Zitiervorschlag

Aus: Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 1999, 4, Heft 2, S. 26-27

Projekt "Spielzeugfreier Hort"

Christine Latendin-Kurzendörfer und Martin R. Textor


In unserer marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaft spielt der Konsum eine große Rolle: Reklame und Werbesendungen, aber auch Bezugsgruppen, wecken immer neue Bedürfnisse, die durch den Kauf bestimmter Produkte zu befriedigen sind. Zugleich wird vorgespiegelt, dass deren Erwerb zu einem höheren sozialen Status, Glück, Liebe und Freundschaft führt. Viele Reportagen, Zeitungsberichte, Filme und Krimis zeigen, dass Menschen auch durch Gewalt oder auf anderen illegalen Wegen Reichtum bzw. Statusprodukte erlangen können - was manchmal Heranwachsende zur Nachahmung reizt (negative Verhaltensmodelle). Viele Kinder und Jugendliche werden von ihren Eltern - oft aus schlechtem Gewissen, weil sie keine Zeit für sie haben - mit Spielsachen, Computer- und Videospielen nur so überhäuft. Diese sind heute zumeist so gestaltet, dass sie nur "konsumiert" werden können, also keinen Raum für Selbsttätigkeit, Kreativität u. Ä.. lassen. Auch erleben Kinder in ihren Familien, dass Alkohol und Medikamenten als "Waffe" gegen Ärger, Frustration, Erschöpfung und Depressivität eingesetzt werden, oder sie suchen selbst z.B. im Konsum von Süßigkeiten Ersatzbefriedigung für mangelnde Zuwendung. Viele Jugendliche werden von Gleichaltrigen gedrängt, Alkohol und Drogen zu konsumieren, oder glauben, dadurch Anerkennung zu erlangen.

Um der weit verbreitete Konsumorientierung von Kindern entgegenzuwirken und gleichzeitig einen Beitrag zur Gewalt- und Suchtprävention zu leisten, werden seit einigen Jahren in manchen Kindergärten spielzeugfreie oder -arme Phasen durchgeführt. Es wird erwartet, dass das weitgehende Fehlen "konsumierbarer" Spielsachen - aber auch von Angeboten der Erzieher/innen - die Kinder auf sich selbst zurückwirft und in ihnen neue Kräfte freisetzt. Der weitgehend leere Raum, aus dem nicht geflüchtet werden kann, ruft wohl zunächst das Gefühl der Langeweile und Frustration hervor, was manchmal auch kurzfristig zu Aggressivität führen kann. Die Kinder werden auf sich selbst, die eigenen Stärken und Schwächen, ihre Kreativität und Fantasie, verwiesen. Sie lernen dann mit der Zeit, sich selbst zu beschäftigen und ganz neue Spiele zu erfinden. Es muss mehr miteinander kommuniziert werden; soziale Beziehungen werden intensiviert. Die Kinder haben mehr Zeit zum Gespräch, zur gegenseitigen Beratung, zur Diskussion von Ideen, zur Planung und Organisation von Aktivitäten, zum Lösen von Problemen. Sie entdecken eine ganz neue Welt jenseits des "Konsums" von vorgefertigten Spielen oder von erwachsenendominierten Beschäftigungsangeboten.

Während der spielzeugfreien Phasen entwickeln die Kinder also ganz neue Lebenskompetenzen wie Organisationsgeschick, kreatives Denken und Problemlösetechniken, aber auch Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Sie übernehmen Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung. Zugleich gewinnen sie neue Freunde; oft werden alte Freundschaften intensiviert. Soziale und kommunikative Fertigkeiten werden weiterentwickelt.

Während bisher spielzeugfreie Phasen vor allem an Kindergärten durchgeführt wurden, zeigt nachfolgender Bericht aus dem zweigruppigen Hort des Kinderschutzbundes in Hof, dass dies auch mit Schulkindern möglich ist.

Praxisbericht

Ausgangspunkt waren folgende Überlegungen in unserem Team: Wir hatten beobachtet, dass viele Kinder nicht längere Zeit bei einem Spiel verweilen können, immer wieder die Aktivität wechseln, wenig Eigeninitiative und Kreativität zeigen. Wir erlebten uns selbst als Animateure, von denen immer neue Angebote erwartet wurden. Zugleich mussten wir sehr oft Streit schlichten, bei Konflikten um Spielsachen eingreifen und Aggressionen mildern. Für Gespräche und Beobachtungen blieb wenig Zeit.

Angeregt durch einen Film "Spielzeugfreier Kindergarten" und entsprechende Publikationen beschloss das gesamte Team, auf die skizzierte Situation mit einem Projekt "Spielzeugfreier Hort" zu reagieren. Damit verbundene Ziele, Erwartungen und Befürchtungen wurden aber nicht nur im Team diskutiert, sondern auch mit einer Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes und der Supervisorin. Ferner wurde das Projekt auf einem Elternabend vorgestellt, bei dem die Eltern u.a. in Kleingruppen die Fragen "Welche Erziehungsziele habe ich für mein Kind?" und "Welche dieser Ziele werden durch das Projekt gefördert?" diskutieren mussten. Es zeigte sich, dass die kindbezogenen Erwartungen von Erzieherinnen und Eltern weitgehend identisch waren:

Wir alle befürchteten, dass während der Projektphase der Lärmpegel steigen und Streitigkeiten zunehmen könnten. Auch fragten wir uns: "Was bleibt mir zu tun, wenn ich keine Beschäftigungsangebote machen darf und mich aus allem heraushalten soll?" Es wurde beschlossen, dass jede Fachkraft Tagebuch über das Geschehen in ihrer Gruppe, über die Beobachtung einzelner Kinder sowie über die eigenen Eindrücke und Gefühle schreiben soll.

Projektverlauf

In der Einstiegsphase wurde mit den Kindern das Projekt diskutiert. "Zurück in der Vergangenheit" zeigten wir den Kindern bei einem Besuch des Bauernhofmuseums in Kleinlosnitz, womit (mit wie wenig Spielzeug) früher gespielt wurde. Dann wurde besprochen, auf welche Spielmaterialien verzichtet werden kann. Nach und nach räumten die Kinder ihre Gruppenräume aus, bis nur noch Kuscheltiere, einige Bücher, ein Spiel und ein Baukasten verblieben. Wir waren überrascht, dass so wenig Material in den Räumen belassen wurde.

Im ersten der drei Projektmonate wussten die Kinder nichts mit sich anzufangen. Immer wieder sagten sie: "Mir ist so langweilig!" Der Lärmpegel stieg; die Kinder spielten unendlich lang Fangen, sprangen von Tischen und Schränken, hüpften auf Sitzbällen durch den Raum. Sie ließen sich aber auch mehr Zeit bei den Hausaufgaben und verbrachten mehr Zeit draußen. Für uns war anfangs der Lärm nur schwer zu ertragen. Auch waren wir immer wieder versucht, in vermeintlich gefährlichen Situationen einzugreifen. Wir mussten lernen auszuhalten, dass wir keine Angebote machen durften und somit "überflüssig" waren und dass wir uns bei Konflikten herauszuhalten hatten. Mit der Zeit wurden die entstandenen Freiräume für Beobachtungen und Gespräche genutzt. Wir übten, präsent zu sein, ohne dabei im Mittelpunkt zu stehen.

Im zweiten Projektmonat entwickelten sich lang andauernde, vielseitige und intensive Rollenspiele. Die Gruppenräume wurden umgestaltet, Höhlen gebaut. Einige Kinder entwickelten viel Fantasie und spielten unermüdlich miteinander, andere wechselten fortwährend die Spielpartner, und wieder andere erlebten wir als Einzelgänger, die sich nicht selbst beschäftigen konnten. Wir lernten, uns mehr zurückzuhalten, den Kindern den Freiraum für eigene Entscheidungen zuzugestehen, sie neue Gruppenregeln selbst finden zu lassen und uns nicht in ihre Konflikte einzumischen. Wir reflektierten vermehrt unser eigenes Verhalten ("Warum mische ich mich da ein?", "Wie spreche ich mit den Kindern?").

Im dritten Monat festigten sich die entstandenen Kleingruppen. Die Einzelgänger versuchten verstärkt, Kontakt zu finden, blieben aber erfolglos. Daran änderte auch die zunehmende Vermischung der beiden Hortgruppen nichts. Den Kindern gelang es zunehmend, Konflikte selbständig zu lösen. Sie erlebten bewusster die Natur (mehr Sinneserfahrungen), verwendeten alte Materialien auf neuartige Weise und intensivierten ihre Rollenspiele. Die Mädchen machten neue Körpererfahrungen (Kräfte messen, Klettern, an die eigenen Grenzen gehen), trauten sich mehr zu und entwickelten wesentlich mehr Durchsetzungsvermögen. Wir machten die Beobachtung, dass die Kinder ausgeglichener wirkten. Viele unserer Erziehungsziele, die wir früher durch gelenkte Beschäftigungsangebote zu erreichen versuchten, wurden von den Kindern eigenständig realisiert. Die Beziehungsebene zu den Kindern wurde deutlicher; verbale und nonverbale Kontakte wurden intensiver. Wir erlebten die Lautstärke wieder als angenehm und die fließenden Gruppengrenzen als positiv.

Nachdem die Kinder vermehrt nach Spielmaterial gefragt hatten (das Basteln wurde aber nicht vermisst!), holten wir ab Ende des dritten Projektmonats immer mehr Material in die Gruppenräume zurück - aber nur das, was die Kinder wollten. So lief das Projekt "Spielzeugfreier Hort" allmählich aus.

Bei der Auswertung des Projekts stellte das Team fest, dass die angestrebten Ziele (s.o.) weitgehend erreicht wurden. Beispielsweise zeigten die Kinder mehr Fantasie und Ausdauer, lösten mehr Konflikte ohne Hilfe und wurden generell selbstständiger. Die Mädchen wurden mutiger, selbstsicherer im Umgang mit anderen und aggressiver. Allerdings veränderte sich nicht das Sprachverhalten der Kinder im gewünschten Maße, konnten Einzelgänger nicht integriert werden, verbesserte sich nicht das Aufräumeverhalten. Jede Erzieherin erlebte in ihrem eigenen Verhalten positive Veränderungen. Die Eltern zeigten jedoch nur wenig Interesse am Projektverlauf. Generell wurde aber das Projekt vom Team - und den meisten Kindern - positiv erlebt, sodass für das nächste Hortjahr eine Wiederholung bzw. Fortführung gewünscht wurde.



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/krippen-bzw-hortpaedagogik/kinderhort/1992/