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Zitiervorschlag

Frühzeitiges Auffangen von Entwicklungsproblemen in Kindergärten und Familienzentren: Vernetzung von KiTa und Erziehungsberatung

Martin Hillenbrand und Stephan Rietmann

 

Das Borkener Entwicklungsnetzwerk (BEN) ist ein Beispiel für den Aufbau eines Verbundsystems zur frühen Hilfe für Kinder im Kindergartenalter und ihre Familien. Mit Unterstützung des Stadtjugendamtes läuft das Projekt BEN im Stadtgebiet Borken seit 2004 als eine neue und intensivierte Form vernetzter Zusammenarbeit zur Begleitung und Beobachtung der Entwicklung bei 4- und 5-jährigen Kindern unter Beachtung ihres familiären Hintergrunds.

Die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Borken hat hierzu eine systematische Kooperation mit den Kindergärten im Stadtgebiet unter Einbezug weiterer entwicklungsrelevanter Fachstellen aufgebaut. Als Grundlage dient eine fachlich fundierte und praxisnah aufbereitete Zusammenstellung von Beobachtungsmaterial durch die Beratungsstelle.

Dass das BEN-Projekt bei den betreffenden Kindergärten gut ankommt, zeigt sich - neben positiven inhaltlichen Rückmeldungen - auch daran, dass 21 von 22 Kindergärten mit dabei sind.

1. Projektziele und Projekthintergrund

Projektziel ist die frühe Prävention schwieriger Entwicklungsverläufe: Entwicklungsrisiken sollen schon vor der Schule erkannt und spezifiziert werden, damit ihnen frühzeitig und gezielt entgegengewirkt werden kann. Damit rücken die Kindertagesstätten in den Blickpunkt, weil dies die Institutionen sind, in denen (nahezu) alle Kinder ihren ersten Abschnitt von Bildung und Erziehung in öffentlicher Verantwortung durchlaufen.

Hieraus entstand im Jahre 2003 die Idee, ein Netzwerk im Stadtgebiet Borken zur Entwicklungsthematik bei Kindergartenkindern aufzubauen: BEN = Borkener Entwicklungsnetzwerk. Hauptansprechpartner hierfür sollten die Borkener Kindergärten sein, aber auch spezifische Fachstellen, die mit der Entwicklungsthematik bei dieser Altersgruppe zu tun haben, wie Kinderärzte, Ergotherapeuten, Logopäden, Gesundheitsamt, Fachkräfte der Jugendhilfe und das Jugendamt.

Ermöglicht wurde das Projekt durch Förderung des Jugendamtes der Stadt Borken im Rahmen einer Präventionsinitiative, für die das Jugendamt besondere Sponsorengelder eingeworben hatte.

In der Analyse der Ausgangslage wurde deutlich, dass Kindergärten eine langandauernde Alltagserfahrung mit dem Kind und meist auch gute Kontakte mit der Familie haben (praktisches Längsschnittwissen). Auf der anderen Seite verfügen spezialisierte Fachstellen über ein hohes, spezifisches Fachwissen und/oder spezielle Therapieangebote zu Störungen im Entwicklungsverlauf (spezielles Querschnittwissen). Diese Fachstellen begegnen den Kindern nur in kurzen Zeitabschnitten, die für die Kinder in der Regel Sondersituationen darstellen.

Daraus ergaben sich als Erfordernisse für ein Entwicklungsnetzwerk:

  • Es soll auf dem in Kindergärten vorhandenem Kenntnisstand aufgebaut werden.
  • Zusätzliches Wissen soll praktisch und alltagsnah eingebracht werden, der Nutzeffekt muss leicht erkennbar sein.
  • Für die Kindergärten darf kein zu großer Zusatzaufwand entstehen, der als abschreckende Hürde wirken könnte.
  • Ein Informationstransfer zu speziellen Fachkräften soll ermöglicht bzw. erleichtert werden. Dabei ist der Einbezug der Eltern wichtig.

Für die Beratungsstelle wurde in der Analyse der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten deutlich, dass gerade sie in besonderer Weise in der Lage ist, die Entwicklung eines solchen fachlichen Netzwerkes voranzubringen:

  • In der EB besteht wissenschaftlich fundiertes Fachwissen, das laufend aktualisiert wird.
  • Die aktuelle gesellschaftliche Diskussion wird rezipiert und reflektiert.
  • Durch die Beratungsarbeit gibt es den praktischen Bezug zum Alltag von Familien und Institutionen vor Ort.
  • Die EB verfügt über Vernetzungserfahrung mit den unterschiedlichsten Akteuren im Sozialraum (und darüber hinaus), verbunden mit Informationen zu deren verschiedenen Systembedingungen.
  • Die EB kann Seminare und andere Veranstaltungen organisieren, moderieren und auch inhaltlich gestalten.

Die Beratungsstelle kann in einem solchen Präventionsprojekt ihr fachliches Wissen und ihre Erfahrung aus der Einzelfallarbeit für das praktische Alltagshandeln anderer Fachkräfte nutzbar machen.

2. Das BEN-Beobachtungsmaterial

Das BEN-Material kann helfen, genauere Beobachtungsdaten zu gewinnen, die zunächst den fachlichen Blick im Kindergarten schärfen (was kann in der Einrichtung zur Förderung getan werden?). Darüberhinaus sind diese für das Gespräch mit den Eltern und eventuell mit speziellen Fachkräften hilfreich. Dabei konzentriert sich das Beobachtungsmaterial auf die 4- und 5-jährigen Kindergartenkinder, um einerseits rechtzeitig vor der Einschulung wirksam zu werden und andererseits die Eingewöhnungszeit bei jüngeren Kindern außen vor zu lassen.

Die Entwicklungsthematik wird in sechs Bereiche mit mehreren Unterkategorien eingeteilt, angelehnt an gängige Entwicklungssystematiken. Die körperliche Entwicklung wird ausgeklammert, weil wesentliche Beobachtungen hierzu bereits vor dem Kindergartenalter anliegen und erfolgen sollten.

Wichtig ist ein ganzheitliches Entwicklungsverständnis: Einzelheiten sind in den Blick zu nehmen bei gleichzeitiger Beachtung des Gesamtbildes aller internen und externen Faktoren. Bewusst wird eine Beschränkung auf funktional-kognive Bereiche (I-IV) vermieden. Soziale und emotionale Aspekte (V, VI) sind oft schwerer zu fassen, dennoch sehr bedeutsam, manchmal auch als gute Gesamtindikatoren für die Lage eines Kindes.

2.1. Entwicklungsbereiche und Kategorien

I. Motorische Entwicklung

  1. Grobmotorik
  2. Feinmotorik
  3. Muskeltonus

II. Wahrnehmung

  1. Optische Wahrnehmung
  2. Akustische Wahrnehmung
  3. Taktile Wahrnehmung
  4. Gleichgewichtssinn

III. Sprachliche Entwicklung

  1. Sprachverständnis
  2. Sprachausdruck

IV. Kognitive Entwicklung

  1. Akustisches Gedächtnis
  2. Visuelles Gedächtnis
  3. Kategorienbildung
  4. Logisches Handeln
  5. Aufmerksamkeit
  6. Körperbewusstsein

V. Emotionale Entwicklung

  1. Unabhängigkeit
  2. Nähe - Distanz
  3. Selbstbehauptung

VI. Soziale Entwicklung

  1. Kontakt zu Erwachsenen
  2. Kontakt zu Gleichaltrigen
  3. Gruppenverhalten

2.2 Die Arbeit mit dem Beobachtungsmaterial

Entsprechend der Zielsetzung guter praktischer Handhabbarkeit wurde ein Vorgehensmodell gewählt, das einerseits den Zusatzaufwand für die Fachkräfte im Kindergarten gering hält, andererseits aber die Gefahr, dass Wichtiges übersehen wird, minimiert.

Dazu gibt es drei Stufen:

1. Stufe: Grobeinschätzung aller Kinder einer Kindergartengruppe, um auch "unauffällige" Problematiken nicht zu übersehen (Vorschlag: vierteljährlich).

2. Stufe: Vertiefte Beobachtung bei Bedarf, der sich aus der Grobeinschätzung oder auch aus davon unabhängigen Hinweisen ergeben kann. Hiervon sind nur noch einige Kinder pro Gruppe betroffen. Zwei Beobachtungsinstrumente können - einander ergänzend - auf dieser Stufe eingesetzt werden.

  • Der Beobachtungsbogen dient einer differenzierten Gesamteinschätzung zum einzelnen Kind.
  • Der Entwicklungsbaukasten bietet einfache Handlungsproben (1), bei denen zu einem Einzelausschnitt einer Entwicklungskategorie in der Regel ein kritischer Wert angegeben ist: Wenn ein Kind den für seine Altersgruppe angegebenen Mindestwert nicht erfüllt, liegt eine Auffälligkeit vor, die zumindest weiter beobachtet werden sollte (2).

3. Stufe: Diagnostik durch spezielle Fachleute, wenn die Fördermöglichkeiten des Kindergartens und des Elternhauses nicht ausreichen.

Bei der Informationsweitergabe durch den Kindergarten ist die gesetzliche Schweigepflicht zu beachten. Diese dritte Stufe wird nur für einen Teil der Kinder aus der zweiten Stufe zum Zuge kommen.

Der gesamte Beobachtungsprozess sollte im Kindergartenteam laufend reflektiert und je nach Bedarf mit den Eltern besprochen werden.

Zur Anwendung dieser Beobachtungsmaterialien ist für die Kindergärten eine Schulung und Begleitung durch eine Fachstelle wichtig, die eine Qualifikation in Entwicklungsfragen und in der Testtheorie und Testdurchführung aufweist. Beim BEN-Projekt in Borken wurde dies durch einen Diplom-Psychologen der Beratungsstelle geleistet.

Um den Transfer in den Kindergartenalltag zu gewährleisten, bietet der Projektleiter darüber hinaus Entwicklungsfachgespräche mit dem Kindergartenteam oder einzelnen Fachkräften an, fachwissenschaftliche Erkenntnisse zur integrativen Entwicklungsberatung werden dabei einbezogen. Ziel dieser anonymisierten Fallbesprechungen ist, die Kindergärten in ihrer Kompetenz zu stärken, Entwicklungsrisiken beim einzelnen Kind zu erkennen, angemessen einzuschätzen und den richtigen Umgang damit zu finden - sowohl einrichtungsintern als auch in Zusammenarbeit mit den Eltern und gegebenenfalls mit anderen Fachkräften außerhalb des Kindergartens. Dabei geht es in jedem Fall um die Integration von relevanten entwicklungspsychologischen Einzelaspekten und einer systemorientierten Gesamtbetrachtung des Kindes und seines persönlichen Umfeldes. Die fachliche Begleitung durch eine einrichtungsexterne Person ermöglicht es zugleich, bei diesen Gesprächen Beziehungsaspekte zu thematisieren und für diesbezügliche Konflikte Lösungsansätze zu entwickeln.

3. Praxis und Ablauf des BEN-Projekts in Borken

Im Jahre 2003 wurden Vorgespräche mit verschiedenen relevanten Fachstellen geführt (Jugendamt, Gesundheitsamt, Kindergarten-Fachreferentin und exemplarisch mit einem Kinderarzt, einer Ergotherapeutin, einem Grundschulleiter u.a.), um die Einfügung des geplanten Projekts in die bestehende fachliche und institutionelle Landschaft zu sondieren. Anfang 2004 erfolgte die Erarbeitung des BEN-Beobachtungsmaterials. Im Januar 2004 wurde das Projekt Vertretern der Borkener Kindergärten (unter Einbezug von Trägervertretern) vorgestellt.

Im Frühjahr 2004 fanden Einführungsseminare zu den BEN-Materialien ("Arbeitskreis Entwicklungsbeobachtung") für jeweils 2-3 Fachkräfte je Kindergarten statt.

Im Juli 2004 ging es in einer zweiten Seminarrunde um die Vorstellung einer Netzwerkkarte zur entwicklungsbezogenen Hilfelandschaft im Sozialraum Borken. Ziel war, die Systembedingungen anderer Institutionen möglichst gut zu verstehen, damit die Kooperation mit ihnen besser gelingen kann.

In den Knotenpunkten dieser Hilfelandschaft finden sich die Institutionen, die für die Kinder und ihre Eltern, aber auch für die Kindergärten die wichtigsten Erstansprechpartner mit direkter Zugangsmöglichkeit (d.h. ohne Überweisung durch Dritte) darstellen. Oft haben diese Stellen Bündelungsfunktion für weitere Hilfemaßnahmen. Als solche Knotenpunkte wurden identifiziert: der Zugang ins Gesundheitswesen (Arztpraxen und Gesundheitsamt) und der Zugang in die Jugendhilfe (Jugendamt und Beratungsstelle). Fachleute aus diesen Knotenpunkten haben auf zwei Veranstaltungen im November ihre Arbeit dargestellt.

Am Ende des Jahres 2004 zeigte die Bilanz, dass 21 von 22 Borkener Kindergärten oder 1.430 der 1.500 Kindergartenplätze bei dem Projekt dabei waren, was eine Teilnahmequote von 95% bedeutet.

2005 boten Fachkräfte der Beratungsstelle den Erzieherinnen Schulungen zur Führung von Elterngesprächen an, an denen 75 Fachkräfte aus 21 Kindergärten teilnahmen. Ziele waren die Verbesserung der entwicklungsbezogenen Zusammenarbeit zwischen den Eltern und Erzieherinnen sowie der Aufbau von Motivation, Hilfen im Bedarfsfall zu nutzen.

In den Jahren 2005 und 2006 konnte jedes Kindergartenteam die oben beschriebenen Entwicklungsfachgepräche für anonyme Fallbesprechungen mit dem BEN-Projektleiter nutzen. Es nahmen insgesamt mehr als 160 verschiedene Fachkräfte aus 21 Kindergärten teil. In 66 Gesprächen wurden 101 Kinder besprochen. Die Fortsetzung dieser Gespräche in 2007 ist mit dem städtischen Jugendamt bereits fest vereinbart.

4. Nutzen und Bedeutung des Projekts

Das BEN-Beobachtungsmaterial hat sich in den Kindergärten als praxistauglich und gut einsetzbar erwiesen. Es lässt sich in die Entwicklungsbeobachtung, wie sie in Kindergärten üblich ist, nahtlos und arbeitsökonomisch einfügen. Das Beobachtungsrepertoire wird ohne allzu großen Mehraufwand sinnvoll erweitert.

Neben der individuellen Prävention für das einzelne Kind durch die Einführung spezieller Beobachtungsinstrumente und die verbesserte Zusammenarbeit der mit dem Kind befassten Fachkräfte innerhalb des Sozialraums ergeben sich weitere Nutzeffekte für die Jugendhilfelandschaft insgesamt:

  • Fallbezogene Stärkung der Kompetenz in Kindertagesstätten, mit Entwicklungsrisiken umzugehen. Das Projekt ist damit auch ein Beitrag zur beruflichen Fortbildung von Erziehungsfachkräften.
  • Verbesserung des Informationsstandes zu fallbezogenen und fallübergreifenden Kooperationsmöglichkeiten bei Themen, die über Entwicklungsfragen hinausgehen.
  • Der bewusste Ansatz bei den Fachkräften im Kindergarten sorgt dafür, dass es zuvörderst nicht um das "Herausziehen von Fällen" aus dem Handlungsfeld Kindergarten geht, sondern vorrangig um verbesserte Handlungsmöglichkeiten in diesem vertrauten Alltagsraum der Kinder und ihrer Familien (Fachkraftansatz im Handlungsfeld). So werden sinnvolle Synergieeffekte sowohl in den Fällen erzielt, die keine spezielle Fachbehandlung erfordern, als auch in der Begleitung von notwendigen Zusatzbehandlungen: Kind und Familie bekommen nicht zu jeder Fragestellung mit neuen Bezugspersonen zu tun, sondern können auf dem bestehenden Vertrauensverhältnis aufbauen, bei gleichzeitiger fachlicher Unterstützung "im Hintergrund" für diese vertrauten fachlichen Bezugspersonen.
  • Das BEN-Projekt weist die Qualität eines sozialen Frühwarnsystems auf: Es gibt verbindliche Absprachen der Zusammenarbeit, Früherkennung wird gefördert und der Zugang zu frühen Hilfen verbessert.

Gerade im Hinblick auf die in Nordrhein-Westfalen begonnene Entwicklung von Kindertagesstätten zu Familienzentren lässt sich feststellen, dass fachliche Netzwerke wie das hier beschriebene BEN-Projekt Bedeutung erlangen als inhaltlich passender Baustein zur Erreichung der angestrebten Ziele.

Endnoten

1.) Diese Einzelproben wurden aus verschiedenen standardisierten Testverfahren abgeleitet (soweit ein kritischer Wert angegeben ist). Modifikationen wurden so gestaltet, dass der Charakter der Aufgabe sich im Kern nicht verändert hat.

2.) Der Mindestwert ist so gewählt, dass das Kind darüber noch im breiten Durchschnitt liegt, darunter liegen 16% der Altersgruppe. Bei Verfehlung dieses Mindestwertes wird bewusst nicht mehr unterschieden zwischen sehr schwachen Ergebnissen und solchen, die nahe der kritischen Grenze liegen, weil es hier ja nicht um eine genaue Diagnostik geht, sondern lediglich um die Identifizierung von Auffälligkeiten.

Anmerkung

Weitergehende Einzelinformationen und Literaturhinweise sind bei den Autoren erhältlich.

Kontakt

Diplom-Psychologen Martin Hillenbrand und Dr. Stephan Rietmann
Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Caritasverbandes Borken
Turmstr. 14
46325 Borken
Tel.: 02861/945-750
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