Zitiervorschlag

Die Kindertagesstätte als lernende Organisation

Burkhard K. Müller

 

Im folgenden Beitrag geht es um einen Bereich der Jugendhilfe, der allein seines Umfanges wegen - über die Hälfte aller in der Jugendhilfe tätigen Personen ist hier beschäftigt, in den neuen Bundesländern weit mehr (vgl. Rauschenbach/ Galuske 1994, S. 155) - von besonderer Bedeutung ist. Auch hat in der aktuellen Fachdiskussion dieses Bereichs die Frage, was sich in den Einrichtungen ändern müsse, damit sie den Lebensbedingungen ihrer Nutzer/innen (Kinder und Eltern) besser gerecht werden können, einen besonders hohen Stellenwert (Zimmer 1995, Thiel 1995).

Diese Frage steht zugleich ebenso drängend, wenn auch oft anders gemeint, auf der kommunalpolitischen Agenda, vor allem wegen der neuen Gesetzgebung (Rechtsanspruch auf Kindergartenplatz nach §24 und 24 a KJHG). Die besondere Relevanz dieses Bereichs für die "Dienstleistungs"-Thematik ergibt sich schließlich zweifelsohne auch daraus, daß kein anderer Bereich der Jugendhilfe so selbstverständlich wie dieser ein Bestandteil einer allgemein genutzten kommunalen Infrastruktur ist. Mehr als in anderen Bereichen hat Jugendhilfe sich hier von der traditionellen Rolle als Notbehelf für benachteiligte Minderheiten vollkommen gelöst und ist zum "normalen" Teil öffentlicher Dienstleistungen geworden.

Zum andern handelt dieser Beitrag von einer spezifischen Voraussetzung, die im allgemeinen stillschweigend unterstellt wird, wenn es um Reformprogramme sozialer Arbeit geht. Es wird nämlich vorausgesetzt, daß Reformprogramme wie "Lebenweltorientierung" (8.Jugendbericht) oder "Dienstleistungsorientierung" (wie hier diskutiert) in die Praxis umgesetzt werden können, sofern nur hinreichend fachlicher und politischer Wille und finanzielle Mittel dafür vorhanden sind. Andernfalls, beim Stagnieren oder Scheitern von Reformen, werden gewöhnlich nicht beeinflußbare Außenfaktoren verantwortlich gemacht.

Die Bedingungen der Umsetzung selbst als Fachfrage zu behandeln ist ein Postulat, das seltener angegangen wird (vgl. Müller 1996, S. 131 ff., Müller 1998). Ob die Organisationen sozialer Arbeit strukturell dazu in der Lage seien, gegebenen Planungswillen umzusetzen und verfügbare Mittel entsprechend zu nutzen, wäre eine solche Fachfrage, die in sozialpädagogischen Diskursen selten gestellt wird (1).

Die allgemeinste Antwort, die man auf diese Frage geben kann, lautet: Organisationen, die komplexen fachlichen Anforderungen wie den genannten genügen sollen, müssen in der Lage sein, als Organisationen zu "lernen". Erst wenn man dies als gegeben annehmen kann, läßt sich die Frage anschließen: Was müssen sie lernen, damit sie den Anforderungen des jeweiligen Reformprogramms genüge tun können? Müssen sie z.B. etwas anderes lernen, wenn das Programm "Lebensweltorientierung" statt "Dienstleistungsorientierung" heißt? Ich komme am Schluß darauf zurück.

Zunächst ist an dieser Stelle zu bemerken, daß der Begriff der "lernenden Organisation" selbst eines jener Reformprogramme impliziert, deren praktische Konsequenzen klärungsbedürftig sind. In diesem Fall sind es freilich nicht sozialpädagogische Fachkreise, wohl aber Verwaltungskreise, bei denen sich die Rede von "lernenden Organisationen" wachsender Beliebtheit erfreut. Der Begriff klingt fortschrittlich, dynamisch, humanistisch und manche meinen sogar, er helfe Kosten zu sparen. "Lerne mit weniger auszukommen und trotzdem besseres zu leisten", so die verbreitete Parole, seit Ebbe in den kommunalen Kassen herrscht und alle Städte verzweifelt darüber nachdenken, ob man mit Hilfe von Managementmethoden aus der Wirtschaft, wie "Controlling", "Neuen Steuerungsmodellen", "Qualitätszirkeln" und "Produktbeschreibungen" nicht doch erreichen kann, daß alles billiger wird, ohne daß der Mangel größer wird, ohne daß die betroffenen Bürger protestieren und die Mitarbeiterinnen sich weigern, noch länger mitzuspielen (vgl. Müller 1996, S. 26 ff., Merchel 1998). Je mehr der Außendruck der vollendeten Tatsachen zunimmt, desto mehr steigt im Innern der Druck, als "lernende Organisation" alles aufzufangen und abzufedern. Schließlich sollen ja die Kinder nicht darunter leiden, wenn die Mittel knapp werden. Kurz, "lernende Organisation" scheint, ebenso wie jene eben genannten Begriffe, eine der Zauberformeln zu sein, die fachliche Reformer und Sparkommissare dazu bringen sollen, plötzlich gemeinsam an einem Strang zu ziehen.

Ich habe nicht den Ehrgeiz, ein Managementmodell aufzugreifen oder zu entwickeln, das solch ein Wunder verspricht. Ich kann auch nicht als Praxisberater auftreten, der Trägern und Einrichtungen Ratschläge gibt, wie sie sich angesichts schwieriger Umstellungszwänge verhalten, welche Organisationsmodelle sie fördern und welche überwinden sollten. Ich kann nicht mehr tun, als eine Reflexion darüber anzubieten, was mit dem Wort "lernende Organisation" gemeint ist, wenn es mehr sein soll, als eine schicke Vokabel. Allerdings möchte ich plausibel machen, daß der Begriff der "lernenden Organisation" - wenn er nicht oberflächlich, sondern richtig verstanden wird - gerade in der Jugendhilfe und insbesondere bei Einrichtungen, in denen Kinder sich wohlfühlen und lernen können, ein guter Begriff ist. Denn ich glaube, daß es zwischen der Art, wie Kinder und der Art, wie Organisationen lernfähig werden, einige Parallelen gibt und daß beide ganz ähnliche Bedingungen brauchen, damit das möglich wird.

Im einzelnen will ich also

1. Was meint der Begriff "lernende Organisation"?

Sieht man die Literatur zur Organisationsentwicklung auf diesen Begriff hin durch, so fällt auf, daß er immer dort auftaucht, wo es um Gegenmodelle zu hierarchisch gegliederten, nach bürokratischen Zuständigkeiten und mechanischen Funktionsprinzipien aufgebauten Organisationsmodellen geht, die nach dem Prinzip funktionieren: "Der Kopf der Organisation denkt und lenkt, die Untergliederungen führen aus". Immer deutlicher wird, wie schlecht das funktioniert, vor allem in Bereichen, wo bei komplizierten Außenbedingungen sehr komplexe Leistungen zu erbringen sind (z.B. bei scharfer Konkurrenz nicht nur Autos zu bauen, sondern bessere, ja, fehlerfreie Autos zu bauen; oder: trotz Sparzwängen nicht nur Kinder aufbewahren, sondern sie vielseitig zu fördern).

Deshalb werden Modelle entwickelt, die die Selbststeuerungsfähigkeit der Organisation in den Mittelpunkt stellen. Geißler definiert: "Organisationslernen kann als ein Prozeß verstanden werden, in dem sich das Selbststeuerungspotential der Organisation im Umgang mit ihrem Kontext und mit sich selbst verändert" (1995, S. 10). Lernen, so ist damit angedeutet, ist immer ein selbstreflexiver Vorgang. Wenn der Kopf denkt und der Rest pariert, dann nennt man das Konditionierung oder Dressur (2). Lernen aber ist etwas prinzipiell anderes als mechanische Anpassung an veränderte Bedingungen. Es meint aktives Reagieren, was nur möglich ist, wenn eine Organisation sich selbst auf eine Veränderung einstellen kann, was wiederum nur möglich ist, wenn die Organisation sich selbst verändern kann. Auch ein Mensch kann nur lernen, wenn er sich nicht nur als passives Objekt von Veränderungen fühlt, sondern ein aktives Verhältnis zu seinen eigenen Fähigkeiten hat.

Was aber meint die Rede, daß Organisationen, nicht nur Menschen und andere Lebewesen, "lernen" können? Den Vorgang der Selbststeuerung von Organisationen kann man sich immer noch einigermaßen mechanisch vorstellen, während die meisten Autoren, die von "lernenden Organisationen" reden, die Analogie zu "lernenden Menschen" sehr viel weiter treiben. Sie gehen davon aus, daß Organisationen tatsächlich eine Art von Lebewesen sind und keineswegs nur die rational funktionierenden, fast maschinenhaften Regelwerke, die sich frühere Organisationstheoretiker (z.B. Mayntz 1968) vorstellten. Organisationen haben zwar rationale Zwecke und Ziele - man hofft es mindestens - aber sie funktionieren nur sehr begrenzt auf rationale Weise - wie Leute eben auch. Das was "aus dem Bauch heraus kommt" (eines Menschen oder einer Organisation) bestimmt das Verhalten oft mehr als das, was der Kopf denkt und lenkt, egal, ob man das gut findet, oder nicht. Wenn also Organisationen quasi menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden, z.B., daß sie "jung und dynamisch" oder "alt und erstarrt" sein können, daß sie "gesund" oder "krank" sein können, daß sie überfordert oder unterfordert sein können, daß sie ein Wertesystem und sogar eigene Glaubensüberzeugungen bzw. eigene "Moral" haben, daß sie geistig lebendig oder steril und tot sein können, dann ist das ziemlich wörtlich gemeint und nicht nur bildliche Redeweise.

Organisationen als sich selbst steuernde Systeme zu verstehen meint demnach nicht in erster Linie, daß es da Leitung, Hierarchie, Personalräte, Arbeitsplatzbeschreibungen etc. gibt, die dafür sorgen, daß das Ganze irgendwie funktioniert. Das auch; vor allem aber, daß Organisationen sozial-kulturelle Gebilde sind, ja sogar eine Art von Bewußtsein ihrer selbst haben, welches sie de facto steuert. Diese "organisationskulturelle", oder "ethnographische" (Klatzetzki 1993) Perspektive geht weiter davon aus, daß Organisationen Vorstellungen, innere Bilder über sich und ihre Umwelt entwickelt haben, auch über ein Gedächtnis ihrer eigenen Geschichte verfügen. Dieses baut sich aus gemeinsamen Erfahrungen auf und funktioniert ganz ähnlich wie ein menschliches Gedächtnis. Natürlich nur als Resultat all der Erinnerungen, Vorstellungen und Bilder, die sich einzelne beteiligte Menschen von dem machen, was sie in einem organisatorischen Kontext miteinander tun und getan haben. Aber doch so, daß das Resultat davon ein ziemliches Eigenleben entwickelt. Dies bedeutet, daß eine Organisation ziemlich anders funktionieren kann, als die daran beteiligten Personen es eigentlich wollen. Manche Autoren sprechen sogar vom "Unbewußten" von Organisationen (Mentzos 1988) und meinen damit, daß im "Gedächtnis" von Organisationen auch verdrängte Inhalte gespeichert sein können, Tabus gewissermaßen, Dinge über die niemand spricht, die aber gerade so höchst wirksam sein können und organisatorisches Geschehen de facto mitsteuern.

"Lernen" von Organisationen kann demnach in eine gute oder auch weniger gute Richtung wirken. So wie man von Menschen sagen kann, Dummheit sei lernbar, genauso wie Ängstlichkeit, Starrheit, Mangel an Fähigkeit, uneindeutige Situationen zu ertragen, bei Einzelpersonen in aller Regel nicht ererbt, sondern erlernt sind, so gilt es auch für Organisationen. Auch dem Anschein nach nicht lernfähige, z.B. bürokratisch verkrustete oder im Dauerclinch interner Machtgruppen verharrende Organisationen haben in dieser Sichtweise eine entsprechende (negative) Lerngeschichte hinter sich. Jedenfalls kann man bei manchen Organisationen, wie bei manchen Menschen, den Eindruck gewinnen, daß sie in einer Art Wiederholungszwang immer neu die Kämpfe der Vergangenheit kämpfen müssen und es deshalb schwer haben, sich ihren wirklichen Problemen zu stellen.

Ein letzter Punkt zu diesem Vergleich Einzelmensch-Organisation: Damit eine bessere Art des Lernens wahrscheinlicher wird, sagen manche Organisationstheoretiker, sei es hilfreich sich vorzustellen, daß Organisationen wie menschliche Lernorgane, nämlich Gehirne, strukturiert sein müßten. Deren hohe Leistungsfähigkeit hat vor allem vier Voraussetzungen, die ich nach Morgan zusammenfasse (vgl. Morgan 1986, S. 95 ff.):

Schäfer (vgl. 1995, S. 99 ff.) hat erläutert, inwiefern solche Ergebnisse der Neurobiologie elementare Voraussetzungen für kindliche Bildungsprozesse zu erhellen vermögen. Ich erspare mir, auszuführen, was diese vier Prinzipien im einzelnen bedeuten, wenn man sie auf Organisationen überträgt, komme aber im vorletzten Teil dieses Beitrags noch einmal darauf zurück.

2. Die Organisation und die Interessen der Einzelnen

Die Rede von der Organisation als einem quasi lebendigen Wesen legt ein Mißverständnis nahe: Als gehe es darum, anstelle eines rationalistischen einem organischen Verständnis von Organisation das Wort zu reden: Das tun z.B. diejenigen, die statt von Organisation von "Betriebsgemeinschaft" reden, von "wir sitzen alle in einem Boot", "ziehen an einem Strang", oder sagen: "Unsere Organisation, das sind wir alle und wir alle haben nur das eine Ziel, daß unser Laden blühe und gedeihe". Das also ist nicht gemeint.

Vielmehr ist die Rede von Organisationen als Quasi-Lebewesen gerade so zu verstehen, daß die beteiligten Menschen zwar alle zusammen und auf allen Ebenen das bewirken, was den Charakter der Organisation ausmacht, was sie lebendig oder tot sein läßt. Aber sie gehen darin nicht auf. Der Systemtheoretiker Luhmann drückt dies in dem zunächst überraschenden Gedanken aus, daß Personen, die in sozialen Systemen handeln, gleichsam deren "innere Umwelt" darstellen (Luhmann 1984, S. 346 ff.). Organisationen haben also nicht nur äußere Rahmenbedingungen, sondern die handelnden Mitglieder der Organisation, ihre Wünsche und Interessen - verdeckt oder offen - sind für die Organisation selbst Rahmenbedingungen. Bildlich kann man sich das so vorstellen, daß die einer Organisation angehörenden Menschen nicht Teil der Organisation sind, sondern wortwörtlich "Angehörige" der Organisation, wie man von Verwandten als "Angehörigen" spricht. Die Organisation ist gewissermaßen das Kind und die, die in ihr arbeiten, gleichsam seine Onkel und Tanten, oder besser, seine Pflegeeltern.

Wie bei richtigen Eltern schadet es dem Kind Organisation keineswegs, wenn seine Pflegeeltern unterschiedliche Ideen und Interessen haben, es auch mal sich selbst überlassen, nicht rund um die Uhr im Einsatz für es sind, oder auch mal Streit untereinander haben. Wichtig ist nur, daß sie insgesamt wollen, daß es dem Kind gut geht und, daß sie ihren Teil dazu beitragen, ihm einigermaßen förderliche Entwicklungsbedingungen zu schaffen.

Anders als das in manchen industriellen Organisationsideologien verbreitet wird, meint die Rede von der "lernenden Organisation" also keineswegs, daß die beteiligten Mitglieder sich mit ihrer Organisation "identifizieren" müssen oder für sie Opfer bringen sollen, ohne zu fragen, was sie selbst davon haben. Aber die Organisation einigermaßen gut leiden können, das sollte schon sein, sich mit ihr auseinandersetzen, wenn sie sich mies verhält, loben wenn's anders ist, Spaß darin haben können und die Bereitschaft, ein Stück eigenes Leben mit ihr zu teilen. Das gelingt natürlich nur, sofern auch umgekehrt - aber das ist ja bekannt - die Organisation akzeptable Umweltbedingungen für die Wünsche und Interessen ihrer Mitglieder zu schaffen vermag.

Daraus folgt: Diese subjektiven Lebensäußerungen bzw. Bedürfnisse der Mitglieder und die Quasi-"Bedürfnisse" der Organisation selbst sind wechselseitig für einander "Umwelt". Zwischen beiden besteht, wie Luhmann sagt, ein Verhältnis der "Interpenetration" (Luhmann 1984, S. 286 ff.) oder auch der "strukturellen Kopplung", wie seine neuere Formulierung lautet. Man darf dies auf das hier gemeinte, werthaltige Wechselverhältnis vielleicht so übertragen: Mitglieder und Organisation müssen einander einigermaßen gut leiden können, wenn so etwas wie eine "lernende Organisation" dabei herauskommen soll.

Damit bin ich nun im engeren Sinne beim Thema. Ich bitte meine Leser also, sich einfach aus eigenem Erfahrungskreis eine Kindertagesstätte oder eine andere Jugendhilfeeinrichtung vorzustellen, und zu phantasieren, es handle sich um eine Art von Kind, dessen Elternschaft (sowie entfernteren Angehörigen, Onkels, Tanten etc.) aus all den Mitarbeiterinnen, Leitungskräften, Eltern und Kindern samt Verwaltungskräften bestehe, die dort aufkreuzen. Und diese Elternschaft des Kindes "Kita X" oder "HortY" habe den guten Willen, zu fördern, daß das Kind Spaß am Lernen kriegt und sich entsprechend ordentlich entwickelt und den Eltern "Freude macht". Was müßte diese Elternschaft tun, damit das Vorhaben gelingt? (Wenn Sie wollen, können Sie sich natürlich auch das Umgekehrte vorstellen, daß die Einrichtung eine Art von Mutti sei, und Sie selbst oder Ihre Mitarbeiterinnen seien Kinder, deren Entwicklung gefördert werden soll; was zumindest unterschwellig auch eine verbreitete Phantasie ist, mir im Moment aber die weniger interessante Idee zu sein scheint.)

Meine Vermutung, die hinter dieser merkwürdigen Vorstellung steckt, habe ich schon verraten: Ich gehe davon aus, daß es nicht unerhebliche Ähnlichkeiten gibt zwischen den Bedingungen, unter denen Kinder gedeihen, lernen und wachsen können, und den Bedingungen, unter denen Organisationen gedeihen, lernen und wachsen können. Diese Ähnlichkeiten will ich im folgenden unter drei Aspekten etwas ausführen.

3. Wie Kinder lernen - und wie Organisationen lernen

(a) Kinder brauchen, wie der Kinderarzt und Analytiker Winnicott (1984) sagte, eine "hinreichend fördernde Umwelt". Sie können sich ihre Existenzbedingungen nicht selbst schaffen, sondern brauchen eine Umwelt, die sie nährt, pflegt und schützt. Das kann man von den meisten Organisationen auch sagen; gerade Jugendhilfeorganisationen können ohne eine solche Umwelt buchstäblich verhungern und verdursten. Damit eine Umwelt für Kinder förderlich ist, so Winnicott weiter, darf sie aber nicht perfekt sein. Eltern z.B., die jedes Quäken ihres Babys sofort mit Füttern beantworten, werden ein fettes, aber kein zufriedenes Kind bekommen. Vielmehr gehört zur fördernden Umwelt von Anfang an dazu, und je älter das Kind wird, desto mehr, daß Spielräume für Eigenaktivität da sind. Das Kind muß nämlich die Phantasie entwickeln dürfen, es selbst habe, z.B. durch sein Schreien, die erwünschte Umwelt gleichsam her befohlen und erschaffen, die ihm das gibt, was es braucht. Nur wenn ihm diese "Illusion", sagt Winnicott, erlaubt ist (vgl. 1974, S. 21 ff.), kann es ein gesundes Selbstbewußtsein entwickeln.

Dies hängt wiederum damit zusammen, daß für kleine Kinder die Entwicklung eines positiven, sicheren Verhältnisses zu sich selbst und ein offenes, entdeckendes Verhältnis zur Welt nichts voneinander verschiedenes ist. Von Anfang an ist nicht nur das "ich krieg's", sondern auch das "ich kann's" die Quelle kindlichen Urvertrauens. Das eine ist gleichsam die Kehrseite des anderen. Beides zu gewinnen und sich dabei immer differenzierter als mit der Umwelt Verbundenes und zugleich Unterschiedenes zu erleben, ist deshalb schon in der frühesten Entwicklung (vgl. Schäfer 1995, S. 33 ff.) der elementare kindliche Lernprozeß schlechthin. Bei Kindergartenkindern ist das noch deutlicher zu sehen, die ja in ihren Spielen gleichsam ständig als Magier tätig sind, die phantasierend die Realität und sich selbst ständig neu erschaffen. Fördernde Umwelt muß dabei als das wirksam sein, was Winnicott "potentiellen Raum" (potential space) genannt hat (Winnicott 1974, S. 116 ff.). D.h. sie muß sich als eine Wirklichkeit präsentieren, die nicht nur hält, sichert und nährt, sondern die ermöglicht, die Möglichkeiten öffnet und offen läßt.

Ich behaupte nun, diese elementare Grundlage kindlichen Lernens läßt sich auch auf Organisationen übertragen. Sie müssen eine "hinreichend fördernde Umwelt" von außen, aber auch von ihren eigenen Mitgliedern bekommen, wozu hinreichende Mittel, verläßliche Ordnungen, übersichtliche Handlungsräume, Kompetenz und vieles andere gehört, was Sicherheit und Struktur gibt. Aber wenn es nur das ist, wird eine Organisation nicht wirklich leben und lernen können. Wenn sich keine kollektive Phantasie entwickeln kann, die vielleicht eine Illusion ist, aber eine kreative Illusion: "wir sind mehr als die Summe unserer Rahmenbedingungen, wir können selbst bestimmen, welche Regeln bei uns gelten, wofür wir arbeiten, was uns Sicherheit gibt" etc. - wenn das gar nicht möglich ist, dann gibt es auch kein Wachstum.

Das ist das berühmte "Wir-Gefühl", "wir können's, wir schaffen's, wir sind verantwortlich" etc., das in lebendigen Organisationen entsteht.

Aber Vorsicht! Der Gesichtspunkt des vorigen Abschnitts gilt gerade hier. Dauerhaft entsteht ein solches Gefühl nicht dadurch, daß Mitglieder sich zu 100%iger Identifikation genötigt fühlen, sowenig ein Kind gedeihen kann, das pausenlos befürsorgt wird. Das mag es eine Weile genießen, aber dann kippt die Sache. Verlässliches, tragfähiges und enttäuschungsfestes "Wir-Gefühl" entsteht vielmehr aus gegenseitigem Verständnis und Sympathie verschiedener Menschen, aber auch aus dem Bewältigen von Aufgaben, dem Überwinden von Widerständen. Andererseits: wenn das "Wir-Gefühl", der "Geist" einer Organisation, selbst eine Art Lebewesen ist, dann will dieser Geist auch nicht dauernd herangezogen und getätschelt werden, sondern will, wie ein Kind, daß mit ihm sympathisierend, humorvoll, vielleicht auch diskret, respektvoll, aber ohne ständige Beachtung umgegangen wird.

(b) Bei Kindern kann man beobachten, daß ihr Bedürfnis nach Geborgenheit, Ordnung, Versorgtwerden einerseits, und ihr Bedürfnis nach Sich-Nicht-Helfenlassen, Selbermachenwollen, Widersprechen, Neues Ausprobieren, auf Entdeckungsreise gehen andererseits, kein statisches Verhältnis ist. Es geht nicht um die immer gleiche, "richtige" Mischung von Versorgen und Selbständigsein-Lassen bzw.-Fordern. Man irrt sich auch leicht, wenn man vom einen Kind behauptet, es "ist" ängstlich, auf Sicherheit bedacht, und vom anderen Kind, es "ist" wagemutig oder frech. Vielmehr kommt es dabei sehr auf Situationen und Phasen an, in denen dasselbe Kind mal babyhaft ängstlich, mal tollkühn erscheinen kann. Wichtig ist nur, so lehrt es die gesamte Kleinkindforschung, daß kein Kind gezwungen wird, sei es auch ungewollt, immer nur das eine oder das andere zu sein. Es muß vielmehr zwischen Situationen, in denen es Rückzug, Sicherheit, Versorgung findet, und Situationen, in denen es entdeckungsfreudig und wagemutig sein kann, gleichsam pendeln können.

Erwachsene, die "fördernde Umwelt" bilden wollen, tun deshalb gut daran, das Verhalten von Kindern möglichst nicht gleich beurteilen und beeinflussen zu wollen. Sie werden aber darauf achten, daß ein Kind die Erlaubnis hat, auch mal ängstlich, auch mal babyhaft sein zu dürfen, aber nicht so sein muß, nicht darauf festgenagelt wird; daß es wagemutig sein darf, aber nicht sein muß.

Läßt sich diese Lernbedingung auf Organisationen übertragen? Ich meine, ja. Zunächst einmal kann man sicher sagen, daß bei Organisationen, genau wie bei Kindern, angeborene Dummheit und Ängstlichkeit selten sind, sondern eher Folge einer langen Kette von Situationen oder Szenen, in denen sich entsprechende Reaktionen verfestigt haben. Es können dies Situationen gewesen sein, in denen Risikobereitschaft, Mut zu eigener Verantwortung, den Mund aufzumachen, nicht belohnt, sondern bestraft wurden. Wie gesagt: Ängstlichkeit und Dummheit sind lernbar. Es können aber auch Situationen gewesen sein, in denen es nicht erlaubt war, ängstlich zu sein, Verunsicherungen übersehen wurden, nicht geäußert werden konnten.

Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Denn ich glaube, auch Organisationen brauchen, wie Kinder, Entwicklungsbedingungen, die jene Pendelbewegung erlauben. Eine Organisation, die immer nur unter Veränderungsstreß gesetzt wird, wird ihre Ängstlichkeiten nicht überwinden, sondern verdrängen, und sie werden an anderer Stelle zutage treten. Ohne Phasen der Ruhe, ohne Bereiche, in denen man sich sicher fühlt, ohne Rituale, Routinen und begrenzte Verantwortung, ohne Möglichkeit, auch mal zu regredieren, ist es schwer, als Organisation vital zu bleiben.

Allerdings kann all dies zugleich Bedingung dafür sein, daß Initiativen blockiert, beunruhigende Elemente ausgegrenzt, daß kreatives Chaos dem Herrn Daswarschonimmerso und der Frau Saubermann zum Opfer fällt. Wie man die Pendelbewegung hinkriegt, den beweglichen Rhythmus zwischen Verläßlichkeit, Ordnung, Ritualen einerseits und Spontaneität, unkonventionellen Lösungen, Platz für kreative Chaoten etc. andererseits, das ist das Geheimnis jeder wirklich lebendigen Organisation. Es gibt keine Rezepte dafür, sondern eben nur den Hinweis, daß man dabei den Bedürfnissen der Kinder einiges abgucken kann.

(c) Kinder lernen, das wußte schon Rousseau, nicht primär über den Kopf, über die Reflexion, sondern in direkter Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in Aneignungsprozessen. Es hat nicht besonders viel Zweck, mit kleinen Kindern ein Verhalten oder eine Einsicht zu "thematisieren". Sie verstehen es nicht oder vergessen es sofort wieder. Was sie aber verstehen und nicht vergessen, ist die Sprache der Dinge: Der Räume, in denen sie sich wohlfühlen oder auch nicht, der Gerüche, des Lärms oder der Stille, der Nervosität oder auch Ruhe, die Erwachsene um sich verbreiten, die Sprache der Gesten und des körperlichen Umganges. Das heißt: Das Lernen kleiner Kindern hat nicht nur eine sinnliche ästhetische Dimension, sondern besteht im Wesentlichen in der Aufnahme der Welt mit allen Sinnen, vor aller Reflexion. Außerdem findet es nicht nur in konkreten Räumen statt, sondern es besteht wesentlich in der subjektiven Aneignung, "Besetzung", Gestaltung von Räumen, die erst durch die Aneignung zu sozialen Räumen werden.

Lernen von Organisationen ist unter beiden Gesichtspunkten damit vergleichbar. Erwachsene Individuen mögen lernen, indem sie sich Konzepte kognitiv aneignen. Bei Organisationen ist das schwieriger, sie reagieren eher wie Kinder. Ich zweifle jedenfalls länger desto mehr daran, daß sich entscheidende Fortschritte in Organisationen über das Thematisieren, Problematisieren, Analysieren von Mängeln und Zielen, kurz über Prozesse der Metakommunikation vollziehen, statt über die sinnliche Erfahrung, daß sich etwas geändert hat. Erfahrungsgemäß sind zumindest die Möglichkeiten ziemlich unbegrenzt, Metakommunikation und Problemanalysen zum Gegenteil dessen zu benutzen, wozu sie eigentlich gedacht sind, nicht als Verständigungsinstrument, sondern als Schlagwaffe, nicht als Mittel der Aufklärung, sondern zum Werfen von Nebelkerzen. Was aber das Lernen von Organisationen immer und massiv beeinflußt, sind die räumlichen Verhältnisse und die realen Regeln der Zusammenarbeit. "Raumorientierung" (Böhnisch/ Münchmeier 1990) und Aushandeln der Regeln des Zusammenlebens und -arbeitens sind deshalb die beiden elementaren Gesichtspunkte dafür, das Lernen von Organisationen beeinflussen zu können.

Raumorientierung heißt hier: Die Art, wie Menschen sich in einer Einrichtung faktisch und wortwörtlich "über den Weg laufen", bestimmt die Art ihrer Zusammenarbeit stärker als alles Nachdenken darüber: Ganz konkret: Wie sehen die Räume aus, welche werden gemeinsam benutzt, wer nutzt welche Räume wie, z.B. Eingangsbereiche, Spielflächen; welche sind gleichsam Privatbereich von Gruppen oder Funktionsträgern, welche subjektiven Bedeutungen haben die räumlichen Arrangements für die Kinder, für die Mitarbeiter/innen, für die Eltern? Das ist beileibe nichts Neues. Raumorientierung ist ja gerade im Kitabereich, z.B. durch das Konzept "Orte für Kinder" (Zeiher 1995), heute in aller Munde. Klar ist freilich, daß die Arten der Raumnutzung sich nicht von selbst ändern. Wenn sie ständig zu Konflikten führen, oder umgekehrt zu langweiliger Routine und Isolation, dann muß das erkannt und zur Sprache gebracht werden. Aber die Organisation als Organisation lernt nicht durch das zur Sprache bringen, sondern durch das Ändern der Räume selbst. Lernen von Organisationen ist nichts, was in den Köpfen stattfindet (die Köpfe gehören den "Angehörigen" der Organisation), sondern was im Zusammenleben praktisch gemacht werden muß.

Aushandeln der Regeln des Zusammenlebens ist gleichfalls etwas anderes als Metakommunikation. Natürlich muß es Orte und Zeiten geben, an denen verhandelt werden kann, z.B. über unterschiedliche Wünsche an Arbeitsplatzbeschreibungen, über Regeln für Gruppen, Regelverletzungen Einzelner und andere Konflikte. Aber entscheidend sind die Spielräume, die auszuprobieren erlauben, ob es auch besser gehen kann, als in den gewohnten Routinen und Settings. Erst dann wächst die Chance, Änderungen von Regeln auszuhandeln, mit denen es leichter besser geht.

4. "Orte für Kinder" als lernende Organisationen

Ich möchte im folgenden die bisherigen Überlegungen noch etwas stärker auf die Reformdiskussion beziehen, die im Bereich von Tageseinrichtungen der Jugendhilfe zur Fachentwicklung geführt wird und diese wiederum in die Diskussion über "Dienstleistungsorientierung" und "Lebensweltorientierung" einordnen.

Der soziologische Ausgangspunkt der aktuellen Fachdiskussion über "Situationsansatz", "Orte für Kinder" etc. im Kitabereich (vgl. Zimmer, 1995, Thiel 1995, Krappmann 1995) ist bekanntlich, daß besonders Großstadtkinder heute ein spezifisches Problem zu bewältigen haben, das als "Verinselung" von Kindheit beschreibbar ist (vgl. Zeiher 1995). Der Begriff meint, daß für Kinder die Entdeckung von Welt heute nur noch selten die Gestalt eines allmählich sich weitenden Kosmos hat. Kinder können weniger als früher ihre Umwelt schrittweise spielend erobern: vom Kinderzimmer durchs Haus in die Nachbarschaft und so weiter. Statt dessen: "In funktionsentmischten Stadtlandschaften liegen die kindspezialisierten Orte zwischen den vielen erwachsenenspezialisierten (und für Kinder gefährlichen B.M.) Orten verstreut" (Zeiher 1995, S. 39) - z.B. Horte und Kitas. "Die Orte, zu denen das Kind eigens gebracht wird, liegen weit verstreut, wie auch die Orte, zu denen es die Erwachsenen mitnehmen, etwa zu Besuchen, Einkäufen, Ferienreisen (....) Das tägliche Leben dieser Kleinkinder findet nicht überwiegend in einem als zusammenhängend erfahrbaren Raum statt, sondern wie auf einer Reihe von Inseln in einer unbekannten Weite, die nicht selbständig passierbar ist" (ebd. S. 41). Für benachteiligte, insbesondere behinderte Kinder, wenn sie auf spezielle Betreuungsangebote angewiesen sind, gilt all dies in erhöhtem Maß.

Zeiher schreibt weiter, daß dieser Struktur eine institutionelle Einschließung in "räumlich und zeitlich abgeschlossene Welten" entspreche, eben der Betreuungseinrichtungen, in denen Erwachsene nur zu dem Zweck da sind, um berufsmäßig "Kinder anzuregen, anzuleiten, zu betreuen, zu beaufsichtigen und in die Ablaufroutinen, Zeitmuster und Regeln der Organisation einzufügen". Auch für Schul- und Hortkinder läuft es oft auf die Alternative hinaus: entweder "Fortsetzung der institutionellen Betreuungsform durch Besuch von Kursen, Kirchengruppen, Sportvereinen, oder aber das Alleinsein zu Hause" (ebd. S. 47).

Die ganzen Reformvorschläge der aktuellen Diskussion kann man auf den Nenner bringen, Versuche zu sein, solcher Verinselung entgegenzuwirken. Dazu gehören z.B.: Einbeziehung der Eltern in das Leben der Einrichtungen, Mischung der Altersgruppen, Integrationsmöglichkeiten für behinderte Kinder, Einbeziehung der Kinder in die Planung der Angebote und beim Klären von Konflikten, Öffnung der Einrichtung zur örtlichen Nachbarschaft, z.B. durch Mitwirkung an Stadtteilfesten, Erkundung der örtlichen Umwelt mit den Kindern, Ermöglichung der Nutzung der Einrichtung als informeller Treffpunkt und vieles andere. Am wichtigsten sicher bei all dem: Die Kinder selbst und ihre Bedürfnisse, Einfälle und Aktivitäten zum Bezugspunkt der Alltagsgestaltung zu machen, statt sie nur als passive Objekte eines immer schon fertigen Programms zu behandeln.

Die Frage ist nun: Wie verhalten sich diese praktischen Reformansätze eines speziellen Jugendhilfebereichs zu den generelleren Programmatiken der "lernenden Organisation" sowie der "Lebensweltorientierung" und der "Dienstleistungsorientierung" von Jugendhilfe? Und was läßt sich von hier aus über das Verhältnis dieser rahmenden Programmatiken zu einander sagen?

Zunächst ist nicht schwer zu zeigen, daß die Voraussetzung für jene praktischen Programme der Kitareform - Öffnung, der Ent-Inselung und Vernetzung, Einbeziehung von Nachbarschaft und Eltern, Vermeidung von Ausgrenzungen, der Orientierung an Kinderaktivitäten etc. - eben die beschriebenen Fähigkeiten zur "lernenden Organisation" sind. Um nur die vier Grundfähigkeiten zu wiederholen (s.o. Abschnitt 1), die sich aus der Analogie ergeben, die Organisationen zur Struktur menschlicher Gehirne haben sollten: wer jene Öffnung will

Es bedarf sicher auch keiner besonderen Beweisführung, um zu erkennen, daß diese Reformpraxis sich dem Rahmenkonzept einer "lebensweltorientierten" Jugendhilfe bruchlos einfügt. Forderungen wie die, daß die Erfahrungs- und Erlebniswelt der Kinder den Inhalt dessen, was sie lernen, bestimmen solle, belegen dies ebenso, wie die ganzen genannten Vorschläge zur "Öffnung" der Einrichtungen hin zu ihrer Umwelt, zur Vernetzung der Lebenssphären gegen ausgrenzende Tendenzen, zur Stärkung der Subjektstellung und Partizipation von Eltern und Kindern etc.

Schließlich kann man ebenso leicht zeigen, daß sich diese Reformpraxis als Konkretisierung einer "dienstleistungsorientierten" Jugendhilfe lesen läßt. Sie lehnt es, insbesondere in ihrem Verhältnis zu den Eltern, ab, diese lediglich als "Zaungäste der Arbeit" (Thiel 1995, S. 48) zu behandeln, sondern fordert, sich an deren Bedürfnissen als Nutzer/innen von Räumen und von Unterstützungsleistungen zu orientieren (vgl. Thiel 1995, S. 49), ihren Bedarf nach Schließung von "Betreuungslücken" ebenso im Auge zu haben wie den Bedarf nach "Forum für Elternöffentlichkeit" und Chancen, "Anliegen in den kommunalpolitischen Raum einbringen (zu) können", sowie "Selbsthilfepotentiale zu entdecken" (Colberg-Schrader u.a., zit. bei Thiel ebd.). Auch andere Nutzerperspektiven sind bei diesem Ansatz im Blick, z.B. durch Einbindung der Kita in Seniorenveranstaltungen (ebd. S. 50) oder durch Einbindung der Kita als "Anlaufstelle und Ansprechpartnerin" in einem Dienstleistungsnetzwerk (Kinderärzte, Jugendamt, Beratungsstellen, Lebenshilfe, Kinderschutzbund) (vgl. ebd. S. 51). Vor allem aber ist die Betrachtungsweise, die eigentlichen Adressaten, die Kinder, unter der Perspektive der Weltaneignung zu sehen und von daher Kindereinrichtungen primär als Ressourcen für die Unterstützung von solchen Aneignungsprozessen zu sehen und zu bewerten, mit einem "Dienstleistungsansatz" zweifelsohne kompatibel.

Man könnte nun aus all dem die Konsequenz ziehen, die ganzen Reformansätzen meinten alle ungefähr dasselbe und es laufe im Grunde auf nichts Verschiedenes hinaus, ob man mit dem "Situationsansatz" "Orte für Kinder" oder mit dem 8. Jugendbericht "Lebensweltorientierung" einfordert, ob man mit Dienstleistungsbegriffen wie "soziale Infrastruktur", "Daseinsvorsorge", "soziales Netz" etc. operiert, oder mit Modellen des Sozialmanagement "outputorientierte Steuerung", "Qualitätsmanagement" und "lernende Organisation" vorantreiben will.. Das ist nicht ganz falsch, zumindest dann, wenn man die ganze Debatte nicht als Selbstzweck, sondern hinsichtlich ihrer praktisch orientierenden Funktion betrachtet.

Andererseits ist nicht zu übersehen, daß diese Reformprogramme, trotz ähnlicher Globalziele, jeweils sehr unterschiedliche Ebenen ansprechen und insofern auch zu sehr unterschiedlichen praktischen Konsequenzen führen können. Zweifellos macht es Unterschiede, ob Reformeifer und Ressourcen sich auf Stärkung lebensweltlicher Teilhabechancen oder auf kundenfreundlichere Verwaltung oder auf die Organisationsentwicklung sozialer Einrichtungen konzentrieren. Statt aber von diesen Unterschieden auf letztlich unvereinbare Ziele vorschnell zurückzuschließen, scheint es mir sinnvoller, anzunehmen, daß jene Reformprogramme zwar nicht inkompatibel sind, wohl aber wechselseitiger Ergänzungen und Korrekturen bedürfen und in die Irre führen, wenn sie je für sich verabsolutiert werden.

Ich muß hier darauf verzichten, diese Annahme für den Kitabereich hinsichtlich des Verhältnisses von "Lebensweltorientierung" und "Dienstleistungsorientierung" oder auch von beiden Konzepten zu den "Neuen Steuerungsmodellen" durchzudeklinieren. Ich verweise dafür auf andere meiner Beiträge (Müller 1996, 1997). Ich kann auch nicht weiter ausführen, wie sich die Hypothese von der wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit jener Reformprojekte konkretisieren läßt, wenn man danach auf der Ebene der "lernenden Organisation" fragt, also fragt, wie die Jugendhilfeorganisationen sich selbst ändern müßten, um den Anforderungen des jeweiligen Reformprogramms genüge zu tun.

Statt dessen beschränke ich mich darauf, eine besondere Stärke des Konzeptes der "lernenden Organisation" zu markieren, die mir bei den anderen Reformkonzepten unterbelichtet zu sein scheint: Nämlich zu erklären, wie es kommt, daß, bei der fast einstimmigen Zustimmung aller relevanten Ebenen zu einem Mehr an Bürgernähe, Kundenfreundlichkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Niedrigschwelligkeit, Vernetzung etc. etc., es gleichwohl so sehr mühselig ist, wirklich die Dinge in solche Richtungen in Bewegung bringen. Es müßte angesichts dieses breiten Konsenses eigentlich erstaunen, wie weit die Jugendhilfe immer noch und immer wieder von diesen, ja sogar gesetzlich vorgeschriebenen Zielen (z.B. in § 80 KJHG) entfernt ist. Auch hierzu beschränke ich mich zum Schluß auf einen einzelnen Gesichtspunkt.

5. Reform macht Arbeit

Vom Konzept der "lernenden Organisation" her denkend kann einem dazu Karl Valentin einfallen, der sagte: "Kunst ist was sehr schönes, macht aber viel Arbeit". Für die oben beschriebenen Wünsche nach Änderung und Öffnung von Kitas und Horten z.B. bedeutet dies: Die Herausforderung jener Reformkonzepte, unter dem Gesichtspunkt der "lernenden Organisation" betrachtet, besteht vermutlich weniger darin, die Mitarbeiter/innen davon zu überzeugen, daß solche Öffnung an sich eine gute Sache wäre. Viel schwieriger ist es, das Programm "Kitas als Orte für Kinder" von der Ebene der Sonntagsreden herunterzuholen und in die praktische Veränderung von Orten und Regeln der Zusammenarbeit zu verwandeln. Denn das setzt voraus, nicht nur daß die Mitarbeiter/innen überzeugt werden, es handle sich um eine pädagogisch notwendige Veränderung, sondern auch, daß sie überzeugt werden müssen, selbst etwas davon haben zu können. Diese Voraussetzung unterstellen andere Reformkonzepte allzu selbstverständlich. Wer aber nicht glauben kann, von Veränderungen zu profitieren, kann auch nichts lernen.

Man kann also bei praktischen Umsetzungsversuchen, z.B. in Kitas, statt nur zu fragen, wie es den Kindern geht beim Transportiertwerden von Insel zu Insel, und was daran nicht so gut für sie ist, die Frage umdrehen: Wie geht es dem Personal, das die räumlich und zeitlich abgeschlossene Welt Kita zu bedienen hat? Ist es eine angenehme Aufgabe, tagaus tagein Kinder von fremden Inseln in Empfang zu nehmen und sie wie Touristikanimateure zu betreuen, aber wenig darüber zu wissen, wie es diesen Kindern dort geht, wo sie herkommen, und was sie erleben, wenn sie hier anlanden? (Es ist ja nicht immer klar, ob die Schwierigkeiten, die viele Kinder heute in die Einrichtungen mitbringen, wirklich Schwierigkeiten sind, die von zuhause stammen, oder eher Schwierigkeiten sind, den Wechsel von einer "Inselkultur" zur anderen zu verkraften.) Wie ist es möglich, Kinder zu verstehen und befriedigend mit ihnen zu arbeiten, wenn man nur einen kleinen Ausschnitt ihres Lebens kennt? Oder wie steht es mit der Verinselung innerhalb der Einrichtung? Ist es befriedigend, die eigene homogene Gruppe zu betreuen und gegen die anderen abzugrenzen, oder gäbe es Dinge, die mehr Spaß machen? Kann man etwas tun, damit die Arbeit weniger langweilig wird?

Also: Eine Voraussetzung dafür, daß jene Konzepte der Öffnung in "lernende Organisation" umgesetzt werden können, ist ihre Orientierung an den Bedürfnissen der Mitarbeiter/innen. Für sie muß es Sinn machen. Wenn nur vom Wohl der Kinder die Rede ist, ist Mißtrauen angebracht, weil dann die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß sich andere verdeckte Bedürfnisse umso stärker hinterrücks durchsetzen. Andererseits ist zu hoffen: Personal, das sich erlaubt, vorgeschlagene Reformkonzepte zuerst einmal an den eigenen Bedürfnissen und Wünschen nach sinnvoller Arbeit zu messen, wird eher in der Lage sein, die Wünsche von Kindern und von Eltern auch dann noch wahr zu nehmen, wenn sie in andere Richtung gehen als die eigenen Wünsche, und dann auch in der Lage sein, faire Kompromisse zu suchen. In jedem Fall hilft auch das beste Reform-Konzept nicht darüber hinweg, daß es immer noch einmal neu erfunden werden muß, von den Beteiligten selbst, wenn es nicht papierene Wirklichkeit bleiben soll.

Allerdings, unterm Strich bleibt es vermutlich dabei: Öffnung der Einrichtungen macht Arbeit (wie jedes Reformkonzept) - und zwar mehr Arbeit als abgegrenzter "Inselbetrieb". Deshalb denke ich: Der Knackpunkt bei der Entwicklung von mehr Offenheit und mehr "lernender Organisation" ist, daß es sich für die Beteiligten um einen Zielkonflikt handelt: Den Zielkonflikt zwischen sinnvoller arbeiten wollen - und es bequemer haben wollen. Beides ist legitim, aber nicht immer auf einen Nenner zu bringen. Ich kann z.B. leider nicht gleichzeitig erreichen, daß die Kita zum offenen "Ort für Kinder" wird, so daß alle mehr Spaß an der Arbeit haben, und dabei sicherstellen, daß die Arbeitszeiten optimal arbeitnehmerfreundlich sind. Ebenso wenig kann ich gleichzeitig erreichen, daß alles, was ich tue, optimal abgesichert, vorhersehbar, kalkulierbar ist und gleichzeitig eine optimal lebendige und adressatengerechte Einrichtung bekommen.

Damit will ich nicht behaupten, es handle sich um ein Nullsummenspiel nach dem Motto: Je sinnvoller die Arbeit desto unbequemer, oder gar, je unbequemer, desto sinnvoller. Schon gar nicht will ich für die eine und gegen die andere Seite moralisieren. Ich halte es für vollkommen legitim, auch in der sozialen Arbeit, daß jedes Mitglied einer Organisation danach strebt, es sich bei seiner Arbeit so bequem wie möglich zu machen, und außerdem danach strebt, die Arbeit so sinnvoll wie möglich zu gestalten. Ich behaupte nur, daß es unmöglich ist, beides gleichzeitig optimal hinzukriegen. Das schaffen nicht mal Universitätsprofessoren.

Wäre das möglich, dann hätten wir das Paradies. Dort ist das Leben bekanntlich absolut easy going - aber keine Sekunde langweilig. Aber der Aufbau "lernender Organisationen" schafft nun mal keine Paradiese, in denen alles, je weiter man kommt, desto einfacher wird. Es bleibt ein mühseliger, ein kompromißhafter, immer nur Unvollkommenes schaffender Prozeß. Und das ist vielleicht ganz gut so. Sigmund Freud hat zuweilen den Spruch von Friedrich Rückert zitiert: "Was man nicht erfliegen kann, das muß man sich erhinken". Und er hat hinzugefügt: "Es ist keine Sünde, zu hinken". Recht hat er.

Endnoten

(1) Olk z.B. (1986, S. 218 ff.) hat zurecht darauf hingewiesen, daß der Versuch, Sozialarbeit im Sinne einer "alltagsweltlichen Handlungskompetenz" ihres Personals zu reformieren und eine entsprechende "Öffnung" von Dienstleistungskapazitäten zu erreichen, bestenfalls zur Hälfte gelingen kann, wenn diesem professionellen Steuerungstypus ein entsprechender administrativer Steuerungstypus zuwider läuft. Durch welche Lernprozesse aber sich ein "bürokratischer", jene Öffnung verhindernder Steuerungstypus einer Organisation in einen "situativen", die Öffnung begünstigenden Steuerungstypus verwandeln kann und welche fachlichen Herausforderungen darin impliziert sind, diese Fragen stellt auch Olk nicht mehr.

(2) Die Frage, inwiefern selbst Dressur mehr ist als ein mechanischer Steuerungsvorgang, klammere ich hier aus.

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Autor

Burkhard K. Müller, Dr. theol. habil., Professor für Sozialpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methodologie sozialpädagogischer Intervention, Jugendhilfe und Jugendhilfeplanung, Jugendarbeit, psychoanalytische Pädagogik.

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In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

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