×

Zitiervorschlag

Aus: Die Tagespost Nr.17 vom 10.02.2004

Mehr Krippenplätze bringen Nichts. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll nach Vorstellung vieler Politiker wieder zu mehr Kindern führen

Clemens Christmann

 

Wenn Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) zur Eröffnung der Internationalen Spielwarenmesse in Nürnberg vor den wirtschaftlichen Gefahren der niedrigen Geburtenrate in Deutschland warnt, dann stößt sie bei den Herstellern von Lego und Playmobil auf offene Ohren: Weniger Kinder bedeuten weniger Kunden. Nur wie lässt sich die Geburtenzahl steigern? Die Standardantwort von Politikern - egal welcher Parteifarbe - lautet, man müsse die Familien- und Erwerbstätigkeit vereinbar machen, dann würde sich der Nachwuchs schon einstellen. Vor allem die hohe Kinderlosigkeit von Akademikern im Westen lasse sich verringern, wenn Betreuungsangebote, insbesondere Krippen ab dem Säuglingsalter, ausgeweitet würden.

Doch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kann die Politik ihren demographischen Krippenoptimismus nicht begründen. Dies zeigt eine umfassende Studie für Deutschland: Es gibt keinen empirisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen einem hohen Krippenangebot und einer hohen Geburtenrate - weder in den westlichen noch in den östlichen Bundesländern. Für Westdeutschland gilt zudem: Junge Leute entscheiden sich besonders häufig für die Elternschaft, wenn ein soziales Netz vorhanden ist, eine Großmutter in der Nähe wohnt.

Vielfältige Befunde, die politisch brisant sind

Zu diesen Ergebnissen, die konträr zur offiziellen Familienpolitik liegen, kommen Wissenschaftler aus drei Forschungseinrichtungen, die bislang als stramme Befürworter zusätzlicher Betreuungsangebote in Erscheinung getreten sind. Die Autoren der Studie "Kinderbetreuung und Fertilität in Deutschland" sind Karsten Hank vom Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und demographischer Wandel (MEA), Michaela Kreyenfeld vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock und Katharina Spieß vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Die Befunde der Studie stellen die Begründung der Bundesregierung, auch aus demographischen Gründen für zusätzliche Betreuungsangebote vor allem im Westen viel Geld ausgeben zu wollen, in Frage. Vier Milliarden Euro sind für ganztägige Betreuungsangebote in Schulen vorgesehen. Weitere 1,5 Milliarden Euro sollen die Kommunen für neue Krippenplätze erhalten. Und im kommenden Jahr will Ministerin Schmidt ein Gesetz einbringen, das den Kommunen vorschreibt, bis zum Jahr 2010 Krippenplätze für ein Viertel jedes Kinderjahrgangs der Unter-Dreijährigen zu schaffen.

In ihrer Studie werten die Wissenschaftler eine reiche Datenfülle aus. Dabei analysieren sie auf Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) und der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik den Einfluss der regionalen Verfügbarkeit von Kinderbetreuung auf das Geburtenverhalten west- und ostdeutscher Frauen in den Jahren 1996 bis 2000. Das SOEP ist eine Längsschnittuntersuchung, für die jährlich mehr als 20000 Personen persönliche Daten wie Alter, Ausbildungsstand oder Religionszugehörigkeit zur Verfügung stellen. Darunter erfasst sind auch gut zweitausend deutsche und ausländische Frauen im Alter zwischen achtzehn und 45 Jahren aus knapp vierhundert Landkreisen und kreisfreien Städten.

Die zu Tage geförderten Befunde sind vielfältig. Politisch brisant ist: In den alten Bundesländern gibt es keinen statistisch signifikanten Effekt der Art oder des Umfangs des Kinderbetreuungsangebots auf die Entscheidung von Frauen, erstmals ein Kind zu bekommen. Weder mehr Krippen, Kindergärten oder Horte noch eine ganztägige Ausweitung bestehender Halbtagsangebote lassen in Westdeutschland einen Geburtenanstieg erwarten. Auch in den neuen Bundesländern ist kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Krippen- und Ganztagsplätzen für Kinder unter drei Jahren und dem erstmaligen Übergang zur Elternschaft vorhanden. Allerdings begünstigt im Osten eine hohe Versorgung mit Plätzen im Kindergarten- und Hortbereich die Geburt des ersten Kindes.

Betreuungsangebote bleiben zumeist auch dann statistisch irrelevant für das Geburtenverhalten von Frauen, wenn unterstellt wird, dass erst eine bestimmte Angebotsschwelle an Kinderbetreuung überschritten sein muss, bevor die Versorgung mit Betreuungsangeboten verhaltensrelevant wird. Auch in ihren Wirkungsanalysen zur Entscheidung über ein zweites Kind können die Wissenschaftler keine signifikanten Effekte der institutionellen Kinderbetreuung finden.

Einen für Erstgeburten günstigen Faktor machen die Forscher in Westdeutschland aus: die Nähe zu Großeltern. Eine mögliche Betreuung durch eine Großmutter entfaltet eine statistisch signifikante Wirkung auf die Fertilitätsentscheidung potenzieller Mütter. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit des Übergangs zum ersten Kind dreißig Prozent höher als im Durchschnitt.

Die Autoren interpretieren ihre Befunde so, dass im Westen das Angebot an Kleinstkinderbetreuung und an Ganztagsplätzen so gering ist, dass es Frauen oder Paaren für die Familienplanung irrelevant erscheint. Dass im Osten den Krippen keine signifikante Wirkung für die Fertilitätsentscheidung zukommt, erklären die Autoren damit, dass "trotz der hohen Erwerbsorientierung von Frauen die Elternzeit (früher Erziehungsurlaub genannt) häufig in Anspruch genommen wird".

Eigentlich müsste die Studie zum Umdenken anregen

Spätestens hier ergeben sich Fragen: Hängt die Familiengründung vielleicht doch nur teilweise, wenn überhaupt, von strukturellen Rahmenbedingungen ab? Gibt es wichtigere Faktoren als Krippenplätze, die das "Ja zum Kind" erleichtern? Und angesichts des so dominanten Interesses bestimmter Erwachsenen nach besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist zu fragen, ob nicht auch Kinder legitime Ansprüche an ihre Eltern stellen dürfen? Doch Fragen nach dem Kindeswohl und nach immateriellen, mentalen Gründen für die hohe freiwillige Kinderlosigkeit in Deutschland sind empirisch schwerer zu fassen und zu quantifizieren als ein Platz in der Kindertagesstätte - was sie für viele Wissenschaftler unattraktiv machen.

Auch Politiker tun sich schwer, Ursachen der freiwilligen Kinderlosigkeit jenseits von "Karrierekiller" und Krippenmangel in den Blick zu nehmen und Fragen der Kultur und Mentalität junger Leute zu thematisieren. Es erscheint den meisten bequemer, das demographische Verhalten rein strukturell mit der Stereotype der mangelnden Vereinbarkeit zu erklären. Diese Studie müsste sie zum Umdenken anregen.

Dass auch die drei Wissenschaftler zum Schluss für einen "deutlichen Angebotsausbau" im Krippen- und Hortbereich plädieren, lässt sich auf dem Hintergrund der Befunde ihrer Studie kaum nachvollziehen. Es zeigt vielmehr die Unzufriedenheit der Autoren mit ihren Beobachtungen. Bereits eingangs stellen sie fest: In Westdeutschland sind "Kinderkrippen eine gesellschaftlich immer noch kaum akzeptierte Alternative zur elterlichen Betreuung. So stimmten im Jahr 2000 zwei Drittel der 30- bis 40-jährigen westdeutschen Befragten der Aussage zu, 'ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn seine Mutter berufstätig ist'." Vielleicht irrt die Masse hier weniger, als die Wissenschaftler mutmaßen?