Elisabeth Asam-van den Boogaart
Einleitung
Kollegiale Beratung, auch „kollegiale Fallberatung“ oder „Intervision“ genannt, ist ein lösungsorientiertes Fallbesprechungs- und Reflexionsinstrument, das bereits vorhandene Ressourcen an Fachwissen und Erfahrung von Kolleg*innen nutzt.
Die kollegiale Beratung ist eine Methode zur strukturierten, ggf. wechselseitigen Beratung von schwierigen Situationen, Fällen und offenen Fragen des Arbeitsalltags, in Gruppen von Praktiker*innen mit dem Ziel, durch gegenseitige Beratung Entlastung, neue Perspektiven und Handlungsweisen zu gewinnen.
Ablaufschema und Merkmale der kollegialen Fachberatung
Kollegiale Beratung erfolgt nach dem folgenden Ablaufschema:
- Der zu beratende Praxisfall und die Rollenverteilung in der Beratungssituation werden festgelegt.
- Der Fall wird detailliert geschildert.
- Die Gruppe bearbeitet den Fall.
- Die Beteiligten erhalten Anregungen zu neuen Sichtweisen und Handlungsperspektiven.
Charakteristische Merkmale sind:
- der Auftrag der ratsuchenden Person, die den aktuell zu besprechenden Fall in die Gruppe einbringt,
- eine feste Beratungsgruppe,
- gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung,
- die Vertraulichkeit der Gesprächsinhalte,
- die feste Ablaufstruktur anhand eines Gesprächsleitfadens und
- eine rotierende Aufgabenverteilung innerhalb des Beratungsprozesses.
Die Leitung der kollegialen Beratung kann entweder gruppenintern erfolgen, beispielsweise wenn unter den Teilnehmenden bereits genügend Beratungserfahrung vorhanden ist oder extern durch eine pädagogisch beratende Person, die sowohl über Expertise im Beratungssetting verfügt als auch idealerweise das Arbeitsfeld der Gruppenteilnehmer*innen sehr gut kennt.
Bei der angeleiteten Form einer professionellen pädagogischen Beratung, ist die Kommunikation asymmetrisch in dem Sinne, dass die pädagogisch beratende Person einen Wissensvorsprung hat und ihre Lernhilfe im Zeigen besteht (vgl. Prange 2005, Kraft 2009, Hechler 2010). Im Extremfall besteht diese pädagogische Zeigefunktion sogar in der Klärung des Lernbedarfs, beispielsweise in der Klärung der Lernmöglichkeiten und dem Aufzeigen von Handlungsoptionen (vgl. Hechler 2010).
In der angeleiteten kollegialen Beratung hat die Beratungsgruppe die Aufgabe, unter Anleitung des moderierenden pädagogischen Beraters, der falleinbringenden Person mögliche Handlungsoptionen zur Perspektiverweiterung und als Entscheidungshilfe anzubieten. In der kollegialen Beratung als Selbsthilfe, die dem Empowerment-Ansatz zugeordnet werden kann, sind Ratsuchende und Berater*innen austauschbar, denn es gibt keine prinzipielle Wissensdifferenz.
Die Kommunikation ist symmetrisch und der einzige Unterschied besteht in den aktuell ausgeübten Rollen im Beratungsprozess. Die festgelegte Struktur des Beratungsablaufs sowie eine leitende Fragestellung helfen, den Lernbedarf klären zu können und vor allem durch neu generierte Handlungsoptionen Lernmöglichkeiten zu eröffnen. Prinzipiell ist in der Methode der kollegialen Beratung die Möglichkeit angelegt, dass erfahrene Beratungsgruppen von der angeleiteten kollegialen Beratung in die selbst geleitete Form übergehen könnten (vgl. Fiege 1999, Schmidt 1999, Mutzeck 2005, Macha et al. 2010).
Verschiedene Zusammensetzungen kollegialer Beratungsgruppen sind denkbar: teamintern, kooperierende Teams, das Großteam einer kleinen Einrichtung oder aber eine über Einrichtungsgrenzen hinweg zusammengesetzte Gruppe aus verwandten Arbeitsfeldern (beispielsweise auf Trägerebene). Anzuraten ist eine Gruppengröße zwischen mindestens fünf und maximal zwölf Personen, denn die Größe der Gruppe muss einerseits ein Wir-Gefühl und eine gute Kommunikation innerhalb der Gruppe ermöglichen und andererseits unterschiedliche Blickwinkel der Beteiligten auf die besprochenen Fälle gewährleisten.
Warum ist die kollegiale Beratung sinnvoll für Teams von pädagogischen Praktiker*innen, insbesondere von Kindertagesstätten o. Ä.?
Gerade der Personalmangel und die zu knapp bemessene Verfügungszeit setzen Kita-Mitarbeiter*innen unter Druck (vgl. OECD 2018, OECD 2019). Neben einer, über die Jahre erfolgten, Ausweitung der Aufgaben kommen als belastende Faktoren insbesondere schwierige pädagogische „Fälle“ und teilweise auch schwierige Elterngespräche hinzu (vgl. Klein 2010). Seit längerer Zeit zeichnen Studien das Bild von sehr engagiertem Personal in Kindertagesstätten, das aber durch den Beruf stärker belastet ist als der Durchschnitt der Arbeitnehmer*innen (vgl. BGW-DAK Stress-Monitoring 2000, Rudow 2004, GEW 2007, Kunz 2007, GEW 2008, Klein 2010, Viernickel/Voss 2013, König et al. 2015, Schreyer et al. 2015, Staatsinstitut für Frühpädagogik 2015, Vincent-Höper et al. 2015, OECD 2018, OECD 2019, Bock-Famulla et al. 2020). Wenn sich dann auch noch die Teamarbeit schwierig gestaltet, besteht ein erhöhtes Burnout Risiko (vgl. Vincent-Höper et al. 2015). Eine unterstützende und wertschätzende Teamarbeit wurde in diesem Zusammenhang als Ressource und protektiver Faktor gegen übermäßige berufliche Belastungen und Burnout (vgl. Lazarus 1999) identifiziert (vgl. Rudow 2004, Klein 2010, Viernickel/Voss 2013, Kleiner-Wuttke 2017).
Ein gesundes Team lebt von Kommunikation, um sich gemeinsamer fachlicher Standards zu vergewissern, pädagogischen „Fällen“ gerecht zu werden und um den Arbeitsalltag zu organisieren. Nicht zuletzt ermöglichen Kommunikation und Reflexion, wie sie im Rahmen der kollegialen Beratung stattfinden, eine Einarbeitung und ein „Training on the Job“ für neue Mitarbeiter*innen. Dieser Aspekt ist immer wieder wichtig, angesichts des hohen Anteils von Praktikant*innen in den Teams. Obendrein handelt es sich bei den in Kitas ausgeübten Berufen um typische Frauenberufe, in denen eine hohe Fluktuation herrschen kann – nicht zuletzt wegen Elternzeiten etc.
Außerdem bleibt angesichts der knappen Verfügungszeiten des Personals für organisatorische Aufgaben, Vor- und Nachbereitung pädagogischer Angebote nur wenig Zeit für Besprechungen im kleinen und großen Team (Gruppenebene und Einrichtungsebene). Bei einem Mangel an Kommunikation unter Kolleg*innen können Missverständnisse entstehen, aus denen nicht nur Reibungsverluste in der pädagogischen und organisatorischen Arbeit, sondern auch individueller Frust und eine schlechte Stimmung im Team resultieren.
Gerade bei vielen neuen Mitarbeiter*innen in der Einrichtung ist es wichtig, miteinander zu sprechen und Fälle zu reflektieren – einerseits um eine gemeinsame pädagogische Strategie zu entwickeln und andererseits im Sinne des Informationsmanagements. Damit alle auf demselben Stand sind und die Arbeitsabläufe im Berufsalltag – und sei es die genaue Durchführung und das Zeitmanagement von anfallenden Aufgaben – funktionieren können. Die subjektiv drängenden Fragen stellen zu dürfen, ist einer der wesentlichen Vorteile der kollegialen Beratung.
Gelingende Kommunikation und Fallreflexion befördern nicht nur die pädagogische Qualität der geleisteten Arbeit eines Teams, sondern sie dienen auch dem Gesundheitsschutz der Mitarbeiter*innen. Ermutigung durch die Anteilnahme von Kolleg*innen und das (Wieder-)Herstellen von professioneller Distanz zu emotionalen Problemen des Berufs, um auch in Belastungssituationen handlungsfähig zu bleiben, sollen als Burnout-Prophylaxe wirken sowie Arbeits- und Lebenszufriedenheit befördern. Im Rahmen der kollegialen Beratung können Lösungsansätze auch für schwierige berufliche Situationen entstehen – durch neue Handlungsperspektiven, die die Kolleg*innen aufzeigen (vgl. Kleiner-Wuttke 2017).
Insofern ist die regelmäßige Nutzung von kollegialer Beratung vor allem eine Empfehlung für Teams in Einrichtungen, die nicht schon Supervision (wie meist in heilpädagogischen Kindertagesstätten) erhalten oder Fallreflexionen, beispielsweise im Rahmen einer Marte-Meo Fortbildung praktizieren. Für die erwünschten Effekte ist es essenziell, eine Routine zu schaffen und kollegiale Beratung nicht nur als Notfallmaßnahme zu praktizieren, da sonst die Konzentration auf der Einhaltung des Gesprächsleitfadens liegt und somit Energie verloren geht, die eigentlich in die Lösung des Praxisfalls investiert werden sollte. Eine regelmäßige kollegiale Beratung kann die Kommunikation und Zusammenarbeit im Team nachweislich verbessern und dient damit dem Gesundheitsschutz von pädagogischen Mitarbeiter*innen.
Lösungsorientiert miteinander zu reden und voneinander zu lernen hilft also gegen akute Belastungen im Beruf, senkt langfristig das Risiko eines Burnouts und kann positive Entwicklungen bei pädagogischen „Fällen“, wie auch bei der Teamentwicklung anstoßen. Interessierte Einrichtungen sollten abklärten, ob sie über die zeitlichen Ressourcen genügend Beratungserfahrung und die Wissensressourcen verfügen, um sich selbstständig in die Benutzung kollegialer Beratung einzuarbeiten, oder ob sie sich alternativ im Rahmen einer Fortbildung in die Methode einarbeiten lassen.
Zur Verstetigung kollegialer Beratung im Berufsalltag wäre eine mögliche Strategie, organisatorisches nicht zwingend im Plenum der Teamsitzung zu erarbeiten, sondern Arbeitsgruppen einzurichten, die die Ergebnisse ihrer Planungen (beispielsweise von Festlichkeiten oder Informationsmaterial für Eltern) im Großteam zeitsparend präsentieren.
Literaturverzeichnis
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Autorin
Elisabeth Asam-van den Boogaart ist Diplom-Sozialpädagogin (FH) und Diplom-Pädagogin (Univ.), hat viele Jahre Berufserfahrung in verschiedenen elementarpädagogischen Arbeitsfeldern und im Jahr 2021 mit dem hier vorgestellten Thema im Fach Pädagogik an der Universität Augsburg promoviert. Sie gibt als Referentin Fortbildungen zu kollegialer Beratung für pädagogisches Personal. Aktuell lehrt sie an einer Fachakademie für Sozialpädagogik.