weitere Versuche und Experimente.
Simons Versuche beschreiben anschaulich, was hundertfach im Alltag einer Kindertageseinrichtung geschehen kann, wenn Erwachsene es zulassen und wahrnehmen. Was für ihn Sinn macht, muss nicht für jemand anderen gelten. In jeder Situation geben Menschen ihrem Tun einen besonderen, nämlich ihren eigenen Sinn. Bei weitem nicht alle Kinder der Einrichtung experimentieren mit dem Eingangstor. Sie suchen sich andere Versuchsfelder. Der Alltag in der Kita steckt voller Überraschungen und kann sinnvoll genutzt werden.
Freinet-Pädagogik will diese Art, zu lernen und sich die Welt anzueignen, aktiv befördern. Sie geht davon aus, dass die Kindertageseinrichtung aus Sicht der Kinder vor allem ein Ort ist, welcher der eigenen Bedürfnisbefriedigung dient, ein Ort, den sie für sich gebrauchen können, ein Ort mit viel Bezug zu ihrem gegenwärtigen Leben. Für sie ist die Kita mit ihren Möglichkeiten für die Bedürfnisbefriedigung schlicht benutzbar oder nicht - im Hier und Jetzt. Auf der Suche nach nützlichen Gegenständen und Räumen durchforsten sie das Haus und seine Umgebung immer wieder aufs Neue. Mit wechselndem Alter erschließen sich ihnen dabei ständig neue Nutzungs- und damit auch Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten.
Die Kita, die diesem Forscherdrang nachgeben will, müsste vor allem Räume, Material und Werkzeuge bereitstellen, die das gegenwärtige und tatsächliche Leben der Kinder widerspiegeln, und jederzeit für die Kinder frei zugänglich sind. Die Kinder müssen selbst entscheiden können, wann, in welcher Weise und womit sie zu welchem Zweck damit hantieren.
Literatur
Viktor Frankl: Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Pieper-Verlag, München 1985
Lothar Klein/Herbert Vogt: Entdeckendes Lernen oder "Vom Hunger nach leben". Freinet-Pädagogik in Kindertageseinrichtungen. Herder-Verlag, Freiburg 1998 (vergriffen)
Lothar Klein: Freinet-Pädagogik im Kindergarten. Herder-Verlag, Freiburg 2001
Autoren
Lothar Klein und Herbert Vogt
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