Führen oder Wachsenlassen – Theodor Litts Auflösung eines pädagogischen Grundproblems

Martin R. Textor

In der Geschichte der Pädagogik bzw. der Schule gab es viele einander diametral entgegengesetzte Positionen, die sich entweder dafür aussprachen, Kinder entsprechend eines bestimmten Ideals zu erziehen und zu prägen, oder die dafür plädierten, dass Kinder sich frei von innen her entfalten und sich ihre Welt selbst erschließen sollten. Dementsprechend wurde der Erzieher bzw. Lehrer entweder als „Führer“, der das Ziel der Bildung kennt und das Kind auf dem dahin führenden Weg hält, oder als „Gärtner“ verstanden, der das im Kind Wachsende hütet und ihm das für seine selbsttätige Entwicklung Benötigte bereit stellt. Zum erstgenannten Lager gehörten z.B. die Vertreter des Humanismus, der Jugendbewegung der 1920er Jahre, des Sozialismus bzw. Kommunismus und des Nationalsozialismus. Die Position des Wachsenlassens wurde beispielsweise von Befürwortern einer natürlichen bzw. negativen Erziehung, den Reformpädagogen und den Verfechtern einer antiautoritären Erziehung forciert.

In seinem Buch „Führen oder Wachsenlassen“, das 1927 erschien, 1933 verboten wurde und in der Nachkriegszeit neu aufgelegt wurde, macht Theodor Litt deutlich, dass sich die vorgenannten Lager keinesfalls so deutlich voneinander unterscheiden lassen, wie es den Anschein hat. Seine Argumentation folgt dabei der dialektischen Methode. Theodor Litt (1880-1962) war Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig (1920-1937), wurde von den Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt und übernahm in der Nachkriegszeit einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn (1947-1952).

Der schlechte Sinn des Wachsenlassens

Die Vertreter des Wachsenlassens lehnen laut Litt (1967) jeglichen „schulmeisterlichen Übereifer“ ab, sprechen sich gegen eine zu starke Beeinflussung von Kindern durch Erzieher und Lehrer aus – egal ob aus Machtbedürfnis oder aus Liebe – und wenden sich gegen das Streben nach sichtbaren Erfolgen. Kinder sollten sich entsprechend ihrer Anlagen frei entfalten, sich ihrer Natur gemäß entwickeln können. In ihrer extremen Form ist Wachsenlassen laut Litt (1967) „nichts weiter als ein Bild, entnommen dem Bereich des organischen Werdens, und wenn dieses Bild wörtlich genommen werden sollte, so würde es nicht sowohl die Selbstbegrenzung als vielmehr die radikale Selbstaufhebung der Erziehung bedeuten“ (S. 17). Deshalb werde diese Position nie in ihrer Extremform des bloßen Geschehenlassens vertreten, sondern eher zur Abwehr einer zu starken pädagogischen Beeinflussung.

Die Vertreter des Wachsenlassens sprechen sich vor allem gegen die Einprägung der Lebensform der Erwachsenen in die nachfolgende Generation aus. Stattdessen sollen Heranwachsende eine neue (bessere) Zukunft entwickeln und gestalten. Der Erzieher bzw. Lehrer als „Anwalt der Zukunft“ und als ihr Wegbereiter soll somit nicht nur Vergangenes und Gegenwärtiges abwehren und ansonsten passiv sein, sondern muss aktiv „Besseres“ und „Vollkommeneres“ fördern – und damit werde laut Litt (1967) aus dem Wachsenlassen ein Führen: Der Erzieher bzw. Lehrer wisse, was „wachsen wolle“, wo also das Ziel liegt, und wolle die Jugend dorthin führen. Man müsse nur die Schule zu einer „Lebensstätte der Jugend“ machen, damit sich die „reine Menschlichkeit“ entfalten könne. Indem der Erzieher bzw. Lehrer „so ‚führt‘, wie der Geist der Entwicklung, die Vernunft des Weltgeschehens, das Gebot der Zukunft es will, lässt er das ‚wachsen‘, was Recht und Anspruch auf Leben hat“ (S. 23).

Jedoch lässt sich laut Litt (1967) nicht voraussagen, ob sich die Zukunft wirklich entsprechend der Vorstellungen und Ideale der Vertreter des Wachsenlassens entwickeln wird bzw. gestalten lässt. Zudem seien deren Zukunftsziele in der Gegenwart verwurzelt, seien sie oft unrealistisch und Ausdruck der „schwärmenden Phantasie“, gäbe es oft widersprüchliche Idealbilder – und zumeist entwickle sich die Zukunft anders als vorausgesehen. Deshalb können Erzieher und Lehrer nur „Pfleger und Anwalt der in dem jungen Geschlecht selbst schlummernden Möglichkeiten [sein] – solcher Möglichkeiten also, deren Gestaltwerdung nicht dem planenden Vorgriff der älteren Generation unterliegt, sondern der prägenden Gewalt noch ungefällter Entscheidungen, noch ungeborener Schicksale vorbehalten ist“ (S. 25). Deshalb müssten Erzieher und Lehrer sich zurückhalten.

Der schlechte Sinn des Führens

Die Vertreter des Führens proklamieren ein bestimmtes Bildungsideal, nach dem Kinder und Jugendliche erzogen und gebildet werden sollen. So soll der Erzieher bzw. Lehrer als „Anwalt des Heute und des Gestern“ aktuelle Überzeugungen, Werte und Normen sowie tradierte Bildungsgüter an die junge Generation weitergeben. Jedoch ist laut Litt (1967) die Gegenwart nicht so gut, als dass man sich an ihr orientieren könne. Auch sei die Vergangenheit nicht so vorbildlich, wie es zu Litts Zeiten vor allem die Humanisten proklamierten, die sich z.B. auf Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt beriefen. Sie wollten Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer Vorstellungen vom klassischen Griechentum erziehen. Hier kritisiert Litt, dass dieses Bild nicht der historischen Realität entspräche, sondern auf „Phantasie, Wunsch und Sehnsucht“ beruhe. Deshalb wirke ihr Bildungsideal blass und formelhaft. Dasselbe würde auch für neuere Begriffe wie „natürliche Erziehung“ oder „harmonische Ausbildung aller Kräfte“ gelten.

Laut Litt (1967) hätten im Mittelalter Menschen wie Ritter oder Mönche unbewusst nach einer Art Bildungsideal gehandelt: Aus „Unbefangenheit und naiver Sicherheit“ heraus hätten sie „den stets geübten Brauch, den stets gehegten Glauben, die stets geforderte Fertigkeit und die stets gepriesene Tugend so vollständig und so wirksam wie möglich“ (S. 32) an die nächste Generation weitergegeben. Dies ist laut Litt heute nicht mehr möglich, weil solche „Objektivitäten“ des „naiven Lebens“ fehlen würden: „Damals lebte man ein Bildungsideal, über das man nicht reflektierte; heute reflektiert man über ein Bildungsideal, das man nicht leben kann“ (S. 32). Letztlich könne kein Bildungsideal vorgegeben werden, denn „welche lebendige Gestalt der Menschheit die jetzt heranreifende Generation in sich zur Darstellung bringen wird, das liegt außerhalb erzieherischen Ermessens und Verfügens“ (S. 36).

Bei einer Idealisierung der Vergangenheit sollen Erzieher und Lehrer die nachwachsende Generation dahin zurückführen – bei einer Ablehnung von Vergangenheit und Gegenwart sollen sie diese zu einem Neuen, einem Besseren hinführen. Bei beiden Haltungen sieht Litt eine „strukturelle Übereinstimmung“, und beide lehnt er ab: Sowohl die Vorstellungen von der Vergangenheit als auch die von der Zukunft seien vom „Geist des Heute“ erfüllt, und ein Handeln nach ihnen schränke „das werdende Leben“ ein.

Der gute Sinn des Wachsenlassens

Laut Litt (1967) entwickelt das Kind viele Fähigkeiten von sich aus, erwirbt es Kenntnisse ohne direkte Bildung. Dazu gehörten beispielsweise der Gebrauch der Sinne, Grob- und Feinmotorik, Sprechen und Sprache, Brauch, Sitte, Moral und Glaube. Vor allem in den ersten Lebensjahren wachse das Kind von selbst in die Gegenwartskultur herein. Auch ein Großteil des Wissens werde einfach so übernommen, weil es sich um Lebensnotwendiges handle oder weil es unangefochtene Wahrheiten seien.

Nach Litt (1967) haben Erzieher und Lehrer die Aufgabe, zur gegebenen Zeit das Kind bzw. den Jugendlichen behutsam mit dem „Wertreich des Geistes“ bekannt zu machen und ihm Bildungsgüter anzubieten. Sie dürfen die neue Generation nicht nach einem Bildungsideal prägen (s.o.), sondern müssten es jedem Heranwachsenden überlassen, was er aus dem ihm Angebotenen macht – ob er es idealerweise zu einem „wohlgestuften Ganzen zusammenordnet“.

Der gute Sinn des Führens

Ab einem bestimmten Punkt reicht es laut Litt (1967) nicht mehr, sich auf das Wachsen zu verlassen: Dann müsse z.B. zur selbsttätigen Sprachentwicklung auch die „Sprachpflege“ kommen. Insbesondere im Bildungsbereich komme es darauf an, aus der „Fülle der Kulturgüter“ aus Vergangenheit und Gegenwart diejenigen auszuwählen, die „überzeitlich“ und „gültig“ seien (z.B. „Sprachkunstwerke“, Mathematik, Naturwissenschaften). Diese geistigen Güter sollen den Schülern nicht aufoktroyiert werden (was „Führen“ wäre), sondern die Kinder und Jugendlichen sollen in die Kultur eingeführt werden.

Zugleich müsse der Erzieher bzw. Lehrer die „Sonderart“ der Seele eines jeden Kindes beachten, also seine Anlagen, Möglichkeiten und Probleme, und ihm „mit Rat, Unterstützung, Wirkung und Gegenwirkung an entscheidenden Stellen und zumal in kritischen Lagen“ helfen (Litt 1967, S. 75). Oft müsse ein Kind erst zu sich selbst geführt werden, damit es ideale Gehalte aufnehmen kann. Jede Bildungssituation sei einmalig.

Fazit

Für Litt (1967) bezeichnen Führen und Wachsenlassen „zunächst nichts weiter als Gleichnisse, die das Wesen des erzieherischen Tuns schnell und eindrucksvoll vor das innere Auge stellen sollen“ (S. 81). Keines von beiden darf absolut gesetzt werden, sondern beide sollten sich die Waage halten: „In verantwortungsbewusstem Führen niemals das Recht vergessen, das dem aus eigenem Grunde wachsenden Leben zusteht – in ehrfürchtig-geduldigem Wachsenlassen niemals die Pflicht vergessen, in der der Sinn erzieherischen Tuns sich gründet – das ist der pädagogischen Weisheit letzter Schluss“ (S. 81 f.).

Schlussbemerkung

Theodor Litt kommt somit in seiner dialektischen Erörterung der gegensätzlichen pädagogischen Positionen „Führen“ und „Wachsenlassen“ zu einer Synthese: Führen darf nicht Machtausübung und Vorwegnahme sein, sondern sollte als Einführen in die Welt kultureller Güter und als die kindliche Entwicklung unterstützende Erziehung verstanden werden; Wachsenlassen darf nicht Verzicht auf Erziehung oder Hinführen zu einer erträumten Zukunft bedeuten, sondern meint das Hineinwachsenlassen in eine bestimmte Gesellschaft und Kultur sowie das Herauswachsenlassen in eine ungewisse Zukunft, die von der jungen Generation einmal zu gestalten ist.

Literatur

Litt, T.: Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Stuttgart: Ernst Klett, 13. Aufl. 1967

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