Zitiervorschlag

Aus: "Bildung und Beschäftigung", Thesenpapier des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung, Autoren: Dr. Gitta Egbers, Dr. Annette Fugmann-Heesing, Ulrich Pfeiffer, Dr. Uwe Thomas, Gert von der Groeben. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2005, Seite 13-16 (Teil B "Die Bildungsbereiche im Detail", Unterkapitel 1).

Frühkindliche Erziehung und Vorschule

Gitta Egbers

 

Die ersten Jahre eines Kindes sind für ein erfolgreiches Schul- und später auch Berufsleben entscheidend. Gleichzeitig erreicht die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen, schon sehr früh ein hohes Niveau. Schulbildung kann früher beginnen, als in Deutschland praktiziert. Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen Kindern müssen schon vor Schulbeginn auf tolerable Unterschiede schrumpfen, weil nur so Chancengleichheit entsteht. Die Wege dahin können sehr unterschiedlich gewählt werden. Die Neigung, eine verspielte, möglichst lang dauernde Kindlichkeit als Voraussetzung einer glücklichen Kindheit zu interpretieren, entspringt der Vorstellung, dass Schulen eine disziplinierende Belastung bringen und den Kindern möglichst lange erspart bleiben sollten. Diese Vorstellung wird ständig und vielfältig widerlegt. Lernen richtig organisiert bedeutet Freude und Glück. Gerade kleine Kinder sind besonders neugierig, wissbegierig und lernbereit. Es kommt darauf an, ihrer natürlichen Aktivität und Lernbereitschaft entgegenzukommen, ohne sie zu überfordern oder in ein zu strenges Regelkorsett zu stecken. Verspielte Kindergärten sind nicht das Ideal. Sie sollten in Vorschulen transformiert werden. Vorschule und Schule sollten langfristig eine integrierte, aufeinander bezogene Organisation bilden. Dabei sollten die Kommunen über die Organisationshoheit verfügen.

Diese Forderung erhält eine zentrale Begründung auch daraus, dass Kinder sehr frühzeitig vergleichbare Chancen für ein hohes Bildungsniveau erhalten müssen. Kinder aus bildungsfernen Schichten werden ohne frühe gleichwertige Anregungen und Bildung in Vorschulen die Benachteiligung durch das Elternhaus auch bei später intensiven Bemühungen des Staates bzw. der Schulen nicht mehr ausgleichen. Das gegenwärtig noch dominierende Halbtagesschulkonzept bei Schulbeginn mit sechs oder sieben Jahren ist völlig unzureichend. Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen Kindern müssen schon frühzeitig ab dem dritten Lebensjahr ausgeglichen werden, weil nur so Chancengleichheit entsteht und alle Bildungspotenziale ausgeschöpft werden. Nur so lassen sich die Ansprüche der Bürger an ihre künftige Lebensgestaltung erfüllen.

Durch einen frühen Vorschulbesuch würde gleichzeitig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht. Bildungs- und Familienpolitik ergänzen sich.

Kindergarten und Vorschule

Schon im 19. Jahrhundert wurden "Kleinkinderbewahranstalten" gegründet, um (Klein-) Kinder der unteren Volksschichten "von der Straße zu holen" und in die Gesellschaft einzugliedern. Gleichzeitig sollte den Eltern eine Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Wie es dem damaligen Bildungsideal entsprach, wurden die Kinder "aufbewahrt" und ruhig beschäftigt. Der damaligen Meinung zufolge war Erziehung oder ein Beitrag der Umwelt erst möglich, wenn das Kind von sich aus seine Körperfunktionen kontrollieren, sich bewegen und sich mitteilen konnte. Diese Fähigkeiten sollten im Kind selber inhärent vorhanden sein und sich unabhängig von der Umwelt entwickeln.

Heute ist unbestritten, dass der Erwerb gewisser Fähigkeiten vom Sehen über Hören und Sprechen bis zur Bewegung an Entwicklungsfenster gebunden ist, in denen die richtigen Reize bzw. Stimulierungen aus der Umwelt her kommen müssen. In erster Linie werden diese Anregungen durch das Elternhaus geliefert, das aber je nach Bildung der Eltern oder Engagement unterschiedliche Voraussetzungen anbietet. Beispielsweise hört ein Kind einer Mittelstandsfamilie 2100 Worte pro Stunde; in einer Arbeiterfamilie sind es 1200 Worte pro Stunde, bei Sozialhilfeempfängern nur 600.

Solche Unterschiede prägen die Kinder bis zum 2. Lebensjahr und können nur schwer wieder ausgeglichen werden, wenn Kindertagesstätten, Kinderkrippen oder auch Tagesmütter Kleinkinder ausschließlich "versorgen". Die Idee der "Versorgung" im Sinne von "Aufbewahrung" muss endgültig überwunden werden. In einigen Ländern sind die Konzepte für frühkindliche Förderung sehr weit entwickelt. Alle Entwicklungsstufen von Kleinkindern und die dadurch anfallenden Alltagsaufgaben werden methodisch aufgearbeitet. Damit einher geht auch die Ausbildung und Weiterbildung der Betreuer. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einbindung der Eltern, die gegebenenfalls weitergebildet werden.

In Deutschland gibt es kaum Konzepte für die Krippenerziehung. Praktische Beispiele zeigen aber, dass gute Kindertageseinrichtungen anderen Formen der Betreuung und Bildung überlegen sind, was die kognitiv-sprachliche Entwicklung, den Erwerb sozialer Kompetenzen und die spätere schulische Leistungsfähigkeit angeht. Auch Kleinkinder brauchen altersgemäße Spiel- und insbesondere Lernangebote durch entsprechend ausgebildete Erzieherinnen. Die Familienpolitik erklärt Mütter zu den besten Betreuungspersonen von Kleinkindern und sieht eine Erziehung in einer Kinderkrippe als Notlösung bei schwierigen Familienverhältnissen oder für alleinerziehende Mütter an. So wird bisher auf einen Ausbau der Krippenerziehung in Volumen und Qualität zu wenig Wert gelegt.

Finanziell war an einen Ausbau von Krippenplätzen im Westen nach der Wende nicht zu denken. Der Abbau von Krippenplätzen im Osten ging zügig vorwärts, da sich viele Familien die finanzielle Belastung nicht mehr leisten konnten. In Berlin werden zur Zeit die ersten positiven Erfahrungen mit "Early Excellence Centres" (s.u.) gesammelt.

Die neuen Bemühungen um den Ausbau der frühkindlichen Förderung und Bildung sollten sich von folgenden Ansprüchen leiten lassen:

  1. Rechtsanspruch auf öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung auch für Kinder unter drei Jahren mit entsprechenden Konzepten,
  2. Betreuungsangebote als Ganztagsplätze,
  3. Verbesserung des Zugang von Kindern aus bildungsfernen Schichten.

Betreuung und Förderung von Kleinkindern in verschiedenen Ländern

In den Beneluxstaaten ist die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt selbstverständlich. Es gibt dort ein breit gefächertes flächendeckendes Angebot an Kinderhorten, Krippen und Tagesmüttern, z.T. staatlich, z.T. kirchlich, z.T. privat, das 60 bis 90% der 1 bis 3 jährigen Kinder nutzen. Tagesmütter benötigen teilweise eine staatliche Zulassung und werden begutachtet.

In den skandinavischen Staaten Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland ist die frühkindliche Förderung wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen. Daher gibt es dort zahlreiche Möglichkeiten zur Betreuung auch von Kleinstkindern. Die Betreuer werden an Hochschulen ausgebildet, für Kleinkinder gibt es z. T. einen Personalschlüssel von 4 Kindern unter 3 Jahren bzw. 7 Kindern unter 7 Jahren pro Betreuungsperson.

In der Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen hat Großbritannien das weltweit ehrgeizigste Programm in Angriff genommen. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Testphase mit "Early Excellence Centres" werden z.Z. flächendeckend "Children's Centres" errichtet, laut Guardian "Kronjuwelen der Labour-Politik". Seit Amtsantritt hat die Labour-Regierung bereits 1,2 Mio. Plätze geschaffen. Die Zentren sind kommunale Dienstleistungseinrichtungen mit Angeboten für Kinder und Eltern. Während Kinder vielfältige Anregungen vermittelt bekommen und sich bereits mit Lesen und Rechnen beschäftigen, werden Eltern Fortbildungskurse, Gesprächskreise, Sprachkurse und verschiedene Hilfen im Alltag (z.B. Umgang mit Behörden) angeboten.

In den USA scheint die Elementarerziehung präzise strukturiert und verbindlicher zu sein. Im Rahmen des staatlichen "Headstart"-Programms wird deswegen auch exakt festgelegt, was Kinder zum Abschluss der "Kindergarten"-Zeit z.B. sprachlich können sollen. Solche Ziele sind den sozialpädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stets vor Augen. Eltern werden nicht nur regelmäßig animiert, in der Institution mitzuarbeiten und ihr Kind zu Hause zu fördern, sondern sie erhalten auch z.B. in Gesprächen präzise und differenzierte Hinweise sowie Entwicklungsberichte.

Qualität der Kinderbetreuung steigern

Es sollte eine generelle Überprüfung des Entwicklungszustandes aller Kleinkinder (z. B. bei der U7 mit ca. 2 Jahren) eingeführt werden. Bei erkennbaren Defiziten sollte dann eine Kita-Pflicht bestehen. Ab dem 3. Lebensjahr wird eine systematische (ganztägige) Vorschule angeboten (vergleichbar der Ecole Maternelle in Belgien oder Frankreich mit ca. 90% der Kinder eines Jahrganges). Sie sollte verpflichtend sein für Kinder, die bei der U8 (ca. 4 Jahre) Defizite aufweisen.

Die Qualität in der frühkindlichen Förderung hängt entscheidend von der Anzahl und der Ausbildung der Betreuer sowie der praktischen Umsetzung vor Ort ab. Qualitätssteuerung und -kontrolle der frühkindlichen Förderung sind in jeden Fall unerlässlich, um den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kindertagesstätten durchzusetzen. Auf europäischer Ebene sind seit 1996 40 Qualitätsziele vorgeschlagen, die bis 2006 erreicht werden sollen.

In Deutschland wurde 2004 eine Initiative zur Evaluierung von Kinderbetreuungsstätten gestartet, die in die Entwicklung eines Qualitätssiegels mündete, das im Jahr 2005 von einer unabhängigen Organisation erstmals vergeben wird (weitere Informationen: www.paedquis.de). Erforderlich sind die Vereinbarung einheitlicher Kriterien, die Einbeziehung unabhängiger, externer Prüfer, transparente Akkreditierungsverfahren und eine öffentliche Berichterstattung. Öffentlich zugängliche Qualitätsvergleiche würden eine gezielte Qualitätssteuerung erlauben und den Eltern Entscheidungskriterien für die Wahl einer Einrichtung an die Hand geben.

Akkreditierung in Australien und den USA

In Australien gibt es auf gesetzlicher Basis ein Qualitätssicherungs- und Akkreditierungssystem für praktisch alle Kindertagesstätten. Staatliche Gelder fließen nur an akkreditierte Tagesstätten. Die erreichte Qualität wird publiziert, so dass Eltern sich orientieren können, wenn sie ihr Kind in einer Einrichtung anmelden wollen. Dieses Programm haben bis Ende 1995 99,5% der dortigen Einrichtungen durchlaufen.

In den USA gibt es ein freiwilliges Akkreditierungsprogramm der National Association for the Education of Young Children (NAEYC), das jedoch nur ca. 15% der dortigen Einrichtungen erreicht. 1997 wurde ein 10-jähriges Aktionsprogramm gestartet, das Betreuungs- und Erziehungsprogramme hoher Qualität in den USA sicherstellen soll. In beiden Fällen bewerten sich die Einrichtungen zunächst selbst. Diese Bewertung wird anschließend von unabhängigen Evaluatoren überprüft (z.B. Durchgang, Hospitation in jeder Gruppe). Beides zusammen wird von einer Kommission beurteilt, die eine Empfehlung ausspricht, anhand derer die NCAC über die Akkreditierung entscheidet.

Kosten und Nutzen

Kindertagesrichtungen werden in der öffentlichen Diskussion vor allem als Kostenverursacher erlebt. Doch Kindertageseinrichtungen sind kein lediglich ressourcenverbrauchender Konsumluxus, denn Eltern werden freier in ihrer Berufsausübung. Kinder entwickeln schon in der Vorschule Fähigkeiten. Sie sollten gerade in der Vorschule eine zweite Sprache erlernen. Ihr Schulbesuch kann früher starten und früher auslaufen. Natürlich haben Kindertageseinrichtungen keinen reinen Investitionscharakter. Sie bieten den Kindern attraktive Lebenswelten, in denen sie zusammen mit anderen Kindern Spaß und Freude haben. Unabhängig davon wissen wir, dass Kinder aus "guten" Kindertageseinrichtungen seltener in der Schule sitzen bleiben, seltener in Sonderschulklassen kommen, häufiger die Schule abschließen und häufiger weiterführende Schulen besuchen. Sie bedürfen später seltener einer öffentlichen Unterstützung, Es ergeben sich sehr günstige Kosten-Nutzen-Relationen: Schätzungen aus den USA und der Schweiz kommen zu Relationen von 1 zu 7 bzw. 1 zu 3 bis 4.

Nur ein Teil der volkswirtschaftlichen Gewinne von Kindertagesstätten fallen in den Kommunen an. Für die einzelnen Kommunen erzeugen Kindertagesstätten Nettobelastungen. Auch die Eltern erzeugen mit ihren Aufwendungen einen Nutzen für sich und ihre Kinder, aber mehr noch für die Gesellschaft insgesamt. Außerdem sollte der Staat sich verpflichtet fühlen, Eltern gegenüber Kinderlosen nicht zu benachteiligen. Kindergärten und Vorschulen müssen als eine Zukunftsinvestition und als Teil einer allgemeinen Familienpolitik zentral finanziert werden.

Systematische Kosten-Nutzen-Vergleiche könnten das Bewusstsein für diese Aufgabe stärken. Die Mittel könnten auf verschiedene Art und Weise an Familien mit Kleinkindern vergeben werden: durch Voucher, durch direkte Zahlungen an die von der jeweiligen Familie ausgesuchte Einrichtung, durch Steuererleichterungen oder durch Angebote der öffentlichen Hand.

Empfehlungen

Das Finanzierungsdilemma in diesem Arbeitsfeld lässt sich - salopp formuliert - auf folgenden Nenner bringen: "Der Bund darf nicht, die Länder bringen's nicht, die Kommunen können nicht". Die Finanzierung der Kitas/ Vorschulen war und ist ein ständiger Kampf gegen leere Kassen, der durch die Kosten des Rechtsanspruches härter geworden ist. Gegenüber fachlicher Kritik zeigen sich die Bundesländer bei ständigen Kürzungen bemerkenswert resistent.

Notwendig wird eine Neubestimmung gesellschaftlicher Prioritäten. Eine reiche Gesellschaft, die an viel zu hohen, häufig überflüssigen Subventionen oder Ausgaben festhält und Bildung vernachlässigt, verrät die eigenen Zukunftsinteressen zu Gunsten einer am Status Quo orientierten Lobby. Bildung ist Zukunft. Die Zukunft wird bei der absehbaren Altersschichtung, bei der gegebenen Bildungs- und Familienpolitik nicht bewältigt werden.

Forderungen zum Ausbau und zur Finanzierung des Vorschulbereichs:

Anmerkungen

Die vollständige Publikation finden Sie hier zum Download: http://www.managerkreis.de/media/Bildung_und_Beschaeftigung_-_Nov_2005.pdfWeitere Informationen über den Managerkreis: http://www.managerkreis.deBestellung des Thesenpapiers auch hier:

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In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

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