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Zitiervorschlag

Wygotskis pädagogischer Ansatz in der Praxis: einige Beispiele

Martin R. Textor

 

In diesem Artikel möchte ich die theoretischen Aussagen in meinem anderen Fachbeitrag zu Wygotski durch einige Praxisbeispiele ergänzen. Beginnen möchte ich mit Wygotski (1987) selbst: Er verdeutlicht an folgendem Beispiel, wie Erwachsene oder kompetentere Kinder das Kind in der Zone der nächsten Entwicklung anleiten und fördern können, damit dieses durch Nachahmung die im Reifungsprozess befindlichen Fähigkeiten ausbilden und seine bisherigen Grenzen überschreiten kann: "Wir zeigen einem Kind, wie die Aufgabe gelöst wird, und stellen fest, ob es imstande ist, sie durch Nachahmen des Gezeigten zu lösen. Oder wir beginnen eine Aufgabe zu lösen und überlassen es dem Kind, das Begonnene zu Ende zu führen. Oder wir fordern das Kind auf, eine Aufgabe, die über die Grenzen seiner geistigen Entwicklung hinausgeht, in Zusammenarbeit mit einem anderen, weiter entwickelten Kind zu lösen. Oder, schließlich, wir erklären dem Kind das Lösungsprinzip einer Aufgabe, stellen hinführende Fragen, gliedern die Aufgabe auf und ähnliches mehr" (S. 84).

Stremmel und Fu (1993, S. 344-346) geben drei Beispiele für das Umsetzen der Theorie von Wygotski in die Praxis:

  1. Ein vierjähriges Mädchen möchte ein Haus "machen", nachdem es mit anderen Kindern darüber gesprochen hat, wo Menschen wohnen. Es sagt zur Erzieherin, dass es aber nicht weiß, wie man ein Haus "macht". Diese stellt zunächst einige Fragen, um zu erfassen, inwieweit das Kind die sich selbst gestellte Aufgabe versteht: "Wie hast du dir das denn vorgestellt?", "Wo kannst du wohl einige Anregungen finden?" oder "In welcher Spielecke findest du geeignete Materialien?" Auf diese Weise wird das Kind dahin geführt, die Aufgabe in verschiedene Einzelschritte zu zerlegen. Zugleich ermittelt die Erzieherin, was an Unterstützung das Mädchen tatsächlich benötigt. Das Kind legt fest, welche Materialien (Blöcke, Pappkartons oder Papier und Malstifte usw.) es wie verwenden will, und macht sich an die Arbeit. Die Erzieherin hilft ihm durch Fragen ("Wieso hast du diese Form gewählt?"), Kommentare ("Du hast viele Farben für das Haus verwendet!") oder Vormachen (Ausschneiden der vom Kind gewünschten Formen). Letzteres - direkte Hilfe - erfolgt nur in der Zone der nächsten Entwicklung, also bei Tätigkeiten, die das Kind noch nicht beherrscht.
  2. Ein dreijähriges Kind hat in einer Spielecke Holzperlen in unterschiedlicher Größe und Farbe sowie verschiedene Fäden vorgefunden. Es hat noch nie mit diesen Materialien gespielt und fragt deshalb die Erzieherin perplex: "Was soll ich denn damit machen?" Diese mag zunächst einen Vorschlag machen oder eine Frage stellen wie "Was meinst du denn, kann man damit machen?". Das Kind mag zuerst die Perlen hin- und herrollen. Die Erzieherin schaut ihm zu und führt es allmählich zum Verstehen der Aufgabe: das Auffädeln der Holzperlen (d.h. Herstellen von "Intersubjektivität"). Das Kind mag diese Tätigkeit eine Zeitlang alleine durchführen. Später erweitert die Erzieherin die Aktivität mit Hilfe von Fragen wie: "Könntest du nicht auch eine andere Sorte von Perlen verwenden?" oder "Wie könntest du die Perlen noch aufreihen?"
  3. Beim Erzählen einer Geschichte bricht die Erzieherin ab und fragt die Kinder, wie diese denn weitergehen könnte. Gemeinsam wird die Geschichte fortgeführt und ausgestaltet, wobei Vorwissen, kreative Gedanken, Spekulationen, Schlussfolgerungen u.Ä. vonseiten der Kinder in das Gespräch einfließen. Hier wird die co-konstruktivistische Perspektive besonders deutlich.

Berk und Winsler (1995) beschreiben ein ähnliches Beispiel wie das letztgenannte, beziehen es aber auf eine Lerngruppe: Hier kommen mehrere Kinder (mit der Erzieherin) zusammen, um etwas zu klären. Sie stellen abwechselnd Fragen und diskutieren miteinander, bis sie schließlich gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Die Erzieherin mag dabei z.B. diffuse oder ungewöhnliche Ideen klären, neue Gedanken einbringen und zu Vorhersagen anregen. Smith (1993) verweist darauf, dass die Erzieherinnenrolle auch von einem älteren Kind übernommen werden kann. Aber auch gleich fähige Kinder können eine solche Lerngruppe erfolgreich gestalten, wenn sie die Rollen des Fragenden, Verhaltensmodells, Experimentators, Beobachters usw. immer wieder wechseln. Hier lernen sie voneinander, "konstruieren" gemeinsam neue Erkenntnisse.

Karpov und Bransford (1995) beschreiben an einem Beispiel, wie theoretisches Lernen bei Kleinkindern erreicht werden kann: Diese verglichen die Menge an Wasser in zwei Eimern, wobei sie einen Becher einsetzten. Für jeden Becher legten sie einen Chip beiseite - bei dem einen Eimer einen blauen, beim anderen einen roten. Als die Eimer geleert waren, verglichen sie die Anzahl der Chips. "Auf diese Weise wurden die Kinder mit den Konzepten einer Einheit (etwas, das dem eigenen Maßstab entspricht) und einer Zahl (dem Verhältnis von einer Menge zu einer anderen, die als die Einheit verwendet wird) vertraut gemacht" (a.a.O., S. 64).

Bodrova und Leong (1996) plädieren dafür, den Kindern zu lehren, "Mediatoren" als "geistige Werkzeuge" einzusetzen. Beispielsweise können sie beim Zählen die Finger zu Hilfe nehmen, anhand einer Orange und einer Tomate zwei unterschiedliche Farben erkennen, das Anschlagen eines Gongs als Zeichen für "Ruhe" verstehen lernen, eine Eieruhr zum Messen der Zahnputzzeit verwenden usw. Van Oers (1994) verweist auf weitere "geistige Werkzeuge", die erfolgreich von Kleinkindern eingesetzt werden könnten: Baupläne, Schemata, Pläne des Gruppenraums (mit eingezeichneten Objekten), Zeichnungen von Gegenständen, die dann gebastelt werden, usw.

File (1993) zeigt anhand eines Beispiels, wie auf der Grundlage von Wygotskis Theorie das Sozialverhalten eines Kindes beeinflusst werden kann: Wenn Paul einen Spielkameraden sucht, stellt er sich zumeist in die Mitte des Gruppenraums und fragt: "Wer will mit mir spielen?" Zumeist führt diese Frage nicht zu der gewünschten Reaktion. Die Erzieherin interveniert in Pauls Zone der nächsten Entwicklung, indem sie fragt, was er denn spielen wolle und mit wem. So wird er motiviert, ein anderes Kind direkt anzusprechen - eine viel erfolgversprechendere Strategie. Paul benötigt noch etwas Unterstützung, um die Reaktionen direkt angesprochener Kinder verstehen zu können - z.B. dass ein in ein anderes Spiel vertieftes Kind wenig geneigt ist, mit ihm etwas Neues anzufangen.

Bodrova und Leong (1996, S. 144-145) beschreiben, durch welche Maßnahmen Erzieherinnen das Rollenspiel von Kindern bereichern können, dem ja laut Wygotski eine große Bedeutung zukommt. Sie empfehlen, dass sich Rollenspiele möglichst über mehrere Tage erstrecken sollten: Zunächst könnten sich die Kinder Gedanken über die Spielinhalte machen, bevor sie mit dem Rollenspiel beginnen. Am Ende der für das Rollenspiel vorgesehenen Zeit sollte mit ihnen diskutiert werden, wie sie es am nächsten Tag fortsetzen wollen. Am zweiten Tag sollte zuerst das Spiel des vergangenen Tages und die gemachten Pläne reflektiert werden. Die Erzieherinnen greifen direkt in das Spiel ein, wenn z.B. Kinder nicht miteinander sprechen, ein bestimmtes Kind ausgeschlossen wird, nur wenige Rollen ausgeübt werden oder das Spiel nach wenigen Minuten endet. Dann machen sie beispielsweise Vorschläge, worüber gesprochen werden könnte, welche Rollen oder Spielinhalte noch möglich sind oder wie eine bestimmte Rolle ausgeübt werden kann. Sie stellen Materialien zur Verfügung, die möglichst unspezifisch sein sollten, sodass die Kinder ihnen ganz unterschiedliche Bedeutungen geben können. Zugleich evaluieren sie den Lernerfolg eines jeden Kindes, indem sie sich z.B. folgende Fragen stellen: Nimmt die Fähigkeit des Kindes zu, Dinge symbolisch zu verwenden? Übt das Kind immer besser die jeweilige Rolle aus? Wechselt es die Rollen, oder ist es auf eine bestimmte festgelegt? Kann es Themen ausweiten und neue in das Spiel einführen?

Literatur

Berk, L.E./Winsler, A.: Scaffolding children's learning: Vygotsky and early childhood education. Washington: National Association for the Education of Young Children 1995

Bodrova, E./Leong, D.J.: Tools of the mind. The Vygotskian approach to early childhood education. Columbus: Merrill/Prentice Hall 1996

File, N.: The teacher as a guide of children's competence with peers. Child and Youth Care Forum 1993, 22, S. 351-360

Karpov, Y.V./Bransford, J.D.: L.S. Vygotsky and the doctrine of empirical and theoretical learning. Educational Psychologist 1995, 30 (2), S. 61-66

Smith, A.B.: Early childhood educare: Seeking a theoretical framework in Vygotsky's work: International Journal of Early Years Education 1993, 1 (1), S. 47-61

Stremmel, A.J./Fu, V.R.: Teaching in the zone of proximal development: Implications for responsive teaching practice. Child and Youth Care Forum 1993, 22, S. 337-350

van Oers, B.: Semiotic activity of young children in play: The construction and use of schematic representations. European Early Childhood Research Journal 1994, 2 (1), S. 19-33

Wygotski, L.: Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein 1987 

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de